„Bis heute wissen die Ärzte nicht, warum meine Tochter nicht mehr laufen kann“ – Interview mit Claudia

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Liebe Claudia, erzähl doch erstmal, wer alles zu Deiner Familie gehört. 

Zu meiner Familie gehören mein Mann Jan, 33, meine Tochter Emily, 2,5 und ich Claudia, 30. Aktuell bin ich mit unserem 2. Kind schwanger, das im Juli geboren werden soll. Wir sind vor ca. 6 Jahren nach Berlin gezogen und obwohl ich die Großstadt immer gehasst habe, fühlen wir uns mittlerweile ganz wohl hier.
 
Letztes Jahr ist Deine Tochter plötzlich erkrankt. Was waren die Symptome?
 
Ich hatte sie sowieso ein paar Tage zu Hause wegen einer Erkältung. Am Freitag Nachmittag-  es war der 27.Januar-  fing sie plötzlich an zu schwanken und umzuplumpsen. Obwohl sie seit August sicher laufen konnte. Dann rannte sie gegen Türrahmen. Ich war sehr verwirrt, Emily wirkte wie betrunken. Es war jedoch nicht so dramatisch, dass wir gleich zum Arzt gegangen wären, die Symptome wurden erst im Verlauf schlimmer. Samstag nach dem Mittagsschlaf stand sie dann an der Toilette und zitterte leicht am ganzen Körper. Ich rief eine Freundin, die Ärztin ist, an und gemeinsam entschieden wir, in die Rettungsstelle zu fahren. 
Dort angekommen war ihr Gangbild mittlerweile so schlecht, dass wir permanent hinter ihr her sein mussten und aufpassen mussteb, dass sie nicht schwer stürzt. Der Arzt konnte sich auch keinen Reim drauf machen und entschied sich, uns stationär aufzunehmen.
 

Wie wurde Emily dort behandelt? Und was sagten die Ärzte?

Nach der Aufnahme wurden zahlreiche Tests gemacht, Blut entnommen, Urin und Stuhlproben überprüft. Sie musste zum MRT und zur Lumbalpunktion (Entnahme von Rückenmarksflüssigkeit). Insgesamt waren wir 2 Wochen stationär aufgenommen. In der ersten Woche verschlechterte sich ihr Zustand so stark, dass sie nicht mehr selbstständig sitzen konnte und einen starken Tremor (Zittern) am ganzen Körper entwickelte. Wenn sie sich nachts im Bett gedreht hat, wackelte das ganze Bett.

Sie fing auch an zu schielen und bekam einen Nystagmus (ein schnelles, in ihrem Fall horizontales Zittern der Pupillen). Sie war psychisch sehr angespannt, weinte viel (häufig auch richtiges Schreien) und wollte am liebsten den ganzen Tag draußen rum getragen werden. Im Krankenhauszimmer wollte sie gar nicht gern sein.

Das Problem war nur, dass wir eigentlich isoliert waren und im Zimmer bleiben sollten weil bei ihr Keime festgestellt wurden (Adenoviren). Diese machten die Ärzte auch für die Erkrankung verantwortlich. Die Verdachtsdiagnose lautete Cerebelitis (Kleinhirnentzündung) aufgrund von Adenoviren. Man sagte uns, dass es aber nicht sicher sei. Wenn es eine Cerebelitis ist dann würden sich die Symptome innerhalb von 2 bis 6 Monaten vollständig zurück bilden. Medikamente hat sie keine bekommen. Man sagte uns, dass es bei Viren nicht sinnvoll wäre. 

Kannst Du Deine Gefühle während dieser Zeit beschreiben?

Zunächst war da natürlich der Schock. Vor allem, als ihre Symptome immer schlimmer wurden und wir nicht wussten, was “Sache” ist. Dann war ich einfach nur verzweifelt, weil es nicht besser werden wollte. Irgendwann war ich dann einfach nur total erschöpft und psychisch total angespannt. Manchmal habe ich mich, wenn Emily so doll geweint hat, einfach dazu gesetzt und mitgeheult – aber eigentlich war den größten Teil der Zeit einfach durchhalten angesagt – für jeden von uns. 
Für meinen Mann war die Situation auch alles andere als leicht. Er musste täglich auf Arbeit und kam Abends dann zu uns ins Krankenhaus bzw. an den Wochenenden löste er mich komplett ab, damit ich mal nach Hause konnte. Emily mochte diese Wechsel immer gar nicht und zeigte das auch lautstark. 
 
