Mein Kind sitzt im Rollstuhl und das hat unser aller Leben sehr verändert

Rolli

Liebe Nicole, heute geht es um dein drittes Kind, das im Rollstuhl sitzt und entwicklungsverzögert ist. Wann ist Euch zum ersten Mal aufgefallen, dass er sich anders entwickelt, als andere Kinder?

Mir ist es schon sehr früh aufgefallen, etwa im Alter von 3 Monaten. 

Was ist die genaue Diagnose und wie lang hat es gedauert, bis Ihr sie hattet?

Unser Jüngster kam in der 29.SSW zur Welt und hat am 3. Lebenstag eine Hirnblutung erlitten, eine recht häufige Komplikation bei so kleinen Frühchen. Eine richtige Diagnose, wie wir sie heute auf Rezepten stehen haben, haben wir nie ins Gesicht gesagt bekommen. Im Prinzip sind wir in die Diagnose irgendwie reingewachsen. Schwierig zu beschreiben, da Entwicklungsverzögerungen aufgrund von Hirnblutungen so vielfältig sind. 

Erzähl uns gerne mehr über deinen Sohn.

Unser Kind ist heute 7 Jahre alt und motorisch auf dem Stand eines 10 Monate alten Kindes, sprich er kann krabbeln und mittlerweile auch kurz frei sitzen (er fällt leider irgendwann um).

Er kann sich wahnsinnig gut mit seinem Rollstuhl bewegen. Da wo andere Kinder in Pfützen springen, fährt unser Kind mit einem Affenzahn durch, blockiert die Räder, dreht sich im Kreis und hat einfach so richtig viel Spaß dabei. Sein größter Traum ist es, einmal beim WCMX mitzumachen (skaten im Rollstuhl).

Er ist jetzt 7 und die Schere zu anderen Kindern in seinem Altern klafft immer weiter auseinander. Er kann mittlerweile gut sprechen, aber Gespräche mit ihm sind sehr schwer, da er sich fast gar nicht konzentrieren kann und die Frage quasi sofort wieder vergessen hat. Nichtsdestotrotz schnattert er den ganzen Tag und dafür bin ich (meistens 😊 ) sehr dankbar. Er hat in den letzten Jahren wirklich tolle Fortschritte gemacht, was wir anfangs nie gedacht hätten. 

Wie war die Erkenntnis für dich, dass dieses Kind immer mehr Betreuung brauchen wird, als die Großen?

Das wird uns erst im Laufe der Jahre bewusst. Es ist ein Prozess, der nicht endet. Und dieser Prozess ist anstrengend. Er ist sehr anstrengend. Es ist traurig, es macht Angst. Angst vor der Zukunft. Was ist, wenn wir nicht mehr sind. Was ist nach der Schule. Was ist, wenn…

Ja, ich habe auch öfter mit der Entscheidung, ein 3. Kind bekommen zu haben, gehadert. Wir lieben dieses Kind alle von ganzem Herzen, aber es ist einfach verdammt anstrengend. Durch so eine Behinderung wird das ganze Leben wie man es kannte, auf den Kopf gestellt und wir sind alle seitdem eingeschränkt.

Seid Ihr unterschiedlich mit dieser Erkenntnis umgegangen?

Wir haben in den letzten 7 Jahren viele, sehr viele Federn gelassen. Mein Mann hat deutlich länger gebraucht, um die Behinderung unseres Kindes annehmen zu können. Jeder geht einfach anders mir sowas um und einige brauchen auch professionelle Hilfe.

Als Paar gab es uns lange nicht. Wir haben lange Zeit nur funktioniert. Während ich das schreibe, kullert so mache Träne, weil es einfach weh tut, das zuzugeben.

Gerade sind wir dabei uns als Paar wiederzufinden. Ich hoffe sehr, dass wir es schaffen zwischen Pflege, Schulkindern, Arbeit. Seit Corona sind wir sehr auf uns alleine gestellt. Vorher hatten wir mal Zeit Luft zu holen, wenn Therapien anstand oder die Schule. Nun ist vieles nicht mehr möglich, wie sind alle ständig zu Hause, das zehrt sehr an uns.

Wie gehen die großen Geschwister mit dem kleinen Bruder um?

Unsere Mittlere liebt ihren kleinen Bruder sehr. Unser großes Kind (Teenager) ist oft unsicher und auch genervt, da unser Jüngster wirklich sehr fordernd und laut ist. Nichtsdestotrotz sind alle 3 toll zusammen und ohne seine großen Geschwister wäre unser Kind heute nicht da wo er ist. Geschwister können sehr motivierend sein.

Welche Förderungen bekommt Euer Kind normalerweise?

Er bekommt Physio, Logo und Ergo. Da er eine Förderschule besucht, hat er sogar die Möglichkeit dort 2x/Monat Schwimm- und Reittherapie zu bekommen.

Momentan pausieren alle Therapien in der Schule und das merken wir leider enorm an seinen Beinen. Seit einer Woche machen wieder Physio in einer externen Praxis, da es ohne Therapien einfach nicht geht. Seine Spastik in den Beinen hat sich in den letzten Wochen enorm verschlechtert.

Inwieweit beeinflusst das alles Euren Familienalltag? 

Die Behinderung unseres Kindes beeinflusst unseren Familienalltag enorm. Unser ganzes Leben ist auf das Leben mit einem Kind im Rollstuhl ausgerichtet. Im letzten Jahr haben wir ein barrierefreies Haus gebaut, da wir in unserer kleinen Wohnung nicht bleiben konnten. Barrierefreie Wohnungen für 5 Leute? Gibt es quasi nicht.

In den Urlaub fahren oder Ausflüge machen? Wir sind eine recht sportliche Familie (gewesen) und wir lieben wandern, lange Fahrradtouren, Skifahren – aber mit einem Kind im Rollstuhl? Wir machen viel möglich und sind vor 2 Jahren durch den Harz gewandert, stoßen aber nun an unsere Grenzen. 30kg Kind plus Rollstuhl bekommt man eben nicht mehr einfach so den Berg hochgeschoben. Fahrradtouren? Müssen wir immer genauestens planen, da Berge einfach schwierig zu erfahren sind, genauso wie Waldwege. 

Die Realität sieht so aus, dass mein Mann (wenn möglich) mit den 2 großen Kindern allein in den Skiurlaub, zum Skifahren fährt oder Radtouren macht und ich mit dem Kleinen eben daheim bin.

Vielleicht hat ja hier jemand DIE Idee für uns? Das belastet uns schon sehr und ich habe oft ein schlechtes Gewissen den großen Kindern gegenüber, da wir manchmal nichts gemeinsam unternehmen können, was sie sich wünschen, da es eben unmöglich mit Kind im Rollstuhl ist oder sich das Programm am Rollikind orientiert. 

Was würdest du dir für dein Kind wünschen?

Mein größter Wunsch ist es, dass er weiterhin so selbstbewusst mit seinem Rolli durchs Leben rollt, wie er es jetzt macht und wir ihm dafür das nötige Selbstbewusstsein mit auf den Weg geben können. 

Was möchtest du anderen Eltern mit auf den Weg geben?

Eigentlich hört bzw. liest man ja dann meist, man wächst mit seinen Aufgaben und das wird schon. Aber nein, es wird nicht und es muss nicht werden. Man darf weinen, schreien, wütend sein. Man darf zweifeln und trauern. Trauern um das unbeschwerte Leben, das man sich ausgemalt hat. Man darf wütend sein auf alles und jeden. Man darf seinen gesamten Frust rausschreien und mit dem Leben hadern. Das mache ich oft, auch noch nach über 7 Jahren. 

Aber danach sollte man wieder voller Dankbarkeit auf das Zurückschauen, was man schon geschafft hat. Welche Herzen und Menschen man bewegt hat. Dass man tolle Kinder hat. Dass das Leben auch mit behindertem Kind sehr lebenswert und wertvoll sein kann. Und das Zweifeln normal ist.

Ja, das mag ich gern mit auf den Weg geben. Du musst nicht immer stark sein. Schwäche ist natürlich, authentisch, menschlich und gehört einfach zum Leben dazu. 

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8 comments

  1. Sehr geehrte Damen und Herren

    Hallo ich heiße Marika Hartfeld und bin 17 Jahr alt und was ich mich gefragt habe von welcher firma dieser Rollstuhl
    ist und wie das Modell heißt?
    Mit freundlichen Grüßen Marika
    Ich würde mich über eine Antwort freuen

  2. Hey, wir planen für unser Rolli-Kind, das alleine nicht verkehrssicher Fahrradfahren kann, ein Follow-Me (Fahrradkupplung) für das Reharad (Momo von Schuchmann). Dazu für den Erwachsenen ein E-Bike und unsere Touren werden länger. Alternative wäre ein Fahrradanhänger and E-Bike des Erwachsenen.

    Für Rollis gibt es elektrische Schiebehilfen. Dann sollte auch das Wandern mit Gewicht möglich sein. Vorausgesetzt man kriegt das ganze Zubehör ins und aus dem Auto, das ist meist sauschwer und irgendwann braucht man einen Lifter nur für das Zubehör…

    Es ist traurig und anders, aber es ist auch schön und anders und dann ist es auch einfach so wie es ist. Ihr seid mit allen Problemen nicht allein.

    Alles Liebe A.

  3. Meine Schwester ist auch behindert und meine Eltern haben einen Rollfiets für sie, sodass wir immer gemeinsam unterwegs sein konnten

  4. Liebe Nicole, ein kleiner Tipp für ein paar Tage oder Wochen Erholung: das Kinderhospiz Mitteldeutschland in Tambach-Dietharz bietet Familien mit pflegebedürftigen Kindern die Möglichkeit auch mal die Verantwortung abzugeben und zu entspannen. Dort kann die ganze Familie eine unbeschwerte Zeit verbringen, während sich die Mitarbeiter um euren Kleinen kümmern. Und die Leute vom Hospiz sind wirklich supernett. Fragt doch dort mal an oder vielleicht gibt es solch eine Einrichtung auch in eurer Nähe.

  5. hallo,
    ich möchte euch noch den Rat geben, die euch zustehenden Gelder wie Verhinderungspflege, zusätzliche Entlatungsleistungen auch zu nutzen.
    natürlich behebt das nicht das Problem an sich, aber so könnt ihr als Elternteil mal etwas gemeinsam mit den größeren Kindern übernehmen, ohne dass es ein finanzielles Fiasko mit dem Babysitter wird.
    Alles Gute!

  6. Guten Morgen, ich kann deinen Bericht so gut nachvollziehen. Mein Kind ist etwas mobiler, aber auch wir können unsere gewohnten Sportaktivitäten nicht mehr so ausleben. Allerdings fahren wir z.B. Alle indie Berge zum wandern. Und wenn es nicht mehr geht, wandert ein Teil der Familie noch alleine weiter und man trifft sich dann Nachmittags wieder. Wir können zwar keine Alpenüberquerung machen ohne zu großen Stress zu haben, aber wir haben bisher noch für alles eine Lösung gefunden, so dass eigentlich keiner zu kurz kommt.Mich belastet am meisten, dass Kinder mit Behinderung es oft schwer haben Freunde zu finden und auch meistens nicht alleine bei anderen Kindern bleiben können. Zeitliche fressen die Therapie Wahnsinnig viel Zeit auf – dadurch kommen die Geschwister Kinder eher mal zu kurz. Ich wünsche dir ganz viel Kraft und liebe Grüße P.S. Mit dem richtigen Fahrrad sind bei uns auch lange Fahrradtouren fast ohne Einschränkungen möglich. Schaut mal bei Hasebikes oder vanram

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