„Das ist kein Einzelfall“ – Reaktionen auf die Misshandlungen in einer Berliner Kita

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Ihr Lieben, gestern haben wir hier den Brief einer Mutter an eine Erzieherin veröffentlicht. Die Erzieherin soll die Kinder der Kita-Gruppe misshandelt haben. Viele von Euch waren emotional sehr aufgewühlt, wir haben etliche Leserbriefe bekommen. Darunter auch den von Jutta, sie ist Erzieherin, Elternbegleiterin und Facherzieherin für Integration. Sie sagt: Der Fall in Berlin ist kein Einzelfall, sie habe auch schon Misshandlungen beobachtet. Wir haben mit ihr und mit einer weiteren Mutter, die in besagter Kita ungute Sachen gesehen hat, darüber gesprochen: 
 
Jutta, Du arbeitest selbst seit über 20 Jahren als Erzieherin. Und Du sagst, Du hast selbst schon in zwei Kitas erlebt, dass Kinder schlecht behandelt wurden. Wie genau sahen die Misshandlungen aus?
 
Wenn ein Kind nicht sofort gehört hat, wurde es grob am Arm gepackt und angeschrien. Am nächsten Tag fragte die Mutter, warum ihr Kind blaue Flecken am Arm hat und die Erzieherin erzählte, dass es beim Klettern passiert sei. In einem anderen Fall wurden die ganz Kleinen  (unter 3 Jahre alt) beim Mittagsschlaf ganz fest in die Decke eingewickelt und dann legte die Erzieherin ihr Bein über das Kind, so dass es keinerlei Bewegungsmöglichkeiten mehr hatte. Die Kollegin wog 110 Kilo. Und das nur, damit das Kind schläft. Beim Mittagessen durften die Kinder nichts übrig lassen und wurden gezwungen aufzuessen. In einem anderen Fall durfte ein Kind beim Mittagsschlaf nicht auf die Toilette gehen – mit dem "Erfolg", dass es sich einpullerte. Dafür wurde es dann angeschrien und musste mit der nassen Hose liegenbleiben.
 
Du hast Deine Kolleginnen nicht gedeckt, sondern hast die Vorgesetzen informiert. Wie waren die Reaktionen der betroffenen Kolleginnen und der Leitung?
 
Die betroffenen Kolleginnen suchten nach Ausflüchten und erklärten ihr Verhalten mit pädagogischen Notwendigkeiten. Es hatten sich in diesem Fall aber auch Eltern beschwert, die Kitaleitung musste also reagieren. Eine eine Erzieherin war noch in der Probezeit, das machte das Kündigen leichter. Auch die andere Kollegin musste gehen, obwohl sie schon lange da war. Dafür haben die Eltern auf eine Anzeige verzichtet. 
 
Gab es weitere Vorfälle, in denen Du Rückrat gezeigt hast?
 
Als ich mal mit 30 Kindern alleine im Garten war, bin ich zur Leitung und sagte, dass ich nicht die Verantwortung für 30 Kinder übernehme. Diese reagierte mit den Worten: Dann musst du ab morgen nicht mehr wiederkommen. Ich sagte daraufhin, dass ich dieses dem Träger mitteilen werde, da wurde sie ganz leise und blieb mit mir im Garten. Andere Kolleginnen fanden mich dafür sehr mutig. 
 
Was glaubst Du, warum so viele Kolleginnen lieber weggucken?
 
Ich glaube, dass viele Kolleginnen Angst vor negativen Konsequenzen haben. Da ist die Angst vor dem Ärger mit den Kollegen, aber auch die Angst vor Mobbing von der Kita-Leitung. Ich habe zwei Kita-Leitungen erlebt, die ein Klima der Angst in der Kita verbreitet haben. Sie hatten ihre Lieblinge und die, die sie nicht mochten –  und haben das auch deutlich gezeigt.
 
Was sind Deiner Meinung nach die Gründe dafür, dass eine Erzieherin übergriffig wird?
 
Meiner Meinung nach werden die Erzieherinnen übergriffig, die keinen Respekt vor Kinder haben und die schnell mit bestimmten Kindern überfordert sind. Wenn Anschreien nicht mehr hilft, dann ist die Gefahr groß, sich andere Methoden auszudenken und sie auch durchzuführen.
 
Wie haben sich die Arbeitsumstände in den letzten zwanzig Jahren verändert?
 
Die Anforderungen sind enorm gewachsen. In Berlin wird mit dem Sprachlerntagebuch gearbeitet, das enorm viel Arbeit macht. Nicht alle Kitas oder Kinderläden haben dafür eine rausgerechnete Zeit, auch MPA (Mittelbare Pädagogische Arbeit) genannt. Viele Kollegen arbeiten also in ihrer Freizeit daran, ohne irgendeinen Ausgleich dafür zu erhalten – das schafft Frust…. 
Aber auch die Kinder und ihre Eltern haben sich verändert. Mein Eindruck ist, dass viele Eltern verunsichert sind. Sie wissen nicht,  wie und was es heißt Grenzen zu setzen. Kinder brauchen ganz viel Liebe und Geborgenheit und ein Gerüst, das ihnen Sicherheit bietet.
Was sich noch verändert hat ist, dass es aufgrund des Personalmangels sehr viel mehr Quereinsteiger*innen in den Kitas gibt. Diese Menschen haben meist keine Erfahrung im Kitabereich und brauchen viel Einarbeitung. Doch dafür gibt es keine zusätzlichen Zeiten und so ist die Gefahr groß, dass das auf der Strecke bleibt.
 
Was müsste sich dringend verbessern?
 
Der Personalschlüssel ist in Berlin einer der schlechtesten im ganzen Bundesland. Das Ansehen von Erzieher*innen müsste sich auch in der Bezahlung widerspiegeln. In Brandenburg verdienen Erzieher*innen bis zu 400 Euro mehr. Mehr Geld bedeutet aber natürlich nicht automatisch, eine gute Erzieher*in zu sein.
 
Wie kann ich als Eltern die Anzeichen erkennen, dass etwas in der Betreuung falsch läuft?
 
Eltern kann ich nur raten genau auf ihr Kind zu schauen. Wenn das Kind morgens nicht in die Kita will, sollten man das der Erzieher*in sagen. Eine gute pädagogische Fachkraft sucht gemeinsam mit den Eltern nach möglichen Gründen dafür. Vorsicht ist geboten, wenn eine Erzieher*in immer das Gleiche beim Abholen sagt: "Es war alles gut, es hat gegessen und geschlafen." Wichtiger wäre mehr zu erfahren: Was hat mein Kind sonst so gemacht? Selbst in kurzen Tür- und Angelgesprächen ist es möglich, auch das zu erfahren. Wichtig auch: Wie wird mein Kind begrüßt und verabschiedet und wie wird mit dem Kind gesprochen? Liebevoll und zugewandt oder in kurzen Sätzen und rauem Ton?
 
Auf was sollten Eltern bei der Kita-Wahl achten?
 
Eltern sollten sich viel Zeit nehmen zu hospitieren. Eine gute und transparente Kita erkennt man daran, dass Eltern mit in die Arbeit einbezogen werden. Eine Einladung zum Morgenkreis oder auch die Teilnahme an Ausflügen sollte selbstverständlich sein. Eine gute Kita ist den Eltern zugewandt und vermittelt nicht das Gefüh, ein Störenfried zu sein.
 
Was möchtest Du Eltern sagen, deren Kinder von solchen Misshandlungen betroffen waren? 
 
Eltern, die so traumatische Erfahrungen mit Misshandlungen ihres Kindes erfahren kann ich nur raten sich therapeutisch begleiten zu lassen. Wenn so ein dramatischer Vertrauensbruch stattgefunden hat, braucht es sicherlich viel Zeit, es mit seinem Kind zu verarbeiten. Auf jeden Fall sollte der Kitaplatz gekündigt werden, auch wenn der Träger und auch die Leitung beteuern, dass es nicht wieder vorkommen wird. Wenn es über längere Zeit Stillschweigen über Misshandlungen in einer Kita gibt, dann stimmt für mich dort etwas ganz und gar nicht. Wichtig ist es auch die Kitaaufsicht einzuschalten und Anzeige bei der Polizei zu erstatten. 
 
 
Liebe Hanna, Du hast Dich gemeldet, weil Dein Kind in besagter Kita ebenfalls schlechte Erfahrungen gemacht hat. Was ist passiert?
 
Unsere Tochter ist Ende Dezember 2010 geboren, knapp ein Jahr später, haben wir mit der Eingewöhnung in dieser Kita begonnen. Ich möchte nicht mutmaßen, was alles dort passiert ist und ich weiß auch nicht, ob meine Tochter betroffen war. 
Also sage ich nur, was ich mit eigenen Augen gesehen habe. Ich habe nicht gesehen, wie Kinder auf Matratzen festgebunden wurden,  aber ich habe gesehen, dass Kinderköpfe runter gedrückt wurden, wenn ein Kind während der Mittagsruhe nicht liegen bleiben wollte und nach Mama weinte. 
Es gab auch Vorfälle beim Mittagessen. Einjährige, die am Tisch saßen und mit Essen gespielt haben, wie Kinder das eben so machen, wurden mit einem Schlag aufs Händchen bestraft. Das waren Kinder, die sich über die tolle Form von Spiralnudeln gefreut haben, die eben ihre Umwelt erkunden wollten. Das haben wir dreimal gesehen, an zwei Tagen. Danach war für uns Schluss. Zudem war auch der Ton mit den Kindern nicht besonders schön. 
 
Wie hast Du auf die Zustände reagiert?

