Jugend- und Kinderhilfe: „Manchmal bin ich auch ein bisschen die Mama von anderen“

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Liebe Imke, Du bist Leiterin zweier Erziehungseinrichtungen. Wieviele Kinder/Jugendliche leben dort?

Meine Kollegen und ich betreuen insgesamt 42 Kinder mit ihren Familien, also so ca. 120 Personen. Von den 42 Kinder sind 33 dauerhaft bei uns untergebracht, das heißt, sie können nur gelegentlich bis gar nicht nach Hause oder die Eltern kommen zu uns zum Umgang. In einem der Häuser arbeiten wir mit einer Elternwohnung, in der Eltern eine Nacht pro Monat bei uns übernachten können und Zeit mit ihrem Kind oder ihren Kindern verbringen können.

Wir decken die gesamte Altersspanne ab – von den minderjährigen Müttern mit Säuglingen (unser jüngster Bewohner – er lebt mit seiner Mutter bei uns- ist 1,5 Jahre alt) bis zum 18- Jährigen in der Ausbildung. Die meisten Kids in den Wohngruppen sind jedoch zwischen 7 und 14 Jahre alt.

Kannst Du uns mehr über die Kinder und Jugendlichen erzählen?

Wir arbeiten in jeder Gruppe mit verschiedenen Schwerpunkten und decken deswegen grob folgende Problembereiche ab: In der einen Wohngruppe betreuen wir überwiegend Kinder aus gewaltbelasteten Familien – sowohl körperliche, sexuelle, als auch psychische Gewalt spielen hier eine Rolle.

Bei diesen Kindern wird selten an eine Rückführung in den elterlichen Haushalt gearbeitet, hier ist es wichtig, dass die Kinder und Eltern mit ihren Erfahrungen umzugehen lernen, Ängste benennen und Strategien entwickeln, mit ihrem „Rucksack“ laufen lernen und trotzdem ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

In dieser Gruppe ist auch unser Mutter-Kind-Bereich, bei dem wir mit werdenden Müttern arbeiten, die sich für ein Kind entscheiden, das unter anderem auf Grund von gewalttätigen Übergriffen oder z.B. im Drogenrausch entstanden ist. 

Wir arbeiten hier mit Traumapädagogen zusammen und versuchen eine Mutter-Kind-Bindung zu entwickeln, die nicht von den Umständen der Zeugung überschattet ist. Das ist unglaublich schwer und leider schaffen es viele junge Mütter nicht. Dann begleiten wir die Mütter bei dem Prozess, ihre Kinder in Pflegefamilien zu geben. Und auch dabei, es zu akzeptieren, loszulassen und den Umagng mit möglichen Schuldgefühlen zu erlernen.

Und in dem anderen Haus?

Dort betreuen wir Kinder mit Schulunlust oder Verweigerungstendenzen. Hier sind wir oft das letzte Mittel zur Sicherung der Schulpflicht. Wir arbeiten mit Schulen und mit Kliniken zusammen, um verschiedene Lernschwächen, Schulangst usw. zu diagnostizieren und entsprechend darauf einzugehen.

Die dritte Gruppe befasst sich mit Kindern und Jugendlichen, bei denen ein Elternteil und zum großen Teil sie selbst psychisch erkrankt sind. Auch hier spielen Therapeuten, Psychiater, Kliniken usw. eine wichtige Rolle. Wir haben von Depression, Suizidalität bis zur Borderline Störung und schizophrene Schübe alles dabei.

Wie sind die familiären Hintergründe der Kinder und Jugendlichen?

Die Frage nach den Elternhäusern ist schwer. Von der geistig behinderten Mama, der die Kinder über den Kopf wachsen, über Familien mit hohem Gewalt- und Suchtpotenzial bis hin zum Zahnarzt, dem aufgrund seelischer Grausamkeit gegenüber seinen Kinder das Sorgerecht entzogen wurde, haben wir alles dabei. Es gibt die klassischen „Heimkinder“ nicht mehr. Durch die Vielfalt in unserer Gesellschaft sind auch die Sorgen und Nöte der Eltern und Kinder sehr vielfältig und komplex geworden.

