Ihr Lieben, manchmal schreiben uns Leserinnen, dass sie „da jemanden kennen“, der oder die ganz spannend für einen Beitrag bei uns sein könnte. Und dann ergeben sich Geschichten wie diese hier von Marianne Gröschl, die ihren 14jährigen Sohn vor 25 Jahren durch einen Unfalltod verlor und nun dafür kämpft, dass Alkohol am Steuer verboten wird. Eine andere Leserin hatte uns auf ihr Schicksal aufmerksam gemacht – und ihre Worte hallen nach.
Liebe Frau Gröschl, Sie haben Ihren Sohn durch einen Unfalltod verloren, wie viele Jahre ist das nun her?
Im November 1997, also vor genau 25 Jahren, passierte der folgenschwere Unfall auf der Westautobahn bei Pöchlarn in Niederösterreich. Ein Mann raste mit seinem Auto in den vollbesetzten Kleinbus der Badener „Black Jacks“ Basketballer, die auf dem Weg zu einem Turnier waren. Drei Jugendliche haben den Unfall nicht überlebt. Mein Sohn Christian und seine Freunde Marton und Axel.
Wie alt war Ihr Sohn, als es passierte, was war er für ein Mensch, beschreiben Sie ihn gern mal ein bisschen.
Nichts könnte mir mehr Freude bereiten, als diese Frage! Mein Sohn Christian war damals genau 14 und ein halbes Jahr alt. Das habe ich jetzt bewusst so geschrieben, weil ich finde, jeder Tag zählt. Ich gebar ihn an einem 21. Mai.
So konnte er in diesem letzten halben Jahr seine Konfirmation feiern, noch an einer Hochzeit von Freunden auf der Burg Rieneck in Deutschland teilnehmen, Cousin und Cousine in Graz besuchen, ein positives Zeugnis entgegennehmen, einen Familienabenteuerurlaub in Australien genießen.
Außerdem zwei Wochen Englischcamp in der Steiermark ausprobieren, einen Tag mit Freunden am Neusiedler See segeln, viel Zeit mit seinen Pfadfinderfreunden verbringen und das Scoutissimo mitspielen, das „Gasslfest“ seines Gymnasiums besuchen, seine Onkel und Tanten wiedersehen und Zeit beim Training und bei Matches in der Landesliga mit den Freunden vom Basketballverein investieren, um nicht nur Spaß zu haben, sondern auch gemeinsame Erfolge bejubeln zu können.
Das klingt schön…
Ja, all das beschreibt meinen hübschen 😉, lockigen, blauäugigen, schlanken, so großen – dass er auf seine Mama schon runterschauen konnte –, sonnigen, lustigen, oft witzigen, doch auch ruhigen, manchmal mutigen und dann wieder unsicheren, geselligen, musischen, sportlichen, Anfangspubertären, bereits verliebten („…Mama, in einer Woche werde ich eine Freundin haben. Ich frage sie am Wochenende, ob sie meine Freundin sein will und mit „mir gehen möchte“, erst dann kann ich´s dir mit Gewissheit sagen“), beliebten und geliebten Christian.
Auch seine Freunde nahmen ihn als diesen lebensfrohen jungen Mann war…
Ja, schade, dass er das „Nachrufen“ seiner Freunde nicht mehr hören kann, die Folgendes in einer Zeitung schrieben: „…er war immer guter Laune und wir haben viel mit ihm erlebt und dabei Spaß gehabt. Computer und Basketball gespielt, gelernt, die Pfadfinder besucht, sind ins Kino gegangen, haben Videos ausgeborgt, Tischtennis gespielt, ein Baumhaus gebaut, Städte besichtigt, Leute geärgert, indem wir sie mit Wasserpistolen bespritzt haben. Er hätte gerne einen Husky gehabt und wäre gerne um den Neusiedler See geradelt.
Es fällt uns schwer die richtigen Worte zu finden, denn wir mochten ihn, wie er war. Er war unser Christian, auf den wir uns immer verlassen konnten, mit dem wir gut reden konnten, auch wenn wir ihn mit langwierigen Geschichten quälten, und teilten unsere Meinungen. Die Welt kommt uns jetzt ohne dich leer und ungerecht vor. Wir sehen erst jetzt, wieviel du uns bedeutet hast. Wir vermissen dich.“
Das war jetzt nicht nur ein bisschen eine Beschreibung, ich habe mich auf das ‚gerne“ gestürzt und ein bisschen MEHR geschrieben. Danke, dass ich das darf!
Teilen Sie Ihr Leben seit seinem Tod in ein Vorher und ein Nachher ein?
Total! Ein Phänomen, das sofort eintrat und immerwährend fortdauert. In meiner biografischen, zeitlichen Historie gibt es tatsächlich nur diesen Fixpunkt. Nicht eingebrannt, sondern wie eingefroren.
