Gastbeitrag: Mein Sohn ist Autist

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Als Katharina mich fragte, ob ich einen Beitrag über unseren Alltag schreiben könnte, darüber welche Höhen und Tiefen er mit sich bringt und wie er zu bewältigen ist, freute ich mich sehr. Dann überlegte ich, wo ich am besten anfange, denn bisher schrieb ich vor allem für Portale, auf denen sich Menschen tummeln, die mit dem Thema Autismus vertraut sind oder in meinem eigenen Blog, der vor allem von denjenigen gelesen wird, die ein autistisches Kind haben oder selbst Autisten sind.

Damit habe ich schon die Besonderheit in unserer Familie (wir sind: ich, 45 Jahre jung, mein Mann ,47,  Niklas Schwester, 19, und Niklas) angedeutet: ich habe einen Sohn mit Autismus. Er ist 15 Jahre alt, er versteht alles, spricht aber nicht und er braucht Hilfe bei allen alltäglichen Dingen wie Essen, Trinken, An-und Ausziehen, bei den Toilettengängen, beim Einschätzen von Gefahren und vor allem auch bei der Bewältigung und beim Schutz vor den Sinneseindrücken, die oft wie ein undurchdringliches Getöse auf ihn einwirken. Das Autismus-Spektrum ist groß und jeder Autist ist anders. Es gibt verschiedene Formen, die auch nicht strikt voneinander abzugrenzen sind. So haben Menschen mit Autismus mit sehr unterschiedlichen Herausforderungen in ihrem Leben zu tun. Allen gemeinsam ist aber eine andere Wahrnehmung als die, die wir als sog. normale (Autisten sagen: neurotypische) Menschen kennen. Am Anschaulichsten wird das sicherlich, wenn ich ein wenig aus unserem Alltag erzähle.

Im Frühling sind bei uns immer alle Fenster und Türen geschlossen, wenn Niklas zuhause ist. Für ihn ist das Vogelgezwitscher unerträglich. Es schmerzt in seinen Ohren und wenn es manchmal doch noch zu laut durch die geschlossenen Fenster dringt, zieht er sich eine Decke über den Kopf, um den Schall abzudämpfen. Genauso ist es, wenn die Kirchenglocken läuten – das ist ein entsetzliches Geräusch für ihn und meist verkriecht er sich in die hinterste Ecke. Wenn dann das Wetter besser wird und sich alle freuen, dass man wieder draußen spielen kann, sind wir sehr oft im Haus, weil es Niklas zu grell ist. Die hellen Sonnenstrahlen, die an weißen Wänden reflektieren, schmerzen in seinen Augen. So haben wir schon manche Sommertage im Keller verbracht. Ich kann mich an den Juli und August 2012 sehr gut erinnern – in diesem Jahr war Niklas so geräusch- und lichtempfindlich, dass wir fast die ganzen Sommerferien im Haus oder bei Autofahrten verbrachten. Autofahrten beruhigen ihn. Das immer gleich bleibende Brummen und das aus sicherer Distanz Hinausschauen können, geben ihm Sicherheit. Allerdings muss ich dabei immer eine Kapuze tragen, weil der Reiz, den Haare auf ihn ausüben, so groß ist, dass er ständig daran zieht.
Es läge natürlich nahe, sich gegen Geräusche und grelles Licht zum Beispiel mit Ohrenstöpseln zu helfen oder eine Sonnenbrille aufzusetzen. Bei Niklas und vielen seiner autistischen Freunde funktioniert das allerdings nicht, weil er diese Fremdkörper an sich nicht toleriert. Er trägt im Winter auch keine Mütze, keinen Schal und keine Handschuhe – all diese Dinge beengen ihn und verursachen ein  unangenehmes Gefühl bis hin zu Schmerzen. Unsere Ausflüge nach draußen sind dementsprechend kurz – Schlittenfahren, ein Waldspaziergang im Schnee oder Eislaufen sind nicht möglich, da es schnell viel zu kalt wird. Und im Sommer fallen Ausflüge ins Freibad oder Freizeitparks aus, weil dort zu viele Menschen herumwuseln und zu viele verschiedene Geräusche gleichzeitig auf Niklas einwirken, die er nicht filtern kann. Man kann sich das wie auf einer Party vorstellen, bei der alle Geräusche gleich laut sind: die Musik, das Füße scharren, die Kau- und Trinkgeräusche, die Stimmen. Wir können uns trotzdem auf ein Gespräch konzentrieren und die anderen Geräusche ausfiltern, ein Autist kann das oft nicht. Und so kommt es dann zu einer Reizüberflutung, einem sogenannten Overload.