Die Kinder kommen immer über das Jugendamt. Manche Eltern sagen „freiwillig „, dass sie Hilfe brauchen, bei manchen Fällen sagen die Kinder, dass sie nicht mehr zu Hause leben wollen. Manche Kinder kommen über das Familiengericht, manche Kinder sind aus Pflegefamilien, die mit zunehmendem Alter und Auffälligkeit der Kinder an ihre Grenzen kommen.

Das ist ein Job, den man derzeit nicht im Home-Office erledigen kann.

Nein, den Kindern und deren Familien kann man nicht sagen, dass wir uns vier Wochen nur über Skype oder Mail hören und sehen. Sie sind auf verlässliche Face-to-Face- Kontakte, Feedbacks direkt in kritischen Sitautionen und kontinuierliche Bezugspersonen angewiesen.  

Du hast selbst zwei Kinder….

Genau. Damit ich für die anderen Familien da sein kann, gehen meine Kinder ( 4 und 1,5 Jahre) in die Notbetreuung in der Kita. 
Ich bin dankbar, dass sie zu den Kindern gehören, die in ihrer „eigenen“ Kita betreut werden können und dennoch ist es für mich nicht immer leicht, dass ich meine Kinder in die Notbetreuung schicke, um anderen Kindern zu helfen.

Hinzu kommt, dass mein Job nicht von 9 bis 17 Uhr „planbar“ ist. Auf die Frage meines Sohnes, ob und wann ich ihn aus der Kita holen kann, habe ich meist keine Antwort.

Für mich ist es schwer, dass ich von anderen Eltern, die keinen Anspruch auf einen Notplatz haben, höre: „Sei doch froh, dann musst du deine Kids nichts selbst 7 Tage die Woche bespaßen“ oder „Na, bei dem Betreuungsschlüssel werden deine Kids ja jetzt die Überflieger und unsere stehen doof da.“

Das ärgert dich sicher sehr….

Ja, niemand, der sein Kind in die Notbetreuung schickt, macht das leichtfertig. Ich gebe meine Kinder ab, um mich um noch viel einsamere Kinder und deren Eltern zu kümmern.

Mit welchem Gefühl gehst du momentan zur Arbeit?

Mein Sohn hat seiner Erzieherin mal gesagt : „Meine Mama muss eben manchmal auch ein bisschen die Mama von anderen sein.“ Auch wenn ich mich nicht als Mama der Kinder in unseren Häusern sehe, erklärt dieser Satz doch ziemlich gut, warum ich zum großen Teil ohne schlechtes Gewissen zur Arbeit gehe.

Gemeinsam mit meinen wunderbaren Kollegen und Kolleginnen zeigen wir diesen Kindern, was Verlässlichkeit, Vertrauen und Miteinander bedeutet. Wir sind diejenigen, die auch den Eltern Zuversicht, Halt und vor allem Wertschätzung entgegenbringen, obwohl oder gerade weil sie eben so sind wie sie sind.

Wie geht es deinen Kindern damit, dass sie in die Notbetreuung sind?

Meine Kinder wissen, dass ihre Mama mit Kindern arbeitet, die gerade nicht zu Hause wohnen können. Meine Kinder haben ein gutes Netzwerk durch Papa und Großeltern, das sie trägt und auffängt und wofür ich unendlich dankbar bin.

Natürlich denke ich manchmal, wenn ich den Kindern in unseren Häusern abends eine Geschichte vorlese, dass meine Kinder auch gerne eine Geschichte von mir hören würden. Aber ich weiß, dass der Papa das macht und dann kann ich damit gut leben.

Aber klar: Manchmal kommen die Momente, in denen ich das nicht gut wegstecke. Meine Tochter hatte Magen-Darm und hat nur nach mir geheult. Da habe ich dann alles stehen und liegen gelassen und bin nach Hause.

Ja, manchmal bin ich zerrissen zwischen der Liebe zu meinen Kindern und dem Wissen, dass die Kinder in den Häusern gerade auch sehr viel Liebe und Verständnis brauchen.

Wie wirkt sich die Corona-Krise auf die Kinder in der Einrichtung aus? 

Momentan sind sie 24 Stunden /7 Tage die Woche mit ihren Mitbewohnern zusammen, von denen jeder sein eigenes Päckchen zu tragen und seine eigenen Marotten hat. Wir dürfen auch keine externen Besuche mehr zulassen – das heißt, die Kinder dürfen ihre Eltern nicht sehen. Auch an Ostern nicht. Das ist für viele schwer zu ertragen.

