Arche-Gründer Siggelkow: Sind uns unsere Kinder wirklich gleichgültig?

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Ihr Lieben, sicherlich kennt ihr die Einrichtung „Die Arche„. Die Arche engagiert sich uns besonders für Kinder aus sozial benachteiligten Verhältnissen. Begonnen hat die Arbeit 1995 in Berlin auf Initiative von Pastor Bernd Siggelkow. Mittlerweile ist die Arche an 32 Standorten in ganz Deutschland aktiv und erreicht über 6.000 Kinder und Jugendliche mit kostenlosen Angeboten. Millionen von Kindern leben in Deutschland in Armut und sind Benachteiligungen ausgesetzt, die sich auf ihr späteres Erwachsenenleben auswirken.

Trotzdem wird für diese Kinder seitens der Politik zu wenig Geld in die Hand genommen, sagt Bernd Siggelkow. Gemeinsam mit dem Arche-Pressesprecher Wolfgang Büscher zeigt er nun in .dem Buch „Das Verbrechen an unseren Kindern – Warum junge Menschen scheitern und was wir dagegen tun müssen*“ die Versäumnisse von Politik und Gesellschaft. Wir dürfen einen Auszug aus dem Buch hier veröffentlichen. (*Affiliate Link)

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„Wir kommen nicht umhin, immer wieder darauf hinzuweisen: In Deutschland leben rund 4,5 Millionen Kinder in oder in der Nähe von Armut. Die Bertelsmann Stiftung schreibt, dass im Jahr 2022 rund 1,9 Millionen junge Menschen in Haushalten lebten, die Sozialleistungen bezogen. Im Osten ist der Anteil etwas höher als im Westen. Ein Blick auf die kommunale Ebene zeigt gravierende Unterschiede. Im bayerischen Roth waren es beispielsweise 3 Prozent der Kinder, in Gelsenkirchen sind es unglaubliche 42 Prozent. Bremerhaven ist übrigens die Hauptstadt der Kinderarmut, dort ist jedes zweite Kind betroffen.

Lassen wir in Deutschland einen großen Teil unserer Kinder verkommen? Hier sagen wir ganz klar: Ja! Leider ist das so. Wir werden 2024 auch in Bremerhaven eine Arche eröffnen. Dort gibt es viel zu wenige Einrichtungen für Kinder, vor allem auch für Jugendliche. Was ist die Konsequenz daraus? Die Kinder lernen vom ersten Tag ihres Lebens an, von Sozialleistungen leben zu müssen. Sie haben kein Geld für Bildung, für Urlaub in einem anderen Land, nicht einmal für Kino, Theater, Restaurantbesuche oder viele andere Dinge, die für die meisten von uns normal sind.

Kürzlich waren wir bei einer Veranstaltung von „Ein Herz für Kinder“ im Axel-Springer-Haus in Berlin. Dort wurde der Chancenmonitor für Kinder und Jugendliche vorgestellt. Nun kennen wir aus unseren Archen Tausende von Kindern, die in der Schule scheitern, ja sogar zum Scheitern verurteilt sind. Jetzt rufen bestimmt viele: „Das kann doch nicht sein, Bildung kostet in Deutschland kein Geld. Auch müssen unsere Kinder in den staatlichen Schulen kein Schulgeld bezahlen.“ Aber als wir dann die Zahlen schwarz auf weiß vor uns hatten, war das doch noch mal ein Schockerlebnis.

Die erste Frage, die dort vorgestellt wurde, lautete: Wie steht es um die soziale Durchlässigkeit und die sozialen Aufstiegschancen in Deutschland? Die rund achtzig Gäste starrten gebannt auf die Leinwand. Auch wir warteten gespannt auf das Ergebnis. Sollte nun wissenschaftlich bestätigt werden, was wir tagtäglich in unseren Häusern erleben? Scheitern bundesweit Kinder am Bildungssystem, nur weil ihre Eltern zwanzig Jahre zuvor (und wahrscheinlich auch schon ihre Großeltern) scheitern mussten? Haben wir es jetzt endlich schriftlich, wie kaputt unser Bildungssystem ist? Sind unsere Lehrerinnen und Lehrer so schlecht, dass sie Kinder aus ärmeren Verhältnissen scheitern lassen? Oder ist das Bildungssystem wie ein anonymer Satellit, den man weder sehen noch erfassen kann?

Akademikerkinder machen öfter Abitur

Und dann tauchte ein weiterer Satz auf. Der ifo-„Ein Herz für Kinder“-Chancenmonitor dokumentiert, wie (un)gerecht die Bildungschancen von Kindern aus verschiedenen Familien in Deutschland sind. Das ifo-Institut ist eine Forschungseinrichtung, die, wie es heißt, die wirtschaftliche Debatte in Deutschland und in Europa mitgestalten will. Und das ist ihr mit dieser Studie im Auftrag der Axel-Springer-NGO gelungen.

Gemessen wurde die Wahrscheinlichkeit, ein Gymnasium zu besuchen, in Abhängigkeit vom familiären Hintergrund. Und da ging ein Raunen durch den Saal. Die Unterschiede sind gewaltig: Die Wahrscheinlichkeit, ein Gymnasium zu besuchen, liegt bei 21,5 Prozent, wenn ein Kind bei einem alleinerziehenden Elternteil ohne Abitur aufwächst, aus dem untersten Einkommensviertel kommt und einen Migrationshintergrund hat. Demgegenüber liegt sie bei 80,3 Prozent, wenn das Kind bei zwei Elternteilen mit Abitur aufwächst, aus dem obersten Einkommensviertel kommt und keinen Migrationshintergrund hat.