Mein Mann machte sich natürlich auch Sorgen und Gedanken und musste sich dann noch auf die Arbeit konzentrieren, mit der Familie sprechen etc. Er war während der ganzen Zeit eine riesen Stütze. 
 

Wie verlief die Krankheit weiter?

Im Anschluss an die 2 Wochen im Krankenhaus waren wir nochmal 2 Wochen zu Hause und durften dann in die neurologische Rehaklinik fahren. Ich hatte ein bisschen Sorge, dass die Zeit dort ebenso schwierig wird wie im Krankenhaus und zu Hause. Aber die Einrichtung gefiel Emily und mit der Zeit entspannte sich die Lage ein wenig, wobei es zu normalen Verhältnissen kein Vergleich war. Sie klammerte sich in den Therapien anfangs so sehr an mich, dass fast nichts möglich war. Ich musste sie immer begleiten und hatte nur wenn sie schlief mal ein wenig Zeit für mich. Sie weinte und schrie noch immer sehr viel- häufig nach dem Aufwachen, als wenn sie Schwierigkeiten hatte vom Schlafen ins Wach-sein zu kommen.
 
Aber immerhin lernte sie in der Reha wieder frei zu sitzen und fing wieder an, so was wie Krabbelbewegungen zu machen. Wir haben verschiedene Hilfsmittel erhalten, unter anderem einen Gehtrainer, mit dem Emily das Laufen üben kann. Denn das war, was sie wollte- laufen, laufen, laufen
 
Insgesamt waren wir 9 Wochen in der Reha. Direkt im Anschluss fuhren wir in den Steigerwald in Bayern. Dort gibt es eine Klinik für traditionelle chinesische Medizin (TCM), die uns Hilfe versprach. Leider übernimmt die Kasse dafür nur in seltenen Fällen die Kosten und in unserem leider nicht. Zum Glück haben uns Familie und Freunde unterstützt.
 
Die Klinik tat mir und Emily sehr gut, es war fast ein bisschen wie Urlaub für uns. Der Frühling war in vollem Gang, wir konnten viel raus auf die Wiese und in den Wald und die Umgebung war einfach idyllisch. Emily wurde psychisch wieder stabiler und hörte auf zu klammern und zu schreien. Das half mir wieder runter zu kommen und mich als eigenständige Person zu fühlen.
 
Wir haben uns dann entschieden an der Charité nochmal eine neue Diagnostikrunde zu machen, da ja weiterhin nur die Verdachtsdiagnose Cerebelitis im Raum stand. Dafür waren wir nochmal 3 Tage stationär dort und es wurden wieder zahlreiche Tests gemacht, die aber allesamt nichts ergeben haben.
 
Mittlerweile hoffte ich immer nur auf irgendeine Diagnose, einfach um dem ganzen einen Namen geben zu können. Es ist ziemlich belastend, wenn man immer wieder gefragt wird, was das Kind den hat und man es sich selber nicht erklären kann.
 
Aktuell bekommt Emily ambulant Physiotherapie und Logopädie. Natürlich könnten wir mehr machen, aber ich halte das für wenig sinnvoll, zu viel auf einmal zu machen und möchte sie nicht mit Therapien überhäufen. Sie soll auch Zeit zum spielen und Kind sein haben.
 
Jetzt im April fahren wir noch einmal für 4 Wochen zur Reha und ich hoffe, dass sie da noch ein paar Fortschritte macht, die uns zu Gute kommen, wenn das 2. Kind auf der Welt ist. Denn davor habe ich aktuell schon noch ein bisschen Respekt. 
 

Wie geht es Deiner Tochter heute?

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Seit August 2017 ist Emily wieder in einer Kita, sie musste die Einrichtung leider wechseln, da sie ja nun einen erhöhten Betreuungsbedarf hat. Wir haben uns um einen Integrationsstatus bemüht und auch bekommen. Sie hat ausserdem einen Pflegegrad und einen Schwerbehindertenausweis. 
Im Vergleich zu vor einem Jahr hat sie schon wahnsinnige Fortschritte gemacht. Sie sitzt und krabbelt wieder, kann sich sogar allein kurz hinstellen und aufrichten (fällt aber häufig nach kurzer Zeit wieder um) und läuft an zwei, manchmal auch an einer Hand. Von ihrer Psyche her würde ich sie als ziemlich normale Zweieinhalbjährige beschreiben. Sie hat Wut und Bockanfälle und weiß genau, was sie will und was nicht. Da sich ihre Sprache während des letzten Jahres nicht wirklich viel entwickelt hat, ist es schon eine Herausforderung sie zu verstehen, aber mit Geduld geht es schon.
 
