Gastbeitrag einer Zwillingsmama: Mein Sohn ist gesund, meine Tochter behindert

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Vor acht Jahren ging unser größter Traum in Erfüllung: Nach langem Kinderwunsch wurde ich endlich schwanger. Mit Zwillingen – und dann auch noch ein Junge und ein Mädchen! Hätte ich einen Wunschzettel ausfüllen dürfen, hätte ich es mir genauso gewünscht.

Nach einer nicht einfachen Schwangerschaft kamen unsere Zwillinge in der 29.SSW auf die Welt. Die acht Wochen auf der Frühchen-Intensivstation meisterten die beiden relativ gut. Aufgrund der Frühgeburt wurden wir auch zuhause gut unterstützt mit Physio-Therapeuten und einem Sozialpädagogischen Dienst, der uns zur Seite stand. Irgendwie deutete nichts darauf hin, dass eines der beiden Kinder später mal zu 80%  schwerbehindert sein würde. Alles fühlte sich gut und normal an.

Bis zu dem Tag, als wir zur U 4  beim Kinderarzt waren. Der sehr erfahrene Kinderarzt sagte uns nach kurzer Begutachtung unserer Tochter, dass sie wohl eine leichte halbseitige Spastik hätte. Die sei durch einen Sauerstoffmangel bedingt. Wann dieser Sauerstoffmangel auftrat – ob im Mutterleib, bei der Geburt oder erst auf Frühchen-Station – wir wissen es nicht.

Der Sauerstoffmangel hat zur Folge, dass meine Tochter sich langsamer entwickelt als ihr Bruder. Während unser Sohn zum Beispiel mit einem Jahr schon lief, dauerte es bei unserer Tochter bis nach dem dritten Lebensjahr. Bei meiner Tochter wurde im Alter von 4 Jahren zudem eine Entwicklungsverzögerung diagnostiziert, die sich nun zu einer globalen Entwicklungsstörung gemausert hat, sie ist also auch geistig behindert und von einer starken Intelligenzminderung betroffen. 

Charlotte sieht hübsch und völlig normal aus – man sieht ihr die Behinderung nicht an. Ein großes Glück könnte man meinen. Doch wenn ein achtjähriges Mädchen schreiend an der Supermarktkasse steht, weil es keine Süßigkeiten bekommt und sonst völlig "normal" aussieht, haben fremde Menschen wenig Verständnis. Die Blicke schwanken dann zwischen Entsetzen und Abfälligkeit, da ich ja offensichtlich nicht in der Lage bin, mein Kind richtig zu erziehen.

Meine Tochter hat bisher leider kaum Freunde. Das liegt auch daran. dass sie in spezielle Einrichtungen ging, wo auch traumatisierte Kinder waren. Traumatisiert, weil sie aus keinen guten Elternhäusern kommen. Für mich ist es dann natürlich schwer, zu diesen Eltern eine Verbindung aufzubauen und ich wollte auch nicht, dass meine Tochter zu diesen Familien nach Hause geht. Also habe ich die Kinder zu uns eingeladen, was gut geklappt hat, bis die Eltern dazu kamen. Ich musste mir dann oft übelste Vorwürfe gefallen lassen und habe die Treffen nicht wiederholt. 

So muss meine Tochter leider damit klar kommen, dass ihr Bruder Besuch von vielen Freunden bekommt und sie nicht. Ich überlege mir dann immer, was ich Schönes mit ihr machen könnte, sie bastelt und malt gerne. Ich denke aber, eine Freundin wäre ihr lieber.

Zum Glück ist sie nun  in der 1. Klasse einer Waldorfschule für Kinder mit geistiger Behinderung, es kristallisieren sich neue Freundschaften heraus und auch mit den Eltern ihrer Klassenkameraden verstehen wir uns nun bestens.

Jetzt habe ich viel über meine Tochter erzählt. Nun zu meinem Sohn. Er ist wirklich ein ganz ganz tolles Kind: Er ist verständnisvoll, geht gerne in die Schule, hat viele Freunde. Manchmal ertappe ich mich bei dem Gedanken, wie einfach doch das Leben wäre, wenn ich zwei gesunde Kinder hätte. 

Ich versuche irgendwie den Spagat zu schaffen, es beiden Kindern recht zu machen, nicht ungerecht zu sein. Ich weiß, dass ich meinem Sohn viel abverlange und immer wieder an sein Verständnis als „großer“ Bruder plädiere. Das Verständnis seinerseits ist sehr groß und darüber bin ich sehr glücklich:

Er versucht sie, aus einem Schreianfall herauszuholen, indem er sie in den Arm nimmt. Er geht freiwillig zuerst aus der Badewanne, obwohl ich ihm versprochen habe, dass er heute länger als seine Schwester drin bleiben darf, er animiert sie zum Spielen und macht auch viel Quatsch mit ihr – wie Kinder es in diesem Alter eben tun.

Aber ich verstehe ihn auch, wenn er sagt:  „Mama ich hätte gerne eine andere Schwester“ oder „Warum ist sie bloß behindert?“ Ich weiß wovon er redet, meine Schwester hat Down Syndrom, was für mich als Kind auch nicht leicht war. Ich musste auch lernen, zu tolerieren, zu verzichten und zu akzeptieren. 

Die Behinderung hätte genauso gut auch ihn treffen können. Ich versuche ihm zu erklären, dass er sehr dankbar sein sollte, dass er ein gesunder Junge ist.  Dass Gesundheit nicht selbstverständlich ist, wie er an seiner Schwester sehen kann. Und vorallem sage ich ihm, dass seine Schwester die Behinderung nicht ausgesucht hat und dass es unsere Aufgabe ist, sie zu verstehen und sie genauso zu lieben, wie sie ist. 

Für meine Tochter ist es nicht leicht zu sehen, dass sie vieles nicht so gut kann und ihr Bruder ihr in so vielem Voraus ist. Viele ihrer Wutausbrüche sind sicherlich auch das Resultat dieser Erkenntnis.

Und ich als Mutter stehe oft am Rande der Verzweiflung, weil ich mich oft frage, ob das alles richtig ist, was ich hier mache. Darf meine Tochter bei jedem „Nein“ von mir schreien, als würde ich ihr körperliche Schmerzen zufügen? Darf sie mich dumme Kuh nennen,  obwohl ich ihr sage, dass man das nicht sagen darf? Und was wäre, wenn mein Sohn ein Schimpfwort zu mir sagen würde? Ja, da gäbe es Ärger, aber richtig. Warum? Weil er versteht, was er da sagt.

Ein behindertes Kind versteht es nicht, mit so einem Kind kann man nichts „ausdiskutieren“. Selbstverständlich wird meine Tochter auch erzogen und wenn ich dem Umfeld glauben darf, dann ist uns das auch ganz gut gelungen. Im Rahmen des Möglichen. Mehr ist momentan einfach nicht drin. Eine enge Zusammenarbeit mit den Pädagogen und Lehrern ihrer Schule ermöglicht uns, an den kritischen Punkten mit ihr zu arbeiten.

Der Kinderarzt, der so früh schon die Diagnose unserer Tochter stellte, untersuchte unsere Tochter mit 6 Jahren ein letztes Mal bevor er in Rente ging. Abschließend sagte er, dass es unser großes Ziel sein sollte, dass sie irgendwann ein einigermaßen eigenständiges Leben führen kann. Wir werden alles dafür tun, ihr das zu ermöglichen.

Mit meinem Sohn führen wir regelmäßige Gespräche und fragen ihn wie er sich fühlt, ob er das Gefühl hat, dass er zu kurz kommt. Dass er jederzeit zu mir oder zu Papa kommen kann wenn ihn etwas bedrückt. 

Ich glaube und hoffe meine beiden Kinder haben eine glückliche Kindheit –  auch wenn sie gegenseitig viel Verständnis aufbringen müssen. Letztendlich sind wir eine ganz normale Familie, die einfach versucht das Beste aus der Situation zu machen. Und irgendwie finde ich, dass uns das ganz gut gelingt.

 

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8 comments

  1. Wie bekannt und vertraut mir
    Wie bekannt und vertraut mir der Bericht vorkommt… wie haben es ähnlich getroffen nur kein ZwillingPärchen aber zwei Mädchen mit zwei Jahren auseinander Körperlich zu mindestens…. ich kann es so nachfühlen wie man sich in manchen Situationen selber sieht … positives Denken , Geduld und Verständnis ist halt auch sehr schwer in der heutigen Zeit ernstgenommen zu werden… gerade Außenstehende haben die besten Ideen … nicht 🙂 ich wünsche weiterhin viel kraft und danke fpr diesen tollen Bericht lg

  2. Eines meiner Kinder hat eine Behinderung
    Ich kann dich so gut verstehen. Mein 11jähriger Sohn hat auch aufgrund eines Sauerstoffmangels nach/bei einer Frühgeburt eine geistige und eine Sehbehinderung. Auch er sieht aus wie ein völlig normaler Junge und auch ich muss die blöden Kommentare und Blicke anderer Leute aushalten wenn sein Verhalten nicht das eines 11jährigem entspricht. Es ist schwer. Und mal gelingt es besser als an anderen Tagen. Ich habe noch eine 7jährige gesunde Tochter die oft viel Verständnis für ein Verhalten ihres eigentlich großen Bruder zeigen muss das sie nicht verstehen kann. Und auch sie wünscht sich oft einen anderen Bruder. Neulich hat sie zu mir gesagt: „Warum hast du den eigentlich geboren?“ Das hat mich sehr erschrocken, ich habe oft Angst ihr zuviel Verständnis abzuverlangen. Deshalb gönnen wir uns gerade Mutter Tochter Zeit in einer Mutter Kind Kur. Das ändert nichts an unserer Situation, macht uns aber vielleicht den Kopf wieder klarer und das Herz wieder leichter. Auch ich hoffe das unser Sohn später eigenständig leben kann. Obs klappt wird die Zeit zeigen…