Diese Zahlen sprechen für sich und sind eine schreiende Ungerechtigkeit. Uns liegt ein Gesetzesentwurf vor, der im Strafgesetzbuch die unterlassene Hilfeleistung nach § 323c beschreibt. Danach kann man ins Gefängnis kommen, wenn man Kindern oder Erwachsenen in einer extremen Situation nicht hilft. Und nun scheitern 80 Prozent der Kinder aus einem bildungsferneren Umfeld, alleingelassen von ihrer Familie, vergessen vom Schulsystem und wahrscheinlich ungeliebt von den Lehrerinnen und Lehrern.

Und andernorts, in den jeweiligen Landeshauptstädten, sitzen wohlgenährte Kultusministerinnen und -minister in ihren schönen Büros mit üppigen Bezügen und noch besseren Pensionsansprüchen und lassen das alles satt und zufrieden über sich ergehen. Ist das nicht unterlassene Hilfeleistung?

Die eigenen Kinder machen natürlich mehrheitlich Abitur und lassen es sich später gut gehen. So ist es sicher auch bei dem Nachwuchs der Lehrenden. Das Ganze ist eine schreiende Ungerechtigkeit und ein Verbrechen an unseren Kindern. Und dieses schreiende Unrecht kennen wir schon seit Jahrzehnten. Was hat sich geändert? Nichts. Das Ganze ist also gewollt. Die Ärmsten unter uns sollen immer arm bleiben und den Bessergestellten soll es immer gut gehen.

Forderung der Arche: Vergesst Kinder aus bildungsfernen Familien nicht!

Wir von der Arche wollen nicht den gut situierten Familien an den Kragen. Aber wir fordern seit Jahren: Nehmt die Kinder aus den bildungsfernen Familien mit in die Erfolgsspur. Dazu brauchen wir mehr Lehrerinnen und Lehrer, mehr Erzieherinnen und Erzieher, also Menschen, die Zeit haben, sich um die vergessenen und verlorenen Kinder und Jugendlichen zu kümmern. Sonst begehen wir ein Verbrechen an einer unserer wenigen, aber sicher der wertvollsten Ressource unseres Landes, den Kindern und Jugendlichen. Andere (Boden-)Schätze, so schlimm das klingt, haben wir in Deutschland nicht. So viel zum Thema Bildung.

Die Einkommen in Deutschland sind derzeit so ungleich verteilt wie nie zuvor – und das trotz guter Konjunktur und günstiger Lage auf dem Arbeitsmarkt. Auch das zeigen Studien, unter anderem die Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler- Stiftung.

Wo also liegt das Problem? Von der seit Jahren guten Konjunktur profitieren wieder einmal nur die Wohlhabenden. Damit geht die Schere zwischen ihnen und den unteren Einkommensgruppen immer weiter auseinander. Das ist ein Armutszeugnis für unser Land. Immer mehr Einkommen konzentrieren sich bei den wirklich Reichen. Und die Zahl der Geringverdiener wird immer größer. Diese leben dann von den Brosamen, die ihnen die Reichen auf den Boden werfen. So kann kein Wirtschaftssystem überleben. Wir können die Anrufe der Menschen, die in den Archen um Lebensmittel betteln, nicht mehr zählen.

Ist es etwa gewollt, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht? Unsere Einrichtungen brauchen in diesem Jahr mit der Hilfe der Spenderinnen und Spender über 20 Millionen Euro, um das zu leisten, was eigentlich Aufgabe des Staates ist. Die Bereitschaft der Menschen in Deutschland, einen Teil ihres sauer verdienten Geldes abzugeben, ist groß. Sie wollen helfen, nur wissen sie häufig nicht, wer seriös ist und ob die Hilfe wirklich ankommt. Auch viele Unternehmen spenden Geld, um den Kindern und Jugendlichen in den Archen zu helfen. In Städten wie Hamburg, Frankfurt oder in der Kleinstadt Meißen gibt es sehr aktive Arche-Freundeskreise, die Zeit und Geld opfern, um den vom Staat vergessenen Kindern zu helfen.

Große Vermögensunterschiede verletzen die menschliche Würde und machen so die Abgehängten kaputt, anders kann man es leider nicht ausdrücken. Das erleben auch wir täglich in den Arche-Häusern. Fast alle Eltern schämen sich, weil sie nicht dazugehören. Sie sind Ausgestoßene, Parias, und ihren Kindern geht es da nicht anders. Diese werden in der Schule von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern gemobbt und von ihren Lehrerinnen und Lehrern nicht selten geächtet. Dagegen hilft auch die von der Politik eingeführte schicke Bezeichnung „Bürgergeld“ nur wenig. Menschen, die von Transferleistungen leben, gehören einfach nicht dazu. Mit denen wollen viele nichts zu tun haben.

Fragen wir uns doch mal selbst: Wer hat Freunde, die seit Jahren von Sozialhilfe leben müssen? Man bleibt in seinem Milieu lieber unter sich – die Erfolgreichen einerseits und der „menschliche Abschaum“ andererseits. So fühlen sich Millionen abgehängter Menschen in unserem Land. Geld auf dem Konto zu haben, bedeutet letztlich politische, ökonomische und soziale Macht. Man kann dann von sich sagen, man ist wer.

Cover Das Verbrechen an unseren Kinder 9783987900365

Das Buch könnt ihr HIER bestellen

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4 comments

  1. Danke und bravo, Bernd Siggelkow!
    Er benennt die Missstände von Kindern aus armen und bildungsfernen Familien sehr genau und hat auch Ideen, wie politisch gehandelt werden müsste, um diese ‚abzumildern’… Auch während der Coronazeit hat er sich deutlich positioniert.
    Er hat auch den Mut, politisches Verhalten, das die Schere weiter auseinander gehen lässt, zu benennen. Leider trägt die momentane, linke Regierung auch nicht zu einer Verbesserung der Lage bei. Hilfen müssