Doktorspiele unter Kinder – bis wohin sind sie ok? Interview mit zwei Expertinnen:

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Ihr Lieben, Kinder sind neugierig – auch auf den eigenen und fremde Körper und Sexualität. Das ist richtig und wichtig. Wichtig dabei ist, dass gewisse Grenzen nicht überschritten werden. Welche das sind und wie man sein Kind stark macht, um sich gegen sexuelle Übergriffe zu wehren, haben uns Carmen Kerger-Ladleif (Erziehungswissenschaftlerin und Supervisorin, begleitet seit über 25 Jahren Menschen und Institutionen, die mit sexualisierter Gewalt konfrontiert wurden) und Ulli Freund (Referentin und Fachberaterin, Arbeitsschwerpunkte: sexuelle Übergriffe unter Kindern) verraten:

Irgendwann interessiert sich jedes Kind einmal dafür, wie der Bruder/Schwester/Freund/Freundin im Gentialbereich aussieht. In welchem Alter ist das typischer Weise und ist dieses Interesse wichtig?

Kinder sind von Geburt an sexuelle Wesen. Sie erleben ihren Körper mit allen Sinnen, sind spontan, neugierig und unbefangen. Eine Trennung zwischen Zärtlichkeit, Sinnlichkeit und Sexualität gibt es bei Kindern nicht. Doktorspiele, d.h. das neugierige Erkunden eines anderen Körpers und auch des eigenen ist Teil einer natürlichen Entwicklungs- und Entdeckungsphase und von Kind zu Kind verschieden ausgeprägt. Viele Kinder zeigen im Alter von ca. 3 Jahren ein verstärktes Interesse an genitalem Erkunden. Das sexuelle Erkunden mit Gleichaltrigen oder Geschwistern ist Ausdruck von Neugier, Körpererfahrungen und dem Versuch, sich einem Geschlecht zuzuordnen. In dieser Entwicklungsphase genießen Kinder Nacktheit und wollen wissen, wie sie in Mamas Bauch und auf die Welt gekommen sind. Die kindliche psychosexuelle Entwicklung ist ein Teil der Identitätsentwicklung.

Stichwort "Doktorspiele" – bis wohin sind sie ok – und wo wird die Grenze überschritten?

Sexuelles Erkunden, Neugier und sog. Doktorspiele sind so lange in Ordnung, wie sich die beteiligten Kinder einig sind und – das ist das Wichtigste – in einem Verhältnis zu einander stehen, wo Einigung möglich ist. In Situationen, wo ein älteres Kind oder ein Kind, das den Ton in einer Kindergruppe angibt, anderen sagt, was sie zu tun haben, ist Einigung nur schwer möglich.

Wer sollte so mutig sein und einem überlegenen oder stärkeren Kind widersprechen? Das bedeutet, dass wir von sexuellen Übergriffen dann sprechen, wenn Kinder sich nicht wirklich freiwillig daran beteiligen, wo Druck, körperliche Gewalt, Manipulation, Überredung und häufig auch Bestechungen eingesetzt werden. Und das ist oft dann der Fall, wenn Machtgefälle zwischen den beteiligten Kindern bestehen und ausgenutzt werden. Ein Machtgefälle ist oft allein durch das Alter und die damit verbundene körperliche und kognitive Überlegenheit gegeben. Aber auch andere Aspekte spielen eine Rolle: Wer ist besonders beliebt und wer nicht? Wer tut „alles“, damit andere Kinder sie oder ihn mitspielen lassen? Wessen Eltern sind so „mächtig“, haben vielleicht beeindruckende Berufe wie Polizist oder sind im Vorstand der Elterninitiativ-Kita, so dass ihre Kinder sich mehr rausnehmen dürfen als andere…

Wichtig ist außerdem, dass die Handlungen der Kinder zur kindlichen Sexualität gehören und nicht der Sexualität Erwachsener gleichen. D.h. dass alle Formen des Geschlechtsverkehrs bei Doktorspielen keinen Platz haben, sie können die beteiligten Kinder schädigen.  

Heute kommen Kinder/Jugendliche durch das Internet immer früher an Pornos – wie können Eltern dem entgegen wirken?

Eltern können auf zwei Ebenen aktiv werden. Sie können, insbesondere bei jüngeren Kindern technische Schutzmaßnahmen ergreifen (Sicherheitseinstellungen des Browsers u.a.) und ausschließlich kindgerechte Seiten für die Nutzung freigeben. Auf der anderen Seite ist eine altersgerechte Aufklärung über die Chancen und Risiken der Internetnutzung ein wesentlicher Schutzfaktor. Eltern sollten die Chance nutzen, mit ihren Kindern im Gespräch zu sein über deren Interessen, Fragen und Unsicherheiten.