  3. Wir haben drei Kinder und
    Wir haben drei Kinder und davon eines mit Beeinträchtigung. Ich kann vieles nachvollziehen, was du sagst, aber manches auch nicht. Es klingt, als sei die Behinderung immer Thema, das ist sie bei uns nicht. Es wird jeder so genommen, wie er ist.
    Außerdem finde ich die Begrifflichkeit „gesund“ seltsam. Ist deine Tochter denn krank?
    Es ist nicht leicht, allen gerecht zu werden, aber es ist auch nicht schlimm, wenn mal jemand zurückstecken muss. Das ist eine wertvolle Lektion in unserer egozentrierten Gesellschaft.

  4. Dsnke
    Liebe Andrea, ganz lieben Dank für deinen ehrlichen Text. Wir haben eine sehr ähnliche Situation zu Hause und ich kann alles so gut nachvollziehen, was du schreibst. Danke, dass du nicht so tust, als ob alles einfach und immer rosarot wäre. Du bist bestimmt eine ganz tolle Mutter und hast zwei tolle Kinder. Ich drücke dich

    1. Liebe Juli,
      vielen Dank für Deine Zeilen. Dann weißt Du ja genau wie es ist. Es gibt wunderbare, glückliche Tage an denen man sich über gar nichts groß Gedanken machen muss…und es gibt die Tage, an denen vieles in Schwanken kommt. Vielleicht hast Du ja Lust, dass wir uns ab und an mal austauschen? Das wäre sehr schön…Ich wünsche Dir und Deiner Familie alles Liebe ♥

  5. Liebe Zwillingsmama,

    Liebe Zwillingsmama,
    als ich deinen Beitrag gelesen habe, kamen mir fast die Tränen. Danke für deine ehrlichen Worte. Ich habe den Eindruck, du machst einen ganz tollen Job- der knochenhart ist. Die Erziehung eines („gesunden“) Kindes ist schon nicht immer einfach, Zwillinge allein sind schon eine mega Herausforderung und eure Konstellation ist es erst Recht. Aber so, wie du es beschreibst, scheinst du dir sehr viele Gedanken zu machen und ich bin mir sicher, deine Tochter (und auch dein Sohn) hätte kaum eine bessere Mutter haben können. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie schwierig es ist, im nicht familiären Kontext in unserer Gesellschaft, damit entspannt umzugehen. Und Wahnsinn, wie toll dein Sohn reagiert. Und sei froh, dass er, was deine Tochter angeht, auch offen und präzise aussprechen kann, was ihn stört. Es schmerzt sicherlich sehr, das zu hören, aber es zeigt auch, dass dein Sohn seine Gefühle gut ausdrücken kann und das auch tut, also auch für sich sorgt und das ist ganz wichtig.
    Es freut mich, dass du eine gute Schule gefunden hast für deine Tochter und ich hoffe, dass sie dort weiterhin gut aufgehoben ist und ihr die Unterstützung bekommt, die ihr braucht. Und ich hoffe sehr, dass auch du Unterstützung bekommst, für das,was du brauchst, Zeit für dich, ein offenes Ohr- was immer es auch sein mag.
    Liebe Grüße,
    Susanne

    1. Liebe Susanne,
      vielen Dank für Deine lieben Zeilen, die mich auch sehr gerührt haben. Die Schule, in die meine Tochter nun gehen darf (und von 70 Anmeldungen haben nur 10 Kinder einen Platz bekommen, daher sind wir so dankbar), hilft uns sehr. Sie macht gute Fortschritte in ihrer Entwicklung und das wichtigste ist, dass sie nun wieder soziale Kontakte knüpfen kann. Meinen Sohn kann ich gut verstehen, wenn er ab und zu geknickt und auch verärgert ist, denn er hat es wirklich nicht immer leicht mit seiner Schwester. Er lernt dadurch aber auch, sich für Schwächere einzusetzen und hilfsbereit zu sein. Wenn er später mal zu mir sagt er hatte dennoch eine schöne Kindheit, dann wäre ich darüber sehr glücklich. Alles liebe für Dich und viele Grüße Andrea