Vielleicht habt ihr das schon einmal miterlebt, wenn ein autistisches Kind plötzlich um sich schlägt, schreit, tritt oder wegläuft. Meistens liegt das in der Wahrnehmung begründet, in einem Geräusch, einem Geruch oder einer Berührung, die unvermittelt einwirkt und die das Kind völlig aus der Fassung bringt. Niemals aber ist es so, dass ein autistisches Kind sich aus böser Absicht so verhält. Daher sind die Ausflüge in die Öffentlichkeit für uns meist sehr schwierig. Für Termine, die unvermeidbar sind, konnten wir inzwischen gute Lösungen finden. Bei unserem Hausarzt zum Beispiel muss Niklas nie ins Wartezimmer. Wir dürfen immer gleich nach vorheriger telefonischer Absprache ins Behandlungszimmer. Ansonsten kommt man immer wieder in unschöne Situationen, in denen man das Gefühl hat, sich erklären zu müssen, da bei impulsiven Ausbrüchen in Folge eines Overloads etwas kaputt geht oder jemand vielleicht sogar getroffen wird.
Was ich mir von meinen Mitmenschen in diesen Momenten wünsche, wurde ich schon einige Male gefragt. Ich wünsche mir, dass nach dem ersten verständlichen Hingucken kein Starren und Kommentieren folgt. Und ich wünsche mir, dass man uns vielleicht fragt, ob man helfen kann. Manchmal sind die Situationen nämlich alleine kaum noch zu bewältigen und es würde schon helfen, wenn jemand z.B. mein Auto aufschließt während ich mich um Niklas kümmere. Ich möchte Mut machen, auf uns zuzugehen, denn insgesamt ist freundliches Nachfragen immer besser und angenehmer als fragloses Starren oder unangemessenes Kommentieren.

Nach diesen Beispielen wird, denke ich, schon deutlich, dass es für uns oft nicht möglich ist, an gemeinsamen Unternehmungen mit anderen teilzunehmen. Das heißt aber nicht – wie häufig missverständlich angenommen wird – dass Autisten keinen Kontakt zu anderen Menschen wollen. Es ist immer auch von der Tagesform abhängig oder in manchen Lebensphasen auch unterschiedlich. Wenn es Abschnitte sind, in denen Niklas ganz gut zurechtkommt, planen wir auch Ausflüge und Treffen mit anderen. Wichtig ist dann, dass solche Unternehmungen rechtzeitig angekündigt werden und auch der Ablauf klar ist. Spontane Änderungen sind eher schwierig zu verkraften.
An solchen Tagen genießt Niklas die Gesellschaft andere Kinder und Jugendlicher sehr. Es findet zwar keine Interaktion in Form gemeinsamen Spielens statt, aber er ist ein fabelhafter Beobachter und erfreut sich an all den neuen Details, die er dabei entdecken und sich sehr gut merken kann.
Besonders gut klappt es, wenn sich andere auf seine Sprache einlassen – denn wir kommunizieren per Gebärdensprache. Da Niklas zwar alles versteht, aber nicht spricht, ist er auf die Gebärden angewiesen, um sich mitzuteilen. Sobald er merkt, dass sein Gegenüber Interesse an der Gebärdensprache entwickelt, baut er sehr gern Kontakt auf. Ich bewundere immer wieder, mit welcher Leidenschaft er seinen Gebärdenwortschatz stetig erweitert. Anfangs dauerte es mehrere Wochen bis er eine gezeigte Gebärde selbst wiederholen konnte, inzwischen passiert das sofort und er beeindruckt seine Mitmenschen damit sehr. Außerdem staut sich nicht so viel Frust auf, da er besser verstanden wird. Es ist ein großes Stück Lebensqualität für ihn, sich per Gebärden verständigen zu können.