Erinnern Sie sich an Ihren letzten Moment mit ihm? Sind Sie diesen Moment immer und immer wieder vor Ihrem inneren Auge durchgegangen?
Ja.
Er kommt mit befüllter Basketballtasche federnden Schrittes die Treppe herunter, zieht seine Schuhe an, während ich neben ihm stehe, er streift sich seine Jacke über, wir umarmen uns – während ich das schreibe, spüre ich förmlich die Größe und Wärme seines Körpers, ich frage, ob er alles mit hat, was er braucht (typisch Mama und total unnötig) – „Geh Mamaaa, eh klar!“ – wünsche ihm alles Gute fürs Turnier, „am Sonntag bin ich ja wieder da“, ich begleite ihn aus dem Haus, mein Mann ist bereits mit dem Auto vorgefahren, er stellt die Tasche auf den Rücksitz, öffnet die vordere Tür, setzt sich neben seinen Papa und winkt mir grinsend, ein letztes Mal, zu. Er hat sich auf das Turnier und die Gemeinschaft mit den Basketballern gefreut.
Wie haben Sie von dem Unfall erfahren und was waren Ihre ersten Gedanken? Waren Sie wie in einer Art Trance?
Freunde, deren Sohn ebenfalls im Bus saß, informierten uns. Es war rund um Mitternacht.
Mir wurde sofort übel. Der erste Gedanke war, wir müssen ihn finden und ich muss sofort zu ihm. Als endlich ein Mitarbeiter der Autobahnpolizei bereit war, uns Informationen zu geben, konnte ich die Frage nach seinen Schuhen nicht beantworten. War wie ein Blackout. Ich war sofort in innerer Panik. Als er fragte, hat ihr Junge lockiges Haar? Da wusste ich, es könnte mein Sohn sein.
Auf der langen Fahrt ins Krankenhaus, dachte ich fortwährend: hoffentlich ist er es nicht! Mir war extrem übel, wir fuhren durch die Dunkelheit, ich hatte kein Zeitgefühl, unsere Tochter döste auf der Rückbank vor sich hin, ich hätte mich zu ihr auf die Rückbank setzen sollen, aber mein ganzes Denken war nach vorne gerichtet, auf das dunkle Ungewisse, das uns erwarten würde. Ich war nicht wie in Trance, ich weiß jedes Detail, das Gesehene ebenso wie das innere Erleben. Es fühlte sich eher an wie ein real gewordener Albtraum.
Bei plötzlichen Krisen, wo ein geliebter Mensch betroffen ist, werde ich anfangs immer hochkonzentriert. Der Zusammenbruch kommt erst – danach. Aus der Retrospektive erst könnte ich es dann wie in Trance nacherzählen.
Wann und wie begann bei Ihnen der Prozess des Verstehens, des Realisierens?
Als der Primarius, Chefarzt der Intensivstation, uns über die Schwere der körperlichen Schädigung informierte. Dann step by step, als ich Worte für die Parte finden sollte, das ist der österreichische Sprachgebrauch für eine Todesanzeige (kommt aus dem franz. faire-part), dann als ich das Totengewand auswählen sollte, die Sporttasche von einem Mitarbeiter des Roten Kreuzes ausgehändigt bekam, seine Schuhe unverändert immer am selben Platz stehen blieben in der Garderobe, ich Wäsche aus der Waschmaschine nahm, mit seinen T-Shirts, ich den Adventkalender an jedem zweiten Tag, statt mit einer Kleinigkeit, mit einer kleinen zusammengerollten Botschaft an ihn, behängte;
sein unbewohntes Zimmer, in das ich mich immer wieder schlich; ein Weihnachtsbaum für mich unerträglich schien und ich eine andere Lösung fand, die Herausforderung der Gestaltung der Grabstätte, der erste Winterurlaub ohne ihn, die Klassenfahrt seiner Schulkollegen, bei der er nicht mehr dabei war, erster Sommerurlaub ohne ihn und der unbeschreibliche Schmerz, der mir den Atem nahm und mich schlussendlich erkranken ließ. Ausschließlich die Bewusstheit und Liebe zu meiner Tochter hielt mich anfangs am täglichen Lebensrhythmus.
Wie hat sich Ihre Trauer über die Jahre verändert? Was hilft Ihnen, was ärgert Sie aber vielleicht auch?
Am hilfreichsten waren mir liebevolle Menschen, die einfach nur da waren. Mich weinen ließen, wenn ich weinen musste, mich schweigen ließen, wenn ich schweigen wollte, mir von meinem Sohn ihre Erlebnisse erzählten, mich in meinem Tempo meine Trauer bewältigen ließen, mich in den Arm nahmen.
Obwohl es davon einige gab, fühlte ich mich anfangs unsagbar einsam. Ein innerer Balanceakt zwischen Lebendigsein und Todessehnsucht und Wiedervereinigungswunsch (was für ein langes Wort, das würde Christian jetzt sagen. Das nehmen wir nächstes Mal beim Wortratespiel!).
Und das ist schon der Schlüssel für meinen Prozess der Bewältigung und Integration des Traumas. Ich habe meinen Sohn in das reale Leben integriert. Nicht krampfhaft, festhaltend, sondern so, wie der Gedanke, der Impuls, der Wunsch oder whatever… kam.
Wie meinen Sie das?
Ich habe meine Erlebnisse auf meine Art verarbeitet: wie ich seine Dinge verschenkt habe, wie ich meine Gedanken in Gedichte formte, Bilder malte, CDs mit in Worte und Musik gegossenen hilfreichen Impulsen zusammenstellte, mich neuen Herausforderungen stellte.
Und wenn ich etwas Neues in mein Leben aufgenommen oder integriert hatte, erzählte ich meinem verstorbenen Sohn mittels innerem Dialog oder manchmal auch laut – vor anderen – davon. Aus jedem Urlaub brachte ich ein kleines Steinchen mit, das dann auf unserem Ofen seinen Platz gefunden hat. Nachdem wir sein Aquarium nach vielen Jahren doch auflösten, veränderte ich mein zuvor tägliches morgendliches Begrüßungsritual mit ihm, über das Füttern seiner Fische, und ersetzte es durch Anschlagen eines Klangspieles. Mittlerweile machen das meine beiden Enkeltöchter, 7 und fast 5 Jahre alt, 😉 auch und sagen dabei: Hallo, Chrisy!
Was hat Sie anfangs vielleicht auch mal verärgert?
Was mich anfangs geärgert hat, beschreibe ich ganz kurz in meinem Buch. Was ich traurig finde ist, dass Ehen sich stark verändern bei Verlust eines Kindes und auch Scheidungen häufig vorkommen. Die unterschiedliche Intensität der Traurigkeit – und die ist geschlechtlos – trennt manchmal.
Bei mir und meinem Mann war es glücklicherweise noch verbindender als vorher. Einerseits liegt das an ihm und seiner Liebe zu mir. Andererseits habe ich eine weitere Ausbildung begonnen und bin Psychotherapeutin geworden. Hier konnte ich mir zusätzliches Wissen aneignen und im Laufe meines beruflichen Wirkens Menschen auch durch deren Trauerphasen begleiten.
An welchem Ort und in welchen Momenten fühlen Sie sich Ihrem verstorbenen Sohn am ehesten verbunden?
Für mich gibt es keinen äußeren Ort. Ich beschreibe in meinem Buch sehr genau, wo ich meinen Sohn jederzeit finden kann. Wenn ein Jugendlicher in einem Ringelshirt vor mir steht, dann kommt manchmal ganz impulsiv gleichzeitig ein Schmerz und große Freude. Christian liebte Shirts mit Ringelstreifen.
Und ich hab seit 25 Jahren sein Mountainbike. Wenn vor mir jemand langsam fährt und ich zu einem Überholmanöver ansetze, dann gleitet mir wirklich fast jedes Mal ein Lächeln über das Gesicht. Und ich sage innerlich, still, zu ihm:
Chrisy, den überholen wir jetzt! Ich trete in die Pedale, höre das satte Geräusch der Reifen auf dem Asphalt und erinnere, wie er mich, mit meinem Rad mit Dreigangschaltung, vor vielen Jahren mit seinem neuen, vielgängigen Scott-Rad grinsend überholt hat und meinte: Schaffst du`s, Mama?
Der Unfallverursacher war zum Zeitpunkt des Aufpralls stark alkoholisiert. Sie engagieren sich darum sehr für eine Don´t drink an drive-Mentalität. Was konnten Sie da bislang bewirken und inwiefern hilft Ihnen das bei der Verarbeitung?
Konnte ich bislang etwas bewirken? Eine schwierige Frage. Bislang. Jene, die mein Schicksal kennen und mit mir unterwegs sind, steigen nicht alkoholisiert in ein Auto. Das ist schon etwas. Ich spreche darüber und mache es zum Thema. In der Hoffnung, gehört zu werden.
Ich konnte nicht mit Alkoholiker*innen psychotherapeutisch arbeiten. Sie habe ich in eine Beratungsstelle weiter empfohlen oder Platz bei einem Kollegen oder einer Kollegin geschaffen. Und natürlich tauchte das Thema manchmal auch auf, ohne dass es anfangs im Vordergrund stand. Dann kam es schon vor, dass ich darauf hinwies, welches Leid man verursachen kann.
Aktiv habe ich Menschen angesprochen: Sie fahren aber jetzt nicht mehr mit dem Auto, oder? Um sie in die Eigenwahrnehmung zu bringen und auf ihre Verantwortung hinzuweisen. Menschen, die ihren Tag mit Cannabisrauchen ausklingen lassen und dann nach Hause fahren, habe ich auch darauf hingewiesen, dass jede Droge die Wahrnehmung, Reaktionsfähigkeit und Selbsteinschätzung verringert.
Bei der Verarbeitung hilft mir das nicht. Ich empfinde eher eine Stellvertreterposition für jene, die nicht mehr sprechen können, weil sie tot sind.
25 Jahre nach dem Tod Ihres Sohnes haben Sie auch ein Buch zum Thema geschrieben, es heißt Don´t drink and drive. Inwiefern hat Ihnen das Aufschreiben nochmal geholfen?
Die Entscheidung ein Buch zu schreiben und es dann auch zu veröffentlichen war ein langwieriger Prozess. Ich musste fünf Tage in einem Krankenhaus verbringen, mein Herz hatte eine kurzfristige Entgleisung. Mit der Bewusstheit, wieder an einem Punkt zu sein, wo das Leben von Jetzt auf Gleich vorbei sein könnte, dachte ich nach, welche Herausforderung ich mir noch stellen könnte. Ich wollte meinen Enkeltöchtern noch ein Buch über das Aufwachsen in einem Dorf schreiben, das sich von ihrem Leben in einer Stadt unterscheidet.
Da erzählte mir die Zimmerkollegin im Krankenhaus von zwei jungen Burschen, die ins Nachbardorf zu einem Zeltfest gefahren waren, viel getrunken hatten und beschlossen, zu Fuß nach Hause zu gehen. Großartig! Wenige Meter vor der Ortstafel ihres Heimdorfes wurden sie von einem betrunkenen Alkolenker niedergemäht und starben beide am Unfallsort.
Diese Schilderung ließ eine Woge der Wut in mir aufsteigen, aufgestaute Energie, die ich kanalisieren musste. Ich entschloss mich, ein ganz kleines, dünnes Büchlein mit wenigen kurzen Geschichten über maximal drei Seiten zu schreiben. Damit auch WENIGLESER*INNEN hineinschauen und an den Zeilen vielleicht hängen bleiben.
Meine Geschichte ist dabei nur der Rahmen für meinen Appell: DON`T DRINK & DRIVE. (Danke, dass Sie mich in Ihrem Blog dabei unterstützen!) Das hilft mir und gibt mir Mut und Kraft, mich meinem Verlustschmerz immer wieder zu stellen und den drei Jungs – Marton, Axel und Christian – in meiner Vorstellung zuzurufen: Ihr habt gelebt und euer Tod steht für die Unverantwortlichkeit, alkoholisiert Auto zu fahren. Wissend, dass man dadurch Menschenleben in Gefahr bringt.
Was möchten Sie anderen Müttern mit ähnlichen Schicksalsschlägen mit auf den Weg geben?
Ich stehe da als „Überlebende“ und in dem Wort steckt schon das Wichtigste drinnen: Leben. Sich wieder dem Leben, dem Belebenden, Bereichernden und vor allem der Liebe zuzuwenden. Liebe zu sich selbst, fürsorglich, um sie dann an andere zu verschenken.
3 comments
Ich habe mal in einem Buch einen schönen Satz gelesen: „vielleicht sollte man ein Leben nicht in Jahren, sondern in Liebe messen“. Ich finde, besser kann man es nicht sagen und versuche mir diesen Gedanken immer in Erinnerung zu rufen, wenn ich an meinen Bruder denke, den ich vor ziemlich genau 25 Jahren in einem sehr jungen Alter verloren habe. Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Kraft.
Wenn man das liest und wie ich selbst einen 14jährigen Sohn hat wird einem ganz anders. Dennoch ein toller Beitrag, denn nichts ist wichtiger als die Verstorbenen in der Erinnerung weiterleben zu lassen und einer trauernden Mama die Gelegenheit zu geben über ihr Sternenkind zu sprechen. So sind sie für immer bei uns , gerade die, die viel zu früh gegangen sind..
Ich hatte auch einen großen Bruder… auch er ist 12 Jahre schon nicht mehr da, aufgrund eines nicht selbst verschuldeten Autounfalls, ob Alkohol mit im Spiel war weiß ich bis heute nicht , aber es kann gut sein.
Viele Grüße und viel Kraft weiterhin.
Viel Kraft weiterhin! Nur bitte, dass Menschen unterschiedlich trauern bedeutet NICHT weniger intensiv zu trauern. Da urteilt man nicht über Andere, Trauer fühlt jeder auf eigene Weise! Das klingt sehr anmaßend ( jemand trauert nicht stark genug?).