Ihr Lieben, wir hatten hier schon mehrfach Berichte von verlassenen Eltern, also Müttern und Vätern, deren Kinder den Kontakt abgebrochen haben. Und wir hatten auch schon Interviews mit Kindern, die beschlossen haben, nicht mehr mit den Eltern zu kommunizieren. Klar ist: So ein Kontaktabbruch passiert nie von heute auf morgen, meist stecken jahrelange Konflikte dahinter.
Anja Sernau berät verlassene Eltern, hilft ihnen, ihr Handeln zu reflektieren und versucht, die verstrittenen Familienmitglieder wieder an einen Tisch zu bekommen. Wir haben mit ihr über ihre Arbeit gesprochen.
Liebe Frau Sernau, Sie bieten Selbsthilfegruppen für verlassene Eltern an. Wie kamen Sie dazu?
Ich habe das zum Glück nicht selber erlebt. Aber ich bin Ehe- und Familienberaterin, kinderpsychologische Beraterin und Sozialtrainerin. Daher hatte sich vor Jahren eine Klientin an mich gewandt und wollte eine Beratung für sie und ihren Mann. Sie beide gehörten zu den „Verlassenen Eltern“.
Damals wusste ich ehrlich gesagt nicht genau, was damit gemeint war. Aber als sie mir ihre Situation erzählt hatte und ich spürte welches Leid dahinter steckte, hat mich das sehr berührt. Daraufhin habe ich mich auf dieses Thema spezialisiert – mit Fachliteratur, Weiterbildungen, Dokumentationen etc. Parallel habe ich mich sowohl mit verlassenen Eltern als auch mit Kindern, die ihre Eltern verlassen hatten, befasst. Dadurch habe ich beide Seiten besser verstehen können.
Wie erleben Sie die verlassenen Eltern bei Ihnen in der Gruppe?
Ich denke es sind sehr viele Gefühle dabei. Enttäuschung, Trauer, Angst, die Kinder nicht mehr zu sehen, das Gefühl ungerecht behandelt zu werden, Ohnmacht.
Natürlich ist das Thema auch schambehaftet, denn immer wieder hören ich den Satz: „Was haben wir nur alles falsch gemacht“. Wut habe ich eher selten erlebt. Das Gefühl, welches ich am meisten wahrnehme, ist die Fassungslosigkeit und immer wieder die gleiche Frage: „Warum?“. Das zieht sich fast durch jedes Gespräch, bei meinen Beratungen.
Oftmals schaffen es die Eltern mit mir, mit den Kinder wieder an einem Tisch zu sitzen und gemeinsam über alles zu reden. Und dann höre ich auch immer wieder von den Kindern den gleichen Satz: „Das habe ich euch doch hundert Mal gesagt“. Es ist ein Phänomen.
Das heißt, die Eltern wussten bis dahin gar keinen Grund?
Ja, die Kinder sagen es immer und immer wieder, aber es kommt bei den Eltern nicht an. Sie nehmen es irgendwie nicht ernst. Erst, wenn ein Kontaktabbruch entstanden ist, machen sich die Eltern ernsthafte Gedanken, aber finden oft die Antwort nicht.
Aber nicht nur die Eltern haben viele negative Gefühle, sondern auch die Kinder. Sie sind ständig in einem Zwiespalt. Auf der einen Seite haben sie diese Entscheidung gefällt und es hat vielleicht auch etwas Gutes für sie, auf der anderen Seite haben sie Mitgefühl mit den Eltern oder sie denken auch an viel Positives zurück und die Familie fehlt ihnen. Es besteht manchmal eine Art Zerrissenheit in den Kindern. Teilweise enden diese Kontaktabbrüche auch in Depressionen, Burnout etc.
Warum kommen diese Menschen zu Ihnen in die Gruppe und wie können Sie Ihnen helfen?
Ich denke, dass es wenige Anlaufstellen in Deutschland gibt. In Amerika ist das anders. Dort ist das kein Tabuthema. Bei uns irgendwie schon eher. Die Leute in der Gruppe finden andere Betroffene und fühlen sich nicht mehr alleine. Das ist der große Vorteil einer jeder Selbsthilfegruppe. Bei mir ist es jedoch nicht nur eine Selbsthilfegruppe, sondern eine Selbsthilfeguppe mit Coaching.
Ich versuche während dem Treffen Hilfestellungen zu geben und lade die Betroffenen zu persönlichen Gesprächen zu mir ein. Hier können wir gemeinsam über die Schwierigkeiten sprechen. Die Eltern erzählen mir einiges aus der Vergangenheit und in vielen Fällen fallen mir – aufgrund der Erfahrung – Gründe auf, die zu einem Kontaktabbruch geführt haben können.
Danach versuche ich mit den Eltern Wege zurück zu den Kindern zu finden. Diese sind oft steinig und manchmal auch langwierig. Manchmal muss man andere Familienmitglieder oder Freunde mit einschalten, teilweise nehme auch ich selber Kontakt zu den „Kindern“ auf, oder es müssen Sichtweisen korrigiert werden, die die Eltern selber so nicht gesehen haben etc. Es gibt immer Wege – auch oft viele verschiedene. Meistens warten die Kinder nur darauf, dass die Eltern wieder Kontakt aufnehmen und vor allem darauf, dass die Eltern sie verstehen.
Wir haben ja schon mehrere Interviews zu dem Thema veröffentlicht. Immer wieder wird kommentiert: „Kein Kind bricht ohne Grund den Kontakt zu den Eltern ab.“ Wie sehen Sie das?
Das glaube ich auch. Es gibt bestimmt immer einen oder sogar mehrere Gründe. Aber man kann darüber reden und Missverständnisse oder Kränkungen, Vernachlässigungen usw. erklären oder sich dafür entschuldigen, wenn es wirklich Fehler waren. Aber oftmals sehen Kinder ihre Kindheit so, dass sie sich abgelehnt oder nicht geliebt gefühlt haben. Immer wieder höre ich, dass die Eltern keine Zeit für sie hatten.
Natürlich gibt es auch Eltern, die sich wirklich keine Zeit nehmen wollten oder bei denen die Kinder nicht den Stellenwert hatten, den sie verdient hätten. Aber es gibt auch viele Situationen, in denen das Leben die Eltern gezeichnet hat – mit Krankheiten, viel Arbeit etc. Ein typisches Beispiel ist, dass Kinder von alleinerziehenden Elternteilen das Gefühl hatten, die Mutter/Vater hätten sich nie für sie interessiert – hätten keine Zeit für sie gehabt, keine Urlaube oder Ausflüge geplant usw.
Wenn man dann genauer nachfragt, war die Mutter/Vater im Dauerstress, weil sie/er sich um Kinder, Haushalt kümmern musste und noch ganztags arbeiten musste. Das ist und war oftmals zu viel. Nicht selten kamen auch Krankheiten/Migräne/Erschöpfungszustände hinzu. Das ist z.B. ein Fall, den man als Kind nicht verstehen kann (je nach Alter), aber im Erwachsenenalter schon.
Haben Sie generell das Gefühl, dass verlassene Eltern sich selbst gut reflektieren können oder brauchen sie da auch den Blick von außen?
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Eltern bewusst ist, dass etwas schlecht lief. Aber sie wissen in den meisten Fällen nicht was. Bekannt ist z.B., dass eine Scheidung für die meisten Kinder eine Herausforderung bedeutet. Die Kinder verlieren ihre Wurzeln, sind mal bei dem einen, mal bei dem anderen Elternteil und vermissen immer eine Person. Das macht etwas mit den Kindern.
Als kinderpsychologische Beraterin bin ich mit Kindern konfrontiert, die eine Trennung der Eltern durchmachen. In den meisten Fällen ist das sehr schwer für sie. Die Eltern jedoch sehen das selten als Problem. Es wird kaum angesprochen.
Aber oft sind es auch ablehnende Einstellungen – z.B. zu den Freunden der Kinder, Schulbildung, Jobwünsche etc. Es ist wichtig, die Kinder in ihren Entscheidungen zu unterstützen. (Das geht nicht immer, aber es sollte wohl überlegt sein, wenn man sich gegen die Entscheidungen stellt.)
Wie schafft man es, dass Eltern und Kinder, die vielleicht jahrelang kein Wort miteinander gesprochen haben, sich wieder an einen Tisch setzen und sprechen?
Wenn man erst einmal die Gründe gefunden hat und die Eltern diese auch sehen und bereit sind etwas zu verändern. Das heißt nicht, dass die Kinder immer im Recht sind. Aber man kann daran arbeiten, die Sichtweisen zu erklären oder einfach die andere Meinung der Kinder zu respektieren. Als nächsten Schritt muss man Wege finden, die Kinder wieder zu erreichen.
In vielen Fällen warten die „Kinder“ buchstäblich darauf, dass die Eltern wieder auf sie zukommen. Dann ist es jedoch auch wichtig, den richtigen Weg zu finden. Wenn man den Kindern in Briefen oder persönlich z.B. mit Vorwürfen begegnet, dann hat es wenig Sinn. So eine neue Kontaktaufnahme sollte gut vorbereitet sein.
Und gibt es auch Fälle, in denen Sie glauben, dass es besser ist, wenn die Familienmitglieder keinen Kontakt mehr miteinander haben?