Wir haben uns zunächst beratschlagt. Ich habe dabei viel geweint, ich fühlte mich hilflos und wütend. "Haben wir das wirklich gesehen?", fragte ich meinen Mann immer wieder – so unwirklich kam mir das vor. Mein Mann und ich haben die ganze Nacht geredet und überlegt, was das Beste für unsere Tochter ist. 

 
Wen hast Du dann informiert und wie wurde damit umgegangen?

Wir haben uns entschlossen, zur Kita-Leitung zu gehen. Es ging dabei nicht nur um unser Kind, sondern auch um die, die schon in der Einrichtung sind und um alle, die noch hingehen. Und wir waren nicht die einzigen Eltern. Zeitgleich wurden vier weitere Kinder eingewöhnt, deren Eltern ebenfalls nicht den Mund halten wollten und konnten.  Es kam zu einem großen Treffen zwischen uns Eltern, der Kitaleitung und dem Träger. Wir haben alles erzählt und die Erzieherin wurde auf unbestimmte Zeit suspendiert. Uns wurde angeboten, in eine andere Gruppe zu wechseln. Aber das kam für uns nicht in Frage – dieses Vertrauen in die Fremdbetreuung war zerstört und erst recht in dieses Haus. Ob die Erzieherin irgendwann ihren Dienst wieder aufnehmen durfte, wissen wir nicht. 

 
Wie ging es für Deine Tochter weiter?
 
Mit 18 Monaten haben wir einen neuen Versuch gestartet. Die neue Betreeung war sehr liebevoll und es gab ein herzlich aufgebautes Verhältnis. Wir haben bereits beim Kennlerngespräch auf unsere Erlebnisse hingewiesen. 
 
Wie ging es Dir mit der ganzen Sache? 
 
Die Ungewissheit, ob unsere Tochter auch was abbekommen hat, ob sie Schaden genommen hat, sei es körperlich oder seelisch, – das ist ein schrecklich lähmendes Gefühl. 

Wir als Eltern waren aber froh, auf unser Bauchgefühl gehört zu haben, dass die Methoden der Erzieherin absolut nicht normal sind. Natürlich und gerade jetzt nach den Schlagzeilen in der Presse und Eurem Artikel ist alles nochmal aufgekommen und wühlt mich sehr auf. Ich frage mich: "Hätten wir mehr machen müssen?"

Was möchtest Du allen Erziehern einmal sagen?

Wir hatten das Glück anschließend eine tolle herzliche Tagesmutter und später auch eine tolle Kita gefunden zu haben. Und ja, natürlich ist nicht immer alles perfekt – wo ist es das schon? Aber Frustrationen gepaart mit Aggressionen haben gerade in diesem Berufszweig nichts zu suchen. Dass ein Erzieher auch ein Mensch ist und nicht 365 Tage im Jahr Friede-Freude-Eierkuchen versprüht, verlangt glaube ich keiner. Aber ein Erzieher sollte in der Lage sein, seine Probleme nicht an den Kleinsten auszulassen und durch Gespräche im Team oder privat im Anschluss zu verarbeiten

Ich/wir danken jeder Erzieherin, jedem Erzieher, welche/r mit Hingabe seine Berufung gefunden hat. Ihr macht das grandios, aber bitte schaut nicht weg, wenn ihr ein schwarzes Schaf im Kollegium habt! 
 

 

 

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1 comment

  1. Endlich scheint das Thema
    Endlich scheint das Thema „Gewalt im Alltag von Kitas “ wirklich ernst genommen zu werden! Ich lebe seit 2 Jahren in MV. Niemals hätte ich für möglich gehalten, wie Alltag z.T. hier in Kitas noch aussieht. „Ortsüblich, gewachsene Strukturen, muss man sich als Erzieherin aber auch Mal anpassen – Nein – ich will mich nicht anpassen, wenn das bedeutet Kinder anzuschreien, zum Schlafen, basteln oder sonst was zu zwingen. Ja ich habe geredet mit Kollegen, Leitung, Trägern und Jugendamt. Ich bin krank, seit Monaten, Ärzte erzählen ich sei kein Einzelfall. Ich sehe Erzieher die als Tagesmutter hervorragende Arbeit leisten, zu Konditionen die noch viel schlechter sind als die von Erziehern in Kitas. Warum – weil sie den Umgang in den Kitas nicht mittragen wollen. Aber was wenn die Kinder älter als 3 sind und dann in ebenjene Kitas gehen müssen? Ich bin selbst Mutter von 5 Kindern, Erzieherin und Elternbegleiterin und momentan völlig ohne berufliche Perspektive- denn ich kann und will diesen Umgang nicht mittragen. Ich freue mich wenn Eltern darauf aufmerksam werden, wenn Erzieher eine Haltung entwickeln und vertreten, die diese „kleinen“ alltäglichen Grenzverletzungen unmöglich machen. Unter #kitahelden gibt es Berichte über den alltäglichen Wahnsinn in Kitas, Ursachen und erste Schritte auf dem Weg zur Besserung 😉