Zangengeburt: 300.000 Euro für meinen kaputten Beckenboden

Zangengeburt

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Ihr Lieben, Jutta ist 41 Jahre alt, hat zwei Kinder und hat uns hier schon einmal von ihrer Zangengeburt und den dadurch entstandenen Schäden an ihrem Beckenboden erzählt. Damals plante sie, den verantwortlichen Arzt zu verklagen, das hat sie nun getan und es wurde sich auf einen Vergleich geeinigt. Welcher das ist und wie es ihr heute geht, erzählt sie uns hier im Update.

Liebe Jutta, wie geht es dir heute, rein körperlich gesehen?

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Es hat sich körperlich nichts verändert. Ich mache jeden Tag Beckenbodentraining, um den Zustand so zu halten. Der Harndrang ist allerdings permanent vorhanden, was mich im Alltag sehr einschränkt.

Bei deiner letzten Geburt 2016 wurden Nerven in deinem Beckenboden dauerhaft geschädigt, welche konkreten Folgen hat das für dich bis heute – und wahrscheinlich auch noch weiterhin?

Dass ich eben permanent Harndrang verspüre, und dies schon bei kleinen Urinmengen von 20ml. Zudem habe ich dauerhaft Verstopfung, weil der Darm zu langsam arbeitet. Dies bringt  natürlich auch viele Beschwerden mit sich. 

Du bist mit den Folgen vor Gericht gezogen und hast nun Schmerzensgeld erwirken können… Heißt das jetzt im Klartext, die Klinik hat Fehler eingesehen? Wenn ja, welche?

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In zweiter Instanz wurde deutlich, dass das Urteil vom Landgericht so nicht zu halten sein wird. Der Gutachter aus der ersten Instanz wurde nochmals zu einigen Punkten befragt. Danach baten die Richterinnen und der Richter vom OLG Hamm um eine Beratungspause und schlugen direkt den Vergleich von 300.000 Euro vor.

Ich habe das so gewertet, dass ich die Klage mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit gewinnen würde, wenn ich sie bis zum Ende durchziehe. Es wurde aber auch deutlich, dass dann noch ein Gutachten zur Anästhesie erforderlich sein würde, was bedeutet, dass der Prozess womöglich noch mehrere Jahre angedauert hätte.

Bei einem Vergleich unterschreibt man eine Klausel, dass die Zahlung ohne Anerkennung einer Rechtspflicht erfolgt. Dies bedeutet also, dass sich die Gegenseite die Schuld nicht eingesteht. Man muss sich allerdings fragen, wer freiwillig eine so hohe Summe Geld bezahlt, wenn alles richtig gelaufen ist. Ich persönlich sehe den Vergleich schon als klares Schuldeingeständnis, auch wenn dies formell nicht der Fall ist. 

Meinst du, es wurde vorsätzlich gehandelt oder siehst du es eher so, dass eben auch Ärzte und Ärztinnen Menschen sind und mal einen Fehler machen?

Wenn man bei Geburtsbeginn einen Behandlungsvertrag unterschreibt, dass im Falle einer notwendigen Anästhesie ein Facharzt für Anästhesie kommen wird, aber der Gynäkologe, der laut Vertrag nicht dazu befugt ist, die PDA spritzt, ist das für mich keine Fahrlässigkeit. Wenn man zudem die vierfach höhere Konzentration an Narkosemittel spritzt, die laut Leitlinie gespritzt werden darf, ist das ebenfalls kein Versehen.

Im Parallelverfahren, dem Strafverfahren, das noch anhängig ist, sagt die von der Staatsanwaltschaft beauftragte Gutachterin, dass Aufklärungs- und Behandlungsfehler unterlaufen sind, die einem Arzt nicht passieren dürfen. Ich bin ehrlich: Ohne das Strafverfahren hätte ich dem Vergleich vielleicht nicht zugestimmt, aber so habe ich zusätzlich zum Schmerzensgeld die Möglichkeit, dass ggfl. noch ein Urteil gesprochen wird.

Ist dieses Schmerzensgeld für dich ein Stückweit Genugtuung, tröstet es dich etwas auch über den seelischen Schmerz hinweg?

Jein, es gibt mir meinen Körper nicht zurück, aber ich denke, dass es unheimlich wichtig ist, dass sich die Justiz mit dem Thema „Geburtsschäden bei Müttern“ beschäftigt. Vor Jahren noch hätte man gesagt, dass Beckenbodenschäden normal seien und man doch froh sein könne, wenn man ein gesundes Kind auf die Welt gebracht hätte. Mein Sohn hatte aber unter der Geburt ebenfalls Sauerstoffmangel und das Ganze hätte auch für ihn mit schweren Schäden ausgehen können. Da hatten wir einfach nur Glück.

Des Weiteren ist für mich wichtig, ein Zeichen für all die geschädigten Frauen zu setzen, die vielleicht noch überlegen zu klagen und denen gesagt wird, dass es nichts bringen würde, gegen eine Klinik vorzugehen oder einen Arzt anzuzeigen.

Es ist die wohl bislang höchste Summe an Schmerzensgeld, die in Deutschland je für einen Beckenbodenschaden mit Stuhlinkontinenz gezahlt wurde, was macht dieses Wissen mit dir?

Dass sich der Kampf gelohnt hat. Gerne möchte ich andere Frauen motivieren, sich zu trauen, juristische Schritte zu gehen. Kontakt zu mir ist unter geburtstrauma(at)web.de möglich.

Was wirst du mit dem Geld tun, wirst du es auch für körperliche Eingriffe oder Therapien nutzen, um dir ein bisschen Unbeschwertheit ins Leben zurückzuholen? Wie fühlt es sich für dich jetzt an, endlich einen Schlussstrich unter das Thema setzen zu können?

Wenn ich Therapien kennen würde, die mir helfen könnten, würde ich das Geld definitiv in Behandlungen einsetzen, aber ich habe ich den vergangenen alles ausprobiert, was es auf dem Markt gibt und leider nichts gefunden, was tatsächlich geholfen hat. Ich weiß noch nicht genau, was ich mit dem Geld machen werde.

Was meinst du, kannst du irgendwann deinen Frieden mit den Geschehnissen und ihren Folgen machen?

Das weiß ich nicht, denn die Beschwerden werden ja permanent vorhanden sein. Womit ich noch keinen Frieden schließen konnte, ist die Behandlung meines Falls vor dem Landgericht Bielefeld. Dort sind Dinge passiert, die ich keinem Patienten mit Behandlungsfehler wünsche. Ich denke, dass ich da noch sehen muss, wie ich damit umgehen werde. Dieses Kapitel ist deshalb für mich noch nicht abgeschlossen.

Mit welchen Gefühlen blickst du den nächsten fünf Jahren entgegen?

Ich freue mich, dass meine Kinder selbstständiger werden, denn wir haben leider keine Hilfen im Notfall. Gerade, wenn man körperlich eingeschränkt ist, ist man oft auf Hilfe angewiesen, die uns fehlt. Aber ich bin mir sicher, dass es nach und nach einfacher für uns als Familie wird und ich freue mich, wenn es meinen Kindern gut geht und sie glücklich sind.

Was würdest du anderen Frauen nach traumatischen Geburten oder nach schwerwiegenden Geburtsverletzungen mit auf den Weg geben wollen?

Geburtsschaden
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Dass sie auf ihren Körper hören und Beschwerden früh genug an den Frauenarzt herantragen. Die Erfahrungen in einer virtuellen Selbsthilfegruppe zeigen allerdings deutlich, dass die niedergelassenen Frauenärzte oft nicht die richtigen Ansprechpartner sind, sondern dass Frauen mit Geburtsverletzungen nach dem Wochenbett in ein gutes Beckenbodenzentrum gehen sollten.

Zudem sollten Sie auch über Beschwerden, die ihnen unangenehm sind, sprechen, um frühzeitig Hilfe und Therapien zu bekommen. Bei kleinen Schäden reichen oft schon Therapien wie Elektrostimulation oder Biofeedback aus, um Verbesserungen zu erzielen.

Bei schweren Schäden gibt es unterschiedliche Operationsmethoden und gerade bei übersehenden Schließmuskelschäden ist es wichtig, dass man sie früh genug entdeckt. Allen Schwangeren jedoch rate ich dringend zu einer Berufsunfähigkeits- und Rechtschutzversicherung vor der Geburt.

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9 comments

  1. Mein „Unterboden-Bereich“ ist nach einer Geburt mit Kristeller und Saugglocke ebenfalls reichlich lädiert, was für mich mit zahlreichen Langzeitfolgen verbunden ist, die alle recht unschön sind. Allerdings war es bei mir so, dass ich mich unter der Geburt toll und einfühlsam betreut gefühlt habe. Die bei der Entbindung federführende Ärztin debattierte mehrmals laut mit sich selbst, ob sie nicht lieber einen Kaiserschnitt machen solle. Sie hat sich dann dagegen entschieden. Tatsächlich war es für mich sogar so, dass ich den Kristeller als total tolles Teamwork erlebt habe, es war für mich eine richtiggehend positive Erfahrung. Die Probleme, die ich heute habe, verbuche ich als „Pech gehabt“. Ich bin sehr unschlüssig in Bezug auf die Frage, ob ich mich nicht mal in einem Beckenbodenzentrum untersuchen lassen möchte. Vielleicht könnten einige meiner Schwierigkeiten gelindert werden, andererseits käme ich dann in eine Patientenrolle hinein, auf die ich keine Lust habe, müsste ständig auf Termine warten etc.
    Meine Probleme stören mich phasenweise sehr und sind im Alltag ständig präsent. Wünschen würde ich mir einen offeneren und ehrlicheren Austausch unter Frauen. Ich habe keine Ahnung, mit was für Folgeproblemen von Entbindungen meine Freundinnen zu tun haben. Ob sie überhaupt welche haben. Gibt es das? Gibt es Frauen, die mehrere Kinder vaginal entbunden und hinterher gar keine negativen Veränderungen oder Problemen haben? Das höchste der Gefühle ist, wenn mal eine einräumt, dass beim Joggen „ab und zu mal ein Tröpfchen abgeht“.
    Wahrscheinlich sollte ich selbst anfangen mit der Ehrlichkeit. Aber: Will das jemand hören – über Harn- und Stuhlinkontinenz, Pupse, die nicht mehr gehalten werden können (und damit einher gehende peinliche Situationen), Tampons, die aufgrund schmerzhaften Verrutschens für mich nicht mehr in Frage kommen, etc. etc.? Und will ich die Frau sein, die anderen mit ihren Gruselgeschichten Angst macht? Nein. Tja, so bin ich eben still und trage damit auch nicht zu dem offeneren Gesprächsklima bei, das ich mir eigentlich wünschen würde.
    Ich weiß, dass ich in Bezug auf Frauen mit ähnlichen Erfahrungen wahrscheinlich noch „Glück gehabt“ habe, weil die Entbindung für mich positiv besetzt ist und ärztlicherseits keine definitiven „Fehler“ passiert sind. Ich fühle sehr mit allen, die zusätzlich zu den wirklich ätzenden Langzeitfolgen auch noch eine schwierige oder womöglich traumatisierende Geburtssituation hatten.

  2. Auch meine Mutter hat in Bielefeld eine schweren Beckenbodenschaden erlitten, als sie ihr 5kg-Kind rauspressen musste. Sie wurde danach nochmal operiert, Einschränkungen blieben.
    Ich habe „zum glück“ einen nnotkaiserschnitt gehabt – dass das ein glück war, wurde mir erst 7 Wochen später bewusst, als ich bei einem Laufwettkampf über 5km gewann und alle beeindruckt waren, wie ich sieben Wochen nach der Geburt Wettkämpfe laufen konnte. Da ist mir erst bewusst geworden, dass andere Frauen nicht 2 Tage nach der Geburt beckenbodentraining machen können und nach einer Woche normal spazieren gehen.
    Die fehlende Aufklärung bzgl. Vorteilen eines Kaiserschnitts (auch unter den Geburtshelfern selbst) in Deutschland ist wirklich traurig.

    1. Hallo Lisa, ich gönne Dir diesen tollen Verlauf. Ich persönlich kann nur sagen, dass ich mich nach meinem Kaiserschnitt nach Geburtsstillstand wie vom Bus überfahren fühlte, obwohl die OP und auch die Heilung wie am Schnürchen lief. Ich hatte lange Schwierigkeiten wieder eine komplett aufrechte Körperhaltung einzunehmen. Meine zweite spontane Geburt war da viel unkomplizierter. Trotzdem bin ich natürlich dankbar, für den Kaiserschnitt, aber wie es einer Frau nach der Geburt geht – egal wie sie ihr Kind bekommt – ist so unterschiedlich, dass man nicht von sich auf andere schließen kann, nicht mal in bester Absicht.

    2. Auch ohne Geburtsschäden sollte frau keine Läufe so kurz nach der Geburt machen!! Das Gewebe, die Bänder, nichts davon hat sich ausreichend zurückgebildet. Schäden können verzögert auftreten. Ich empfehle dringend, dem Körper mindestens ein Jahr Zeit zu geben, bevor man mit sogenannten High Impact Sportarten wieder einsteigt. Dazu gehört auch schon leichtes joggen!

    3. liebe Lisa,

      ich hatte auch einen Kaiserschnitt, aber 5 km laufen 7 Wochen nach der Geburt hätte ich nicht geschafft. finde auch nicht, dass das repräsentativ ist.

    4. Um Himmels Willen, das kann man doch nicht so stehen lassen! Liebe Lisa, ich denke jede Frau gönnt dir von Herzen dein Gefühl 7 Wochen nach Geburt schon so unterwegs zu sein. Aber bitte, liebe werdende und gerade frisch gebackene Mamas die hier möglicherweise mitlesen: nehmt euch das nicht zum Vorbild! Weder Bänder noch sonstwas sind so kurz nach einer Geburt in der Lage ein Training unbeschadet zu überstehen. Es besteht die große Gefahr, dass sich das zeitverzögert – mitunter erst nach den Wechseljahren – mit Beckenbodenschwäche o.ä. rächt. Kein massives joggen, kein Trampolinsport, kein Gewichtheben so kurz nach der Geburt, bitte nehmt euch das zu Herzen!

    5. Lisa
      Das sind die Mütter mit denen sich keiner abgeben mag. Dir sei alles gegönnt, die medizinische Wahrheit ist allerdings das nach Sectio der Rückbildungskurs erst später besucht werden darf als nach Spontangeburt. Und Sectio ist eine große OP. Und, eine Kommentatorin sagte es richtig, die Rückbildung der Muskeln, Bänder, Sehnen… in den üblichen “ festen“ Zustand dauert Monate. Länger als eine Schwangerschaft. Da könnten Hebammen und andere Fachleute Dich korrigieren. ( und wie mickrig ist das Ego um gleich mal allen Neumuttis mit dem duxxen Geprolle was einzureden?)

  3. Ich kommentiere sonst eigentlich keine Beiträge, aber schon der erste Bericht hat mich enorm getriggert. Denn ich habe auch einen Schließmuskelschaden während der ersten Geburt erlitten, weil von medizinischer Seite falsche Entscheidungen getroffen wurden. Die Umstände und gesamte Geschichte waren für mich ebenfalls sehr traumatisch und mit den Folgen werde ich mein Leben lang zu tun haben, auch wenn sie längst nicht so schwer und belastend sind wie hier. Das große ABER steckt aber im Verhalten der Klinik und zuständigen Ärzte. Natürlich wurde nie ein Fehler zugegeben, aber ich wurde von Anfang an respektvoll und empathisch behandelt, wurde nie abgewimmelt oder allein gelassen, immer haben mich Ärzte mit der besten Expertise behandelt oder entsprechend überwiesen. Das macht so enorm viel aus und ich kann sagen, dass ich trotz allem „fein“ damit bin. In der gleichen Klinik und bei den gleichen Ärzten sind später meine beiden anderen Kinder (per geplantem Kaiserschnitt) zur Welt gekommen und auch damit ist vieles wieder heil geworden. Darum der Appell an alle, die in der Geburtshilfe arbeiten: Fehler passieren, aber euer Verhalten kann trotzdem so viel positiven Einfluss auf die Verarbeitung und (in meinem Fall auch körperliche) Heilung haben!

    Alles Gute für Jutta und jede andere, die mit einer schweren Geburt zu kämpfen hat!

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