Ja auf jeden Fall. z.B. bei Gewalt oder sexuellen Übergriffen.
Gibt es einen Fall, der Sie besonders bewegt hat?
Da ich Schweigepflicht habe, kann ich hier von keinem Fall erzählen. Aber allgemein kann ich sagen, dass mich jeder Fall bewegt und es mich wirklich glücklich macht, wenn ich sehe, dass die Familien wieder zusammenkommen.
Wer mehr Infos über die Arbeit von Anja Sernau haben oder ein Gespräch mit ihr vereinbaren möchte, kann dies unter https://www.eheberatungundfamilienberatung.de oder eine Mail an EheundFamilienberatung@gmx.de schreiben.
3 comments
Sehe ich ganz genauso wie meine Mitkommentierenden. Ich habe den Kontakt zu meiner Mutter nicht abgebrochen, wünschte mir aber oft genug ich hätte das beizeiten getan.
Ich empfinde die Haltung der Therapeutin als übergriffig und anmaßend. Als ob eine aussenstehende Person, noch dazu von den „verlassenen“ Eltern beeinflusst, das beurteilen könnte, was ein „gerechtfertigter“ Grund für einen Kontaktabbruch ist. Gewalt hat viele Gesichter.
Nein, ich warte nicht darauf, dass meine Mutter sich meldet, ganz im Gegenteil, ich möchte keinen Kontakt mehr.
Nein, ich habe keine Gewalt erlebt, sondern einfach nur Desinteresse.
Lange habe ich das für ganz normal gehalten, erst, als ich eigene Kinder hatte, habe ich am manches reflektiert und bin ins Grübeln gekommen.
Ich habe Verständnis dafür, dass meine Mutter sehr viel gearbeitet hat, um über die Runden zu kommen. Auch, dass sie für das quirlige Kind vom verhassten Ex- Gatten wenig Liebe empfunden hat und ständig müde war.
Sie hat ihre Kraft für sich und ihren neuen Partner aufgewendet, hat ihre neue Ehe ohne ihre Kinder genossen, was ich verstehen kann.
Wir wuchsen liebevoll bei Oma auf, die sich in einer steten Konkurrenzbeziehung zu meiner Mutter befand, die ihrer Mutter nichts Recht machen könnte.
Dadurch haben die zwei Frauen eine Konkurrenzbeziehung zwischen meiner Schwester und mir befördert, je eine war der Liebling von Oma oder Mutter.
Als meine Großmutter dann früh starb, hatte ich die Arschkarte: aus vier wurden 3, ich gegen Mutter und Schwester, die eng zusammenhalten.
Es gab immer wieder lange Pausen, meist habe ich wieder den Kontakt gesucht, insbesondere, als meine Kinder auf die Welt kamen: ich wünschte mir liebevolle Großeltern für meine Kinder so wie ich sie hatte.
Der Kontakt blieb aber vage, es war kein großes Interesse da an den Kindern, meist beschränkte es sich auf Kritik an mir und meinem Nachwuchs per Telefon: Die Kinder sind schlecht erzogen, sind zu dünn/ zu dick, zu lethargisch/ zu quirlig, zu sportlich/ zu sehr Nerd.
Ich habe zu viel zu tun, um mir Leute aufzuhalsen, die ausnahmslos kritisieren, wie wir als Familie leben, manches hat natürlich auch weh getan, auch meinen Kindern.
Insofern: uns geht es besser ohne Kontakt.
Genau so geht es mir!Meiner Mutter ging es immer nur um ihr Wohlergehen. Mein Bruder und ich mussten um ihre Aufmerksamkeit kämpfen, einer war dann immer der Blöde, der alles abbekam. Und wehe, die Aufmerksamkeit ließ nach! Da war alles vergessen, was man sich vorher abgestrampelt hatte! Ich habe nie gehört, dass sie mich lieb hat oder stolz auf mich ist. Stolz äußerte sich in „Du bist nicht meine Tochter!“ Liebe in „Ein Schreikind? Das gönne ich dir! Warum soll es dir besser gehen als mir?“ Nach 45 Jahren habe ich den Kontakt abgebrochen. Es war ein schwerer Weg. Wenn ich jetzt lese, dass diese Menschen zum Opfer gemacht werden und eine Selbsthilfegruppe bekommen, kommt mir die Galle hoch! Mir reicht schon dieses „Aber es ist doch deine Mutter!“ von anderen Leuten. Nicht jede Frau, die ein Kind geboren hat, ist eine Mutter. Ich bin froh, den Absprung geschafft zu haben und würde auch keine „Vermittlung“ mehr wollen. Der Ausdruck „verlassene Eltern“ ist auch völlig unpassend.