Familienberaterin: „Eltern dürfen auch mal richtig aus dem Hemd fliegen“

Jugendlicher

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Ihr Lieben, in diesen krassen Lebensphasen mit sooo viel Zeit zusammen mit den Kindern, sind Menschen wie Inke Hummel Gold wert.

Die Bonnerin ist nämlich nicht nur Mutter dreier Kinder und erfolgreiche Autorin (Miteinander durch die Pubertät für die Eltern und Der Mönkel und der geheimnisvolle Turm für die Kinder), sondern vor allem Elterncoach und Familienberaterin. Uns greift sie in diesem Inteview ein bisschen erziehungstechnisch unter die Arme. Danke dafür, liebe Inke!

Elterncoach
Inke Hummel. Foto: Jens Unglaube / Bad Honnef

Liebe Inke, du bist Familienbegleiterin und Elterncoach mit bindungsorientiertem Ansatz und wir fragen uns: Wirst du grad von Anfragen überrannt, weil viele Familien nicht mehr weiter wissen?

Ja, tatsächlich bekomme ich etwa seit Mai oder Juni letzten Jahres deutlich mehr Anfragen als sonst, habe leider auch Wartezeiten für Neuaufnahmen von Familien von 2-3 Monaten je nach Thematik und empfehle schon vielfach Kolleg*innen, damit den Eltern rascher geholfen werden kann.

Gibt es etwas, das alle Familien, die bei dir Hilfe suchen gerade eint?

Grundsätzlich sind es ähnliche Themen wie immer von Schlafberatung und Eingewöhnung über Fragen zum Umgang mit bestimmten Temperamenten beim Kind oder Ideen für den Umgang mit der eigenen Wut der Eltern.

All diese Probleme treffen aber nun natürlich auf ganz andere Voraussetzungen: Distanzunterricht, geschlossene Kindergärten, fehlende Vereinsarbeit, kein Kontakt zu Großeltern, Eltern im Homeoffice, kaum Unterstützung durch Babysitter, wegbrechende Netze, fehlender Raum für Selbstfürsorge bei den Eltern, diffuse Ängste bei allen Familienmitgliedern, ellenlange Wartelisten für Ergotherapeut*innen und Kinderpsycholog*innen… 

Puh, allein diese Aufzählung klingt schon nach viel…

Überall ist Überforderung bei gleichzeitig viel geringeren Möglichkeiten, Unterstützung zu bekommen. Und überall sitzt ein riesiges schlechtes Gewissen. Die Arbeit leidet, die Partnerschaft auch, an die eigene Gesundheit kann man kaum noch denken, weil man in freien Momenten nur schlafen mag.

Das Einkaufsverhalten lässt zu wünschen übrig, die Ernährung sowieso, die eigenen Eltern lässt man irgendwie im Stich. Das kleine Kind, das große Kind – keiner bekommt, was er braucht. Viele stehen einfach vor einem Berg und haben auch nicht das Gefühl, dass Entspannung greifbar ist.

Du sagst, ein gut geleiteter Perspektivenwechsel kann dazu führen, die Familienatmosphäre komplett zu verändern und zu entspannen. Kannst du uns da ein Beispiel nennen – bezogen auf unsere aktuelle Situation mit den Kindern, die grad rund um die Uhr zu Hause sind?

Ich sag’s wie es ist: Viele Themen kann ich mit meinen Familien im Moment nicht so angehen wie sonst, weil viele Ideen gerade nicht umsetzbar sind. Aber in manchen Punkten kann man sich doch noch entscheiden, und das ist nicht immer der optimalste Corona-Weg. Das macht es so schwer.

Aber wenn ich eine Familie habe, die mit mehreren Kindern und Job und vielleicht auch noch mit psychischen Themen belastet ist, muss ich mich eben manchmal zwischen Pest und Cholera entscheiden, wenn ich sonst alles ausgeschöpft habe: Corona-Risiko etwas höher oder Zusammenbruch der Familie?

Beispielsweise habe ich mit einer alleinerziehenden Mutter die Möglichkeit gefunden, Betreuungshilfe für ihr jüngstes Kind zu nutzen und einen flexiblen Babysitter in den Alltag zu integrieren, auch wenn es eine familienfremde Studentin mit hier und da anderen Kontakten ist.

Oder für ein Kind haben wir wegen der spät startenden Therapie erstmal Unterstützung durch eine Künstlerin organisieren können, die durch ihre Art auch schon eine Hilfe ist, dass das Kind sein Gefühlsthema besser angehen kann.

Wie kann ich damit umgehen, wenn sich mein Kind dem Distanzunterricht verweigert, wenn alles immer nur Kampf ist, wenn es den Familienfrieden bedroht?

Oh, immer wieder kommt es in den Gesprächen auch dazu, dass Eltern entdecken, was sie so ausbremst beim In-Beziehung-Sein mit den Kindern: die Angst vor der Relevanz der Schulnoten. Auch da kann man gemeinsam lockerer werden, Ängste angehen und überwinden, wirklich etwas verändern. Das sind oft sehr individuelle Geschichten und Lösungen.

Vielen hilft es dabei schon grundlegend zu hören, dass sie ganz und gar nicht allein sind mit einer schwierigen Lehrkraft, einem bockenden Kind, der vollkommenen Hilfslosigkeit, wenn man bei Physik oder deutscher Grammatik klug helfen soll.