Wir sorgen für regelmäßige Telefonkontakte – auch mit unseren anderen Fachkräften, aber das ersetzt nicht den persönlichen Kontakt.
Die Kinder reagieren natürlich dementsprechend, sie sind lauter, aggressiver und viel schneller in Wutausbrüchen oder extremer Traurigkeit „gefangen“ als vor den Beschränkungen.

Bemerkst du, dass die psychischen Auffälligkeiten sich auch verstärken?

Ja, das auf jeden Fall. Sowohl bei den Kindern als auch bei den Eltern. Es vergeht kein Tag, an dem wir keine panischen Anrufe von Eltern haben , dass Kriege ausbrechen, alle Menschen sterben, sie sich lieber selbst umbringen wollen, bevor es das Virus tut usw.

Wir hören in den letzten Tagen Beschimpfungen, Morddrohungen, Verschwörungstheorien oder einfach nur völlig verzweifeltes Weinen. Es gab sogar schon Eltern, die den Rettungsdienst in die Einrichtung geschickt haben, weil sie sagten, ihr Kind sei erkrankt und es würde sich keiner um das Kind kümmern.

In der Nachbesprechung mit der Mutter des Kindes kam raus, dass sie dies „nur geträumt“ habe, aber aufgrund ihrer aktuellen psychischen Verfassung nicht in der Lage war zu sortieren , was Traum und was Realität war.

Und bei den Kindern?

Auch die Kinder haben durch die starken Einschränkungen (nicht mehr mit den Freunden treffen, Eltern und Geschwister nicht sehen, Schulstoff in der Einrichtung machen) massive Probleme. Von Mittwoch bis gestern sind in der Einrichtung 6 Schränke und 8 Stühle zerstört worden. Es musste bereits 5 mal der Rettungsdienst wegen Verletzungen, Nervenzusammenbrüchen oder Suizidgedanken gerufen werden.

Versteht mich nicht falsch, diese Auffälligkeiten bringen unser Kinder mit, das haben wir in Schüben immer wieder mal. Aber wenn man einer instabilen Person jetzt zum Schutz vor etwas, was sie z.T. nicht verstehen die Sozialkontakte einschränkt, Facharzttermine dadurch z.T. ausfallen, es erste Schwiergkeiten bei der Medikamentenlieferung gab und dann der „normale Wahnsinn“ der Vorpubertät und Pubertät noch dazukommt, hat man ganz viele kleine Pulverfässer.

Wir können nur die Feuerwehr sein, die die Kids vor sich selbst schützt.

Hast du das Gefühl, dass Eure Arbeit genug wertgeschätzt wird gerade?

Hätte ich euch sonst angeschrieben? Nein, wir fühlen uns nicht gewertschätzt, aber das ist etwas, das in unserer Gesellschaft wohl eher ein flächendeckendes Problem ist.

Wir haben keine Lobby in der Politik, egal wann. Wir machen – ob mit oder ohne Corona – unseren Job und sind für die Menschen da, die auch jetzt keiner sehen will. Diese Menschen gehören nicht zur klassischen Risikogruppe, man kennt sie nicht durch Facebook-Aktionen wie #Stayathome.

Unsere Menschen sind die, die manchmal laut mit sich selbst sprechen und bei denen ein Teil der Leute die Straßenseite wechselt. Die, die bei Stress zur Flasche greifen, ihre Kinder nicht selbst großziehen können, immer wieder in tiefe Löcher fallen. Genau diesen Menschen wollen wir helfen. Doch diese Arbeit ist meist komplett unsichtbar.

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2 comments

  1. Hallo Imke,

    Ich arbeite in der SPFH und mein Träger hat auch ein KJ- Wohnheim. Was im letzten Jahr, und auch dieses Jahr noch mehr, in unserem Bereich geschieht ist manchmal vom Gefühl schwer auszuhalten.

    Auch meine Kinder haben letztes Jahr abstriche gemacht. Mussten in die notbetreuung, zu fremden Kindern und Erziehern, damit ich anderen Menschen helfen konnte.

    Danke für deine Arbeit!

  2. Vielen lieben Dank, dass Du und Deine Kollegen sich um all diese Menschen kümmern! Das ist eine sehr wertvolle Tätigkeit in und für unsere Gesellschaft!

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