Für mich persönlich bedeutet der Alltag viel Fremdbestimmung, denn wenn Niklas zuhause ist, bin ich nonstop in seiner Nähe. Er würde sich sonst durch Zweckentfremdung von Materialien oft selbst gefährden, auf die Straße laufen oder möglicherweise etwas essen, das unverträglich ist. Denn er hat einen unwiderstehlichen Drang, alles mit dem Mund zu erforschen. Ich erinnere mich noch gut an ein Weihnachtsfest, bei dem er vor dem geschmückten Baum stand und plötzlich mit einem Happs eine kleine Glühbirne abbiss, genüsslich zerkaute und runterschluckte. Zum Glück ist nichts Schlimmeres passiert und nach Kontrolle beim Arzt gab es Entwarnung. Wegen der Kerze, die er am nächsten Tag verspeiste, war die Aufregung dann nicht mehr so groß. Ansonsten kaut er auf Steinen und Holz, isst Gras, Murmeln und alles, was man sich noch so ausdenken kann. Einmal war aber selbst Niklas angewidert, nämlich als er im Garten eine Nacktschnecke entdeckte und genüsslich hineinbiss. Die arme Schnecke hat es nicht überlebt und Niklas zog den ganzen Tag über noch klebrige Fäden im Mund, da half auch kein Ausspülen. Ich glaube, die Nacktschneckenfamilie muss sich in Zukunft keine Sorgen mehr machen, dass sie verspeist wird.
Bei der Reichweite und Schnelligkeit eines 15jährigen kann man nicht mehr alles im Haus wegräumen und muss auch sehr gut vorausschauend denken, um das ein oder andere Malheur abzuwenden.
Einschneidend ist auch noch das Schlafverhalten. Autisten haben häufig ein niedrigeres Schlafbedürfnis oder einen anderen Schlafrhythmus als wir das gewohnt sind. Niklas machte als kleines Kind keinen einzigen Mittagsschlaf. Und er schläft bis heute nicht zuverlässig durch. Manchmal sind unsere Nächte um 3 Uhr zu Ende und er ist topfit. Die unterbrochenen Nächte, die mit anderen Kindern nach zwei bis drei Jahren vorbei sind, gehören für uns immer noch zum normalen Alltag dazu.

Aber: Aufgrund der oft gemiedenen Sommer-Sonnen-Stunden ist unser Keller inzwischen ausgemistet und ordentlicher als je zuvor und Niklas liebt es, dort die Umdrehungen der Waschmaschine zu beobachten! Da wir viel mit dem Auto herumfahren, kenne ich jetzt Orte in der Umgebung, von denen ich vorher noch nie etwas gehört hatte. (Und die Leute kennen die komische Frau, die immer mit Kapuze an ihnen vorbei düst.) Außerdem haben wir an diese Vorliebe auch unsere Urlaubspläne angepasst. Seit Jahren verreisen wir mit dem Wohnmobil und sind jeden Tag woanders. Niklas hat währenddessen immer seine bekannten vier Wände um sich herum, wir können unserem Vagabundendasein frönen und sehen viel von der Welt, vor allem von Skandinavien.

Und ich habe gelernt, die  Zeit, die mir zur freien Verfügung steht, sehr bewusst zu nutzen und so fing ich mit Niklas´ Einschulung ein Studium der Kulturwissenschaften an, das ich kürzlich beendet habe. Das gab mir die Möglichkeit, neben dem alles dominierenden Thema Autismus, Behinderung und ehrenamtlichem Engagement in diesem Bereich, mich auch anderweitig zu fordern und zu fördern. Parallel dazu begann ich zu schreiben und Bücher zu veröffentlichen. Ich glaube, dass ich ohne Niklas den Weg zurück zu meinen Wurzeln nicht gefunden hätte. Die Tatsache, dass ich mich auf das Wesentliche besinnen musste, mir klarzumachen hatte, was ich mir vom Leben erträumt hatte und nun vielleicht nicht mehr umsetzen kann und welche neuen Möglichkeiten und Träume mir dafür offenstehen, haben mich verändert. Der Prozess hält immer noch an und manchmal ist es auch verwirrend, sich in alten Denkmustern wiederzufinden. Das kann durch die Begegnung mit anderen Menschen geschehen, aber auch durch nicht verarbeitete Lebensfragen, die mich nicht loslassen.
Insgesamt bin ich glücklich über mein Leben so wie es ist – mit Niklas, mit seiner wunderbaren Schwester und mit meinem Mann. Auch das weitere familiäre Umfeld begleitet dieses etwas andere Leben, das wir führen. Und auch wenn es manchmal sehr anstrengend ist und auch wenn ich manchmal denke, dass es nicht mehr zu schaffen ist, bereichert es im Inneren und durch die Menschen, die wir auf diesem Weg kennenlernen durften – nicht zuletzt durch Niklas´ autistische Freunde und deren Familien. Ein Arzt sagte mal zu mir: „Genießen Sie die guten Zeiten“ – und das habe ich verinnerlicht. Manchmal sind es nur fünf ruhige Minuten mit einer Tasse Kaffee, manchmal ist es eine durchgeschlafene Nacht und manchmal ist es Niklas´ ausgelassenes Lachen, weil er sich über etwas amüsiert.
Es gäbe noch so Vieles zu erzählen, von Erlebnissen und Wünschen, zur Diagnosefindung und Zukunftsplänen….. Wenn Ihr noch ein wenig mehr über Autismus, häufige Missverständnisse und persönliche Erfahrungen lesen oder auch mehr über meine sonstige Arbeit erfahren möchtet, lade ich Euch herzlich auf meine Seiten ein. Mein letztes Projekt war ein Kunstband, den ich gemeinsam mit einer autistischen Künstlerin gestaltet habe. Schaut doch einfach mal vorbei:

www.ellasblog.de

Herzliche Grüße

Eure Silkesilke klein 2013

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9 comments

  1. Danke deine so treffenden
    Danke deine so treffenden Worte! Ich finde in vielem auch meinen 11Jährigen Sohn wieder. Und auch zu mir meinte ein Arzt vor ein paar Jahren “ geniessen Sie die guten Zeiten“, ein so wahrer und hilfreicher Satz, den ich fest verinnerlicht habe.

  2. Kann ich nachvollziehen
    hallo Silke, was Du geschrieben hast, kann ich gut nachvollziehen. Wir haben einen 4,5 jährigen Asperger. Viele Dinge, die Du schreibst, sind bei uns ähnlich. z. B. die ständige Beaufsichtigung, die Zweckentfremdung von Gegenständen oder die Überforderung bei Menschenansammlungen oder beim Einkaufen. Ich bin auch 44, mein Mann 51, wir haben aber noch, neben der 20jährigen Tochter einen 18 Monate alten Buben, der leider, bei der ganzen Aufmerksamkeit, die sein großer Bruder braucht, oftmals zu kurz kommt. Gerade mit dem rausgehen ist das ein Problem. Der kleine will raus, der Große immer nur zu hause. Das ist oftmals eine Zerreißprobe. Aber Du hast alles so wunderbar geschrieben, das ich wiedermal das Gefühl hab, nicht allein zu sein. Das tut gut. Alles Gute Euch von Kerstin

  3. an silke
    Hut ab was man so leisten kann oder muss wir haben ein schwerstbehindertes kind mit heimdialyse und schwer Herz krank ist und immer Hilfe braucht im allem das ist harte Arbeit und man ist am abend fix und alle.

  4. Hallo Silke
    Es ist sehr gut geschrieben. Bei sehr vielen Dingen finde ich auch bei meinem Sohn wieder.Er ist 29 Jahre alt ,mit Autismus und schwerer geistiger Behinderung.Er kann auch nicht reden.Aber sich sehr gut mit Mimik und Gestik bemerkbar machen.

  5. hallo silke
    hallo silke

    treffender hätte ich es nicht schreiben können. meiner ist 8,auch autist und er spricht,manchmal wie ein wasserfall :)genau das wünsche ich mir manchmal auch von der gesellschaft.

    alles gute dani

  6. liebe Grüße
    meine liebe Silke,
    das hast du wunderschön einfühlsam geschrieben, ich denk an euch!
    Alles Liebe Inci

  7. Vielen Dank…
    … für diesen faszinierenden Einblick in Euer Leben! Und Hut ab für Eure Fähigkeit, die Dinge so anzunehmen, wie sie sind und das Positive darin zu sehen 🙂

  8. toll
    Das ist so treffend geschrieben ,danke ! Meine Tochter spricht, das macht es uns einfacher aber der Umwelt es noch schwerer sie einzuordnen. Niemand sieht wenn sie vor knöpfen Angst hat . Oder wenn jemand einfach nach Seife oder Butter riecht. Autismus ist so vielfältig wie Menschen es eben sind .