Loslassen tut so weh – wenn das Kind zum Vater zieht

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Mein Name ist Marion und ich lerne gerade, wie schmerzlich das Loslassen von Kindern ist. Es geht um meinen 17-jährigen Sohn. Auf einmal war er weg. Er kam einfach nicht wieder. Sein Vater und ich hatten zwar eine grobe Regelung, an welchem Wochenende /welcher Ferienwoche die Kinder bei ihm sind. Aber seit die Kids selbstständig mit Bus oder zu Fuß unterwegs sind, gingen sie auch öfter und zwischendurch zum Vater.

Das war für mich kein Problem, schließlich hatten wir uns gewünscht, daß beide Wohnungen für die Kinder ein Zuhause sind. 
Die letzten Jahre war mein mittlerweile Siebzehnjähriger immer mal wieder krank, in einem Jahr sogar mehrere Wochen mit Lungenentzündung, Nebenhöhlenentzündung, Fieber und Panikattacken.

Die Panikattacken traten erst dann auf, als er das Gefühl bekam, nicht mehr richtig gesund und fit zu sein. Manchmal wurde er tagelang von meinen Eltern, die bei uns im Haus wohnen, gepflegt, weil ich berufstätig bin. Die Folge: Er blieb sitzen und weil er sich sowieso nicht wohl auf der Schule fühlte, stand ein Schulwechsel an. Er war überglücklich, als wir einen Platz an der Schule bekamen, die schon seinem älteren Bruder sehr gut getan hatte. Und tatsächlich blühte auch mein 17-Jähriger auf dieser Schule auf. 

Er war viel unterwegs, baute sich einen neuen Freundeskreis auf. Er saß während der Wahlen in politischen Diskussionen, beschäftigte sich mit der Politik und den Parteien, obwohl er noch nicht wählen darf. 
Es machte mich unglaublich stolz, als ich ihn auf einer Demonstration traf. Er setzt sich gegen Ungerechtigkeit ein – das fand ich toll. Und es macht mich glücklich zu sehen, dass er auf eigenen Beinen steht und seinen Weg geht.

Aber nach den Herbstferien kam er einfach nicht wieder. Zuerst sagte er nur, Papas Zuhause sei näher an dem neuen Praktikumsplatz. Nachdem das Praktikum vorbei war, stand er plötzlich vor der Tür und packte seinen Computer und seine Sachen. "Ich ziehe zu Papa. Da hab ich meine Ruhe" sagte er. Ich sagte ihm, dass er doch nicht alles hier hinschmeißen könne und er antwortete: Du kannst ja mein Zimmer untervermieten. Das traf mich sehr (und später entschuldigte er sich auch dafür, aber der Satz war ein klares Zeichen). 

Also ging er und kommt nur alle paar Wochen kurz vorbei. Er sagt, er sei nicht sauer auf mich, aber er wolle einfach jetzt sein eigenes Leben leben. Bei seinem Vater kann er das, weil sein Vater unter der Woche viel arbeitet. Außerdem wohnt seine Freundin ganz in der Nähe und er kann mit seinem Kumpel in Papas Werkstatt schrauben. Das hört sich natürlich alles mega cool an. 

Kurz vor Weihnachten rief mich seine Lehrerin an, die ihn sehr schätzt und teilte mir mit, dass er innerhalb von sechs Wochen 10 Tage unentschuldigt gefehlt hat. Diese Situation hatten wir ja schon mal… nur diesmal müsste sein Vater eigentlich dafür sorgen, dass er regelmäßig in die Schule geht…

Es ist ein unglaublich fieses Gefühl, wenn man merkt, dass man nicht mehr richtig ans Kind heran kommt. Nein, ich will ihn nicht an mich ketten und ich möchte, dass er „fliegt“ mit seinen eigenen Flügeln. Aber es macht mich traurig, dass ich es gerade nicht miterleben darf. Jahrelang durchte ich ihn auffangen und trösten – nun braucht er mich nicht meht. Von einem Tag auf den anderen. 

Neulich habe ich ihn auf einem Foto in der Zeitung gesehen, er stand dort  als „Blockierer“ rechten Demonstranten im Weg. Ich habe Angst um ihn – nicht weil er demonstriert. Sondern weil ich fürchte, dass er auch provoziert. 

Seine kleinen Geschwister vermissen ihn. Und fragen mich oft, wann er wieder kommt. Mir fehlt sein Lachen, seine freche Art, seine Sprüche, seine Anwesenheit. Ich weine, weil ich nicht mehr weiß, was in ihm vorgeht. 

„Aber er war schon immer ein Papa-Kind," sagte sein älterer Bruder. Nein, das habe ich wohl nie sehen wollen.

Es ist so schwer, dass ich ihm keine Vorwürfe mache, wenn wir uns mal kurz sehen. Dafür sind die Treffen zu wertvoll. Ich muss mich zusammenreißen, damit ich ihn nicht noch mehr vergraule. Es tut mir alles so weh. 

Als ich vor kurzem seine ehemalige Lehrerin traf, die selbst drei Kinder hat, erzählte ich ihr von der Situation. Sie sagte: "Als frischgebackene Mama bekommt man immer ganz viele Ratschläge und Tipps. Aber niemand sagt einem, wie man mit dem Loslassen umgeht. Obwohl das wohl die heftigste Erfahrung für eine Mutter ist." Ich finde, sie hat so recht. 

Foto: Pixabay

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4 comments

  1. Mein Sohn zog vor 3 Jahren nach einer Streitigkeiten zu seinem Vater. Für mich ist eine Welt zusammen gebrochen und bis heute schmerzt es. Zwar nicht mehr täglich, aber es hat mein Leben verändert. Er hat den Kontakt komplett abgebrochen und ich verstehe es bis heute nicht, da wir uns gut verstanden hatten und er zu seinem Papa eher ein schlechtes Verhältnis hatte. Ich fühle mich bis heute damit alleine gelassen und lebe mit der Situation. Er fehlt mir einfach sehr.

  2. Danke. Ich weiß jetzt, dass ich nicht alleine bin. Mein Sohn zog im Januar von heute auf gleich zu seinem Vater. Ohne ein Wort einer Begründung. Später sagte er, es sei seinetwegen, nicht meinetwegen. Mehr Informationen habe ich nicht bekommen, er mag nicht darüber reden, der Kontakt ist spärlich. Nicht, weil wir uns böse sind, sondern weil er nun sein Leben lebt, mit seinem Vater, dessen Freundin, deren Kindern, neuer Schule, neuer Freunde. Er ist glücklich und das freut mich. Nur ich bin unendlich traurig und das macht jedes Gespräch gerade schwer. Gleichzeitig denke ich jeden Tag an ihn. Ich glaube, dass ist eine Form von Trauer, die es auch anzuerkennen und zu durchleben gilt. Wenn loslassen kein Prozess sondern ein Abbruch ist, dann muss die Arbeit des Trauerns im Nachhinein verrichtet werden. Das braucht Zeit und verläuft nicht linear.

    1. Hey,
      ich erlebe gerade das gleiche. Meine Tochter (16 Jahre) und ich hatten ein inniges Verhältnis und ich habe sie durch schwierige Zeiten hindurch begleitet. In dieser schweren Zeit wollte sie wenig bis keinen Kontakt zu ihrem Papa. An einem Sonntag im Januar 2023 kamen sie und ihr Papa nach einem gemeinsamen Abendessen zu mir. Er hat mit mir gesprochen und sie hat ihre Sachen gepackt. Jetzt, fast vier Monate später, haben wir keinen Kontakt mehr und ich habe keine Antworten, warum alles so passiert ist, wie es passiert ist. Zum Glück kann ich zumindest mit ihrem Papa sprechen und höre, dass es ihr gut geht. Nach der Phase des Trauerns, bin ich jetzt bei mir angekommen und verstehe, dass ich nichts ändern kann. Aber ich kann für mich da sein, ohne, dass das egoistisch ist. Ich liebe sie und bin mir sicher, dass wir unsere Chance bekommen, uns auszusprechen. Jetzt zählt erstmal, dass es uns beiden gut geht. Auch wenn es weh tut und immer mal wieder traurige Tage da sind. Alles Liebe für Dich.

  3. Auch Archivartikel dürfen wieder Korrektur gelesen werden
    „Jahrelang durchte ich ihn auffangen und trösten – nun braucht er mich nicht meht.“
    Zwei Fehler in einem Satz – Glückwunsch 😉

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