Gastbeitrag: Dankes-Brief an Betty – heute vor elf Jahren starb unser Kind

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Ihr Lieben, heute ist der elfte Todestag von Betty, der Tochter unserer Leserin. Sie bat uns, einen Brief an ihre Tochter hier veröffentlichen zu dürfen. Weil aber schon ihr Anschreiben so schön und wichtig war, veröffentlichen wir auch das. Vielleicht kurz vorab: Dies ist ein Beitrag, den ihr am besten zu Hause und nicht im Büro lest. Denn er geht wirklich zu Herzen. Danke für Euer Vertrauen!

 

Das Anschreiben

Liebe Lisa, vor einigen Monaten bin ich über verschiedene andere Blogs auf Euren wunderbaren Blog aufmerksam geworden und lese seither gern mit. Es ist eine gute, ausgewogene Mischung, die ihr uns Lesern jeden Tag aufbereitet: Lustiges, Nachdenkliches, Wichtiges. Input für den Kopf und Input fürs Herz.

Da ich das Gefühl habe, dass Ihr  im Vergleich recht häufig Gastbeiträge auf Eurer Seite veröffentlicht, wollte ich völlig unverbindlich nachfragen, ob Ihr am 15. Juni, dem 11. Todestag meiner wunderbaren kleinen Tochter, einen kleinen Text als Gastbeitrag veröffentlichen würdet, wenn Ihr das Gefühl habt, dass das für Euch beide so passen könnte. 
 
Meine Tochter wurde mit einer schweren Behinderung geboren und kämpfte vom ersten Tag an um ihr Leben. In diesen ersten Tagen ist unsere Welt von einem Moment auf den anderen stehengeblieben. Plötzlich war da nur noch die ständige Angst vor dem Sterben unseren wundervollen Kindes. Unsere Tochter hat uns allen neun gemeinsame Monate hart erkämpft. Jeder Tag war ein Kampf aber jeder Tag war so viel wert. Wir hatten das große Glück, beinahe die Hälfte dieser 9 Monate immer wieder auch zu Hause verbringen zu dürfen und zumindest so ein Gefühl von Familienleben zu erhaschen. Der Tod unserer Tochter hat den Kreis ihres Lebens zum richtigen Zeitpunkt vollendet. Es war unvermeidbar und für uns, so schwer und schrecklich es war, eine logische und richtige Konsequenz. Wir konnten loslassen, auch wenn dies mit starken Schmerzen verbunden war.
 
Auch heute noch ist der Schmerz präsent und stark, aber ich bin insbesondere auch glücklich. Wir leben mit unserem Sohn ein sehr offenes und vielleicht unkonventionelles Familienleben. Genau dieses sorgt dafür, dass ich heute wieder so glücklich bin, wie nie zuvor, dass ich manchmal sogar das Gefühl habe, dass ich wieder einen kleinen Blick auf die Unbeschwertheit werfen darf, die vor der Geburt meiner Tochter Teil meines Lebens war. Ich habe mir vorgenommen in diesem Jahr – nach zehn Jahren – an diesem Tag wieder arbeiten zu gehen. Die Trauer verändert sich über die Zeit, aber sie bleibt immer ein wesentlicher Teil unseres Lebens als verwaiste Eltern. Ich würde mich also sehr freuen, wenn ihr meinen kleinen Text veröffentlichen würdet, insofern ihr das wollt. Vielleicht macht es dem einen oder anderen Mut, der noch am Anfang eines langen Weges steht. 
 
Liebe Grüße an Euch beide und vielen Dank für Eure Arbeit!
 

Brief an Betty

Heute vor genau elf Jahren haben wir dich verabschiedet mein Kind. Heute vor elf Jahren war es soweit, dich gehen zu lassen. Wir haben mit dir gekämpft, waren stolz auf dich, haben mit dir die wenigen ruhigen Momente genossen und haben mit dir gelitten. Und dann wartetest du darauf, dass wir dich gehen ließen. Du warst geduldig, denn  es fiel uns schwer, uns durchzuringen, dich loszulassen. Sechs Stunden später bist du dann friedlich und entspannt in unseren Armen eingeschlafen. Das erste Mal seit Wochen schienst du in Ruhe und Entspannung.

Heute bin ich froh, dass wir diese Entscheidung aktiv getroffen haben. Dass die Interventionen dann ein Ende hatten und wir diese letzten Stunden friedlich zu dritt und in ganz enger Nähe verbringen konnten. Für die dann anschließende Phase der akuten katastrophalen Trauer haben wir uns mit diesen wunderbaren gemeinsamen Stunden ein gutes Polster geschaffen. Wir hatten einen guten Start in das, was danach kam.

Wir hatten Glück. Es war schwer, es war schlimm. Unsere Welt war aus den Fugen, doch wir hatten uns, hielten uns fest, gaben uns Kraft. Wir hatten gute Freunde, die bei uns waren, die für uns da waren, oder uns Raum ließen, je nach dem, was wir gerade brauchten. Und wir hatten eine unerschütterliche Freude am Leben. Zwischen all der Traurigkeit und Trauer kam immer wieder auch die Erkenntnis, dass das Leben schön ist – trotz allem.

Die Trauer bleibt. Das Vermissen bleibt. Noch heute vergeht kein Tag, ohne dass ich an dich denke, mein Kind. Die Zeit mag Wunden heilen, doch aus Wunden werden tiefe Narben und auch Narben schmerzen mitunter heftig. Das vergeht nicht. Das vergeht nie.

Dein Leben und Sterben, mein Kind, war der Dreh- und Angelpunkt in meinem Leben. Es war die Schwelle, an der es zu entscheiden galt, in welche Richtung es gehen würde, welche Prioritäten wir setzen werden. Welche Prinzipien in unserem weiteren Leben gelten sollten. Du sorgtest für wunderbare Begegnungen, für die Erkenntnis, dass Dopamin verschwendet gehört, dass das Leben hier und heute gelebt werden will. Du hast uns gezeigt, was Liebe ermöglicht.

Und deshalb ist da heute, neben der Traurigkeit und dem Vermissen vor allem eine große Dankbarkeit für jeden gemeinsamen Tag und für all das, was du uns mitgegeben hast auf unseren Weg, dafür, dass du uns jeden Tag in unseren Herzen begleitest und dass du uns gezeigt hast, was wirklich zählt!

Deine Mama

 

 

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9 comments

  1. Auch ich
    Sitze hier mit Tränen in den Augen und bewundere die Mama sehr. Unsere Baby-Tochter hat einen operierungsbedürftigen Herzfehler, der allerdings nicht lebensbedrohlich ist, sofern alles glatt läuft. Das hat mich auch alles neu sortieren lassen, wobei ich auch immer wieder neu in mir ‚aufräumen‘ muss.
    Ich hoffe, Ihre Wunden sind in den letzten 3 Jahren etwas weiter ‚vernarbt‘ und es hat alles gut geklappt, mit Arbeitsbeginn und so. Ich würde mich über einen aktuellen Bericht freuen, alles, alles Gute!

  2. Direkt ins Herz
    Ich bin ganz zufällig über den Blog gestolpert und sitze nun hier und habe Tränen in den Augen!
    Viel Kraft weiterhin und ein wundervolles Leben mit Eurem zweiten Schatz!!!!

  3. Zuversicht
    Deine Geschichte ist so berührend. Es macht Mut zu sehen, dass Ihr -trotz der Trauer, die euch ein Leben lang begleitet- Zuversicht verspürt. Dass Ihr Euch in dieser schweren Zeit für das Leben entschieden habt. Ich habe großen Respekt! Und regt mich an, auch mein Leben (auch ohne solch schweren Schicksalsschlag) wieder positiver anzugehen und jeden Moment als lebenswert zu empfinden. Danke dafür!

  4. Tränen
    Ich sitze hier und weine. Wahnsinn, wie viel Kraft ihr habt. Wie stark ihr seid. Wie ihr Euch fürs Leben entschieden habt, obwohl der Tod so heftig dazwischen gekommen ist. Ich wünsche Euch von ganzem Herzen alles alles Gute. Erhaltet Euch das, was ihr habt.

  5. Was für eine starke Liebe und
    Was für eine starke Liebe und was für berührende Worte. Ich wünsche der Mutter und ihrer kleinen Familie weiterhin alles gute.

  6. Die bedingungslose Liebe…
    Die bedingungslose Liebe für deine Tochter spürt man in jeder Zeile deines Textes!

  7. Ohne Umwege direkt ins Herz
    Ohne Umwege direkt ins Herz gehen diese Worte.
    Schön und ermutigend finde ich, dass neben der großen Traurigkeit auch ganz viel Kraft und Zuversicht aus dem Brief herausklingt. Ich habe allergrößten Respekt vor jedem, der es schafft so einen Schicksalsschlag ohne Verbitterung zu überstehen.
    Ich wünsche euch alles erdenklich Gute!

  8. So traurig und so schön.

    So traurig und so schön.
    Mehr kann ich gerade gar nicht sagen.
    Liebe Grüße
    Jutta