Der Weg ist meist: lockerer werden / Ängste loswerden, Fokus auf die kindlichen Bedürfnisse beim Lernen, Fokus auf bestimmte Fächer, offene Gespräche mit den Schulen. Alles was hier über die Beziehungsebene hinausgeht wie Konzentrations- oder Motivationsthemen oder auch „Lernen lernen“ übergebe ich dann aber an versiertere Kolleg*innen.

Erste Hilfe bietet übrigens die Seite https://www.mit-kindern-lernen.ch mit viel Input rund um beziehungsstarkes Lernen.

Nun sind ja auch die Geschwister enger und öfter zusammen als sonst, bei uns kracht es da wirklich auch mal ordentlich, wie reagierst du bei deinen eigenen Kindern auf solche Situationen?

Ehrlich gesagt auch mit kürzerer Zündschnur als sonst, gerade wenn es passiert, während ich eigentlich dringend etwas fertig bekommen muss. Allerdings haben wir das Privileg von recht viel Platz und drei Kinder, die mit vielem relativ selbständig klarkommen und sich auch allein gut aus dem Weg gehen können, so dass sich selten Situationen ergeben, in denen sie übel zanken.

Ggf. bin ich in der Regel sehr pragmatisch und lösungsorientiert unterwegs: also erstmal auflösen (unter Umständen jeden in sein Zimmer bitten), dann Stück für Stück gucken, wer was braucht. Wenn es an irgendeiner Stelle immer wieder knallt, setzen wir uns zusammen hin und regeln den Verlauf grundsätzlich anders.

Für wie wichtig hältst du Rituale in diesen unsicheren Zeiten? Mir fallen Rituale immer schwer, weil ich sie auch schon mal als eingrenzend empfinde, aber vermutlich sind sie wahnsinnig wichtig für ein Gefühl der Sicherheit, oder? Hast du gute Ideen für sinnvolle Rituale in diesen Zeiten?

Aus den Beratungen heraus habe ich den Eindruck, dass sie allen ganz gut tun, den jüngeren Kindern in stärkerem Maße. Klare Tagesabläufe mit aufgehängten Plänen und das Einhalten von Ritualen, die sie zum Beispiel aus der Spielgruppe oder dem Kindergarten kennen sind da gute Dinge – viel Inspiration gibt es immer bei Susanne Mierau, z.B. hier zur Tagesstruktur im Homeoffice mit anwesenden Schul- und/oder Kitakindern/.

In einer Beratungsfamilie war auch das gemeinsame Kindernachrichtengucken und -besprechen ein wichtiger Fixpunkt, in einer anderen das gemeinsame Planen der warmen Mahlzeiten und damit auch des Einkaufs.

Bei uns sind es die gemeinsamen Mahlzeiten morgens und abends sowie wochenends das Rausgehen. So bleiben wir im Rhythmus, den Schule und Job erfordern, und auch im Miteinander, damit man rechtzeitig merkt, wenn es jemandem nicht gut geht, was den anderen bewegt usw.

Manchmal will ich einfach nur noch selbst auf den Schoß, hältst du auch das für normal? 😉

Total! Alle sehnen sich nach Umarmungen und einer Mama oder einem Papa, die bzw. der ihnen sagt „Ich regle das alles für dich, mein Schatz. Lehn dich zurück. Hier ist dein Marshmellow-Kakao!“ Ich finde das total logisch. Es sind einfach für uns alle mehr Aufgaben als sonst, die wir schlecht sortiert bekommen.

Und es gibt keinen Punkt X, zu dem wir die Tage herunterzählen können, um uns an diesem Countdown festzuhalten. Noch dazu ändert sich die Lage ständig und es kommen wieder neue, angstmachende Details dazu.

Man kann sagen, es ist alles irgendwie schaffbar, es gibt so viel Schlimmeres, durchatmen, weitermachen. Aber man darf auch sagen: „MICH trifft das gerade sehr, ich kann nicht durchatmen und weitermachen. Das reicht nicht mehr!“

Den extrovertierten Menschen fehlt ihr Ausgleich da draußen, den introvertierten fehlt die Pause zu Hause. Selbst wenn jemand es nur als minikleinen Stress wahrnimmt, ist es kontinuierlicher Stress. Das fordert.  

Am Freitag war bei mir im Homeschooling die Luft so raus, dass ich explodiert bin, es war zu viel. Ich brauchte dann am Sonntagabend, als die Sorge in mir hochzog, dass es ab Montag so explosiv weitergeht, ein schönes Erlebnis mit den Kindern. Irgendwas zwangloses, das uns niemand von außen aufgezwungen hat. Wir haben ihnen das dann genauso gesagt und einmal alle zusammen Karten gespielt. Das tat so gut. Kann auch das ein Schlüssel sein, ein Perspektivwechsel?

Genau das. Ein richtiger Cut. Dazu gehört oft ein kräftiges Aus-dem-Hemd-fliegen. Wichtig ist, dass man das als Stoppschild wahr- und annimmt, sich hinsetzt und echt umdenkt. Oft schafft man das alleine, und manchmal hilft es einfach, wenn von außen jemand mitguckt, weil man den Wald vor lauter Bäumen echt nicht sieht oder auch einfach nicht ausreichend Inspiration hat, die eingeschliffenen Wege noch mal neu zu denken.

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