Der frühe Zugang zu Pornografie ist dabei nur ein Risiko, Pädosexuelle im Netz, Cybermobbing oder gewaltverherrlichende Seiten seien hier als einige weitere genannt. Aktuelle Studien gehen davon aus, dass ein Drittel der 16-19jährigen Männer mindestens ein Mal die Woche mindestens ein Mal in der Woche oder häufiger Pornografie konsumiert. Viele von ihnen haben damit in der Pubertät, mit 13 oder 14 Jahren, damit begonnen. Mädchen konsumieren deutlich seltener. Jugendliche können in der Regel gut zwischen Pornografie und Alltagssexualität unterscheiden. Sexuelle Bildung in Familien und Institutionen trägt dazu einen respektvollen, grenzbewussten Umgang miteinander zu entwickeln und zwischen Liebe, Sexualität und Pornografie unterscheiden zu können. Es gibt eine Vielzahl guter Internetseiten, auf denen Eltern Hintergrundinformationen und sehr konkrete Empfehlungen zum Schutz von Mädchen und Jungen finden.

Exemplarisch seien hier www.klicksafe.de, www.internet-abc.de, www.innocence-in-danger.de, www.save-me-online.de und www.juuuport.de genannt.

Wie kann ich mein Kind stark machen vor sexuellen Übergriffen?

Wenn Mütter und Väter von Anfang an ihren Kindern vermitteln, dass sie selbst über ihren Körper bestimmen dürfen, weil er ihnen gehört und sie ihn am besten kennen, dann ist etwas Wesentliches gelungen. Dazu gehört aber auch, als Elternteil selbst dieses Selbstbestimmungsrecht der Tochter oder des Sohnes zu respektieren. Das beginnt bei Gute-Nacht-Küssen, die zwar meistens, aber eben nicht immer erwünscht sind.

Dazu gehört auch, Kindern schon früh möglichst viel Selbständigkeit im Umgang mit dem eigenen Körper zu ermöglichen, damit es nicht nur ein Selbstbestimmungsrecht sondern auch entsprechende Kompetenzen gibt. Es sind Situationen wie Nase putzen, Po abwischen, alleine anziehen etc. Wo Kinder noch auf die Hilfe der Eltern angewiesen sind, sollte diese nicht wortlos von statten gehen, sondern durch Sprechen begleitet sein, so dass das Kind in die Vorgänge, die seinen Körper betreffen, einbezogen ist. 

Neben dem Selbstbestimmungsrecht hat der familiäre Umgang mit dem Thema Sexualität eine schützende Wirkung. Eltern tun gut daran, Sexualität als selbstverständliches Thema im Familienalltag zu betrachten, über das alle sprechen dürfen. Ein Thema, das viele Fragen aufwirft, die gefragt werden dürfen und Antworten erhalten. Je normaler Kinder Sexualität erleben, umso souveräner treten sie im Kontext von Doktorspielen auf und umso eher verwehren sie sich gegen Handlungen oder Konstellationen, die sie nicht wollen. Sie werden sich auch eher beschweren, wenn ein anderes Kind sie nicht in Ruhe lässt oder Dinge tut, die ihm oder ihr unangenehm sind. Umgekehrt haben es die Kinder schwer, sich gegen Übergriffe abzugrenzen und ihren Eltern Bescheid zusagen, die keinen positiven Zugang zu Doktorspielen kennen, für die alles „verboten“, schlimm oder gar „sündig“ ist. Sie ahnen, dass sie kaum mit Trost, sondern mit Vorwürfen und Schuldzuweisungen rechnen müssen. 

Wo finden seuxuelle Übergriffe unter Kindern oft statt?

Die Orte sind vielfältig. Viele Übergriffe gibt es im familiären Kontext, aber auch beim Spielen in der Nachbarschaft, in Sportvereinen, auf dem Pausenhof, auf Klassenfahrten. In Kitas kommen Übergriffe recht häufig vor, weil das Alter vor der Einschulung das Alter ist, in dem Kinder ihre Sexualität entdecken, andere Kinder dabei einbeziehen und häufig noch nicht gelernt haben, die Grenzen anderer zu respektieren. Wichtig ist deshalb, schon jungen Kindern zu vermitteln, was geht und was nicht, was erlaubt ist und ab wann es Ärger gibt. Wer früh gute Reaktionen erlebt, hat wichtige Orientierungen erhalten. Betroffene Kinder lernen, dass man sich an Übergriffe nicht gewöhnen muss, übergriffige Kinder lernen, dass sie damit nicht durchkommen.  

Wie erkenne ich als Eltern, dass mein Kind einen Übergriff erlebt hat?

Es gibt keine eindeutige Symptomliste, nach der Eltern erkennen könnten, dass ihr Kind sexuelle Übergriffe erlebt hat. Grundsätzlich sollten Eltern bei Verhaltensänderungen ihres Kindes einen möglichen Übergriff als Ursache mit in Betracht ziehen. Sexuelle Übergriffe unter Kindern können zu körperlichen und seelischen Verletzungen führen. Sowohl die betroffene wie die übergriffigen Kinder können ohne schützende Intervention, schädigende Verhaltensmuster erlernen.

Es gibt Kinder, die für sich die Situation als unangenehm bewerten und sich schützen können. Andere Kinder geben durch Äußerungen oder Verhaltensänderungen ihrer Eltern/den Fachkräften Hinweise auf ihre Not. Meidet ein Kind plötzlich andere Kinder? Mag es nicht mehr in die Kita oder zum Sport? Weicht es einem Geschwisterkind aus oder reagiert aggressiv? Klagt es über Schmerzen beim Wasserlassen oder leidet es an unerklärlichen Verstopfungen? Rötungen, Schmerzen oder Verletzungen im Genitalbereich können Hinweise auf sexuelle Übergriffe sein. 

Wichtig ist, dass Eltern trotz ihrer Sorge ruhig bleiben und besonnen nachfragen. Betroffene Kinder schämen sich und haben Angst, dass sie etwas falsch gemacht haben. Jüngeren Kindern fehlen oftmals die Worte für das, was sie erlebt habe. Übergriffe können auch mit einvernehmlichen, sexuellen Erkunden begonnen haben. Dies verstärkt die ohnehin vorhandenen Schuldgefühle der Kinder „weil ich neugierig war, bin ich selber schuld“.  Wichtig ist, dass ein Übergriff als solcher wahrgenommen und benannt wird. 

Wie gehe ich damit um, wenn der Täter auch noch ein Kind ist?

Wenn es sich um ein Kind handelt, sollte man sich von dem Begriff Täter gleich verabschieden. Er wirkt wie ein Stempel, wie ein Etikett, das eher zu Polarisierung und Eskalation führt als zu guten pädagogischen Reaktionen. Eltern, deren Kind zum Täter erklärt wurde, tendieren dazu, ihr Kind automatisch in Schutz zu nehmen und die Vorfälle zu bagatellisieren. Daran kann niemand Interesse haben.

Bei Übergriffen unter Kindern geht es nicht um Verurteilungen, sondern um pädagogisch angemessene Reaktionen, denn Kinder brauchen die Möglichkeit aus ihren Fehlern zu lernen. Man muss übergriffigen Kindern sehr deutlich ihre Grenzen aufzeigen, aussprechen, dass ihr Verhalten Unrecht ist und dass Wiederholungen keinesfalls vorkommen dürfen. Wichtig ist dabei, sich nicht auf „Verhandlungen“ einzulassen. Das ist bei anderen pädagogischen Herausforderungen oft der richtige Weg – aber nicht bei Übergriffen! Übergriffige Kinder wollen gern verhandeln, um dem Ärger zu entgehen und nicht die ganze Verantwortung für ihren Fehler tragen zu müssen. Und hier sind die Erwachsenen wirklich gefragt: Sie müssen ihre Haltung, die sonst oft ihre Berechtigung hat, nämlich die Haltung „Dazu gehören immer zwei“ aufgeben. Sie sollten unmissverständlich klar machen, dass sich das übergriffige Kind an dieser Stelle verändern muss. Dazu müssen sie vielleicht seinen Aktionsradius vorübergehend einschränken und das Kind mehr als sonst kontrollieren. Aber das übergriffige Kind muss auch spüren, dass man ihm Veränderung zutraut. Wenn man allein mit pädagogischen Mitteln nicht weiter kommt, kann man auch therapeutische Unterstützung für das übergriffige Kind veranlassen. In eher seltenen Fällen, wenn man den Eindruck hat, dass das Kind Übergriffe aus einer Not heraus macht, dass es auf eigene Probleme damit aufmerksam machen will, ist es richtig, beim Jugendamt eine Meldung zu machen. Dort kann überprüft werden, ob das übergriffige Kind selbst Hilfe benötigt. 

 Welche Schritte sind nötig, damit mein Kind so einen Übergriff verarbeiten kann?

Kinder, die sexuelle Übergriffe durch ein anderes Kind erlebt hat, brauchen Eltern/Erwachsene, die ihnen glauben, sie schützen und trösten. Wichtig ist, Kindern Worte für das Erlebte zu geben und ihnen zu helfen, das Verhalten einzuordnen. Sie haben erlebt, dass ihre Grenzen nicht akzeptiert wurden und brauchen die Erfahrung, dass sie jetzt ernst genommen werden und die Aussage „Mein Körper gehört mir!“ doch richtig ist. Dies bedeutet für Eltern auszuhalten und nicht weiter nach zu fragen, wenn ein Kind nichts erzählen möchte. Mit dieser Haltung stärken sie ihr Kind und lassen es erfahren, dass sein/ihr Nein akzeptiert wird. Klare Absprachen und Regelungen mit dem übergriffigen Kind, die Ermutigung, sich immer Hilfe holen zu dürfen, unterstützen den Prozess der Verarbeitung. Kinder sollten erfahren, dass Hilfe holen genau der richtige Weg ist, in einigen Fällen kann das auch therapeutische Unterstützung sein. Bei sexuellen Grenzverletzungen durch Minderjährige können gerade Erwachsene ein  Korrektiv darstellen, indem sie intervenieren, Schutz bieten und die betroffene Kinder in ihrer Selbstbestimmtheit stärken.

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