Wie hast Du diese schwierige Zeit verarbeitet? 
 
Ich habe immer mal wieder daran gedacht ob ich mich nicht in psychologische Betreuung oder zumindest eine Selbsthilfegruppe begeben sollte. Aber irgendwie fiel es mir schwer den Schritt zu tun. Gerade was so eine Selbsthilfegruppe angeht war immer die Hürde, dass ich nicht wusste, wonach ich suchen soll, denn wir haben ja bis heute keine Diagnose.
 
An den meisten Tagen geht es mir gut, aber hin und wieder sehe ich, wie toll andere Kinder in ihrem Alter laufen, rennen, reden etc. können und werde traurig und wütend, warum es gerade uns getroffen hat. Einmal musste ich einen Kindergeburtstag schon nach einer Stunde verlassen, weil ich es einfach nicht aushalten konnte zu sehen, wie glücklich und unbeschwert die anderen Familien waren. Die Eltern haben gemütlich bei Kaffee und Kuchen gesessen, während die Kinder im Sand spielten und über die Wiese rannten. Ich hingegen war die ganze Zeit damit beschäftigt, Emily zu stützen während sie mit einem Puppenwagen kreuz und quer über die Wiese laufen wollte. 
Also ich vermute, verarbeitet habe ich nicht, was passiert ist. Ich versuche die Situation so zu akzeptieren wie sie ist und das Beste daraus zu machen.
 
Hattet Ihr Unterstützung von Freunden/Familie?
 
Obwohl unsere Familien ca. 260km von uns entfernt wohnen, hatten wir von der Seite eine große Unterstützung. Auch unsere Freunde haben versucht, uns so gut wie möglich zu helfen. Allerdings muss man sagen, dass Emily in der akuten Zeit sehr auf uns fixiert war und wir den größten Teil der Betreuung allein stemmen mussten.
 
Was wünscht Du Dir für Emily?
 
Sie hat den unbändigen Willen zu laufen und ergreift jede Gelegenheit dies auch zu tun. Ich hoffe sehr für sie, dass sie es wieder lernt.
Und ich wünsche mir natürlich für Emily, dass sie einfach glücklich ist.
 
—–AUFRUF: Claudia wünscht sich Austausch mit anderen Müttern, die Ähnliches erlebt haben.  Wer Claudia Tipps geben kann, ihr von sich erzählen möchte oder einfach gute Gedanken schicken will, kann sich bei uns melden, wir stellen dann den Kontakt her!

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1 comment

  1. Nystagmus, Sprachstörung etc…
    Hallo Claudia,
    es tut mir sehr leid zu lesen, was mit deiner Tochter passiert ist und dass bisher keine Urache gefunden wurde. Ich habe selbst eine besondere Tochter (mit eindeutiger Diagnose). Sie hatte von klein auf einen Nystagmus und allgemeine Entwicklungsverzögerung. SEit einem gutem Jahr wird sie im Rahmen einer anderen Therapie auch osteopatisch behandelt (da haben wir einfach Glück mit unserer Therapeutin). . In der ersten Sitzung standen die Augen auf einmal STill!, wenn ich es selbst nicht geshen hätte, hätte ich es nicht geglaubt. Seitdem hat sie große Fortschritte gemacht, der Nystagmus ist im Alltag nur noch minimal verhanden und auch sprachlich hat sich viel getan. Ich weiss nicht, ob du diesen WEg schon gegangen bist, aber wenn nicht, lohnt es sich vielleicht, wenn du deine Tochter mal bei einem guten Osteopathen vorstellst…(vielleicht kann dir ja jemand jemanden empfehlen…). Was die Logopädie angeht… informiere dich mal, ob du jemanden findest, der nach dem Pörnbacher Konzept arbeitet. Dieses ist eine sehr ganzheitlich ausgerichtete Methode- ich finde sie klasse!
    Alles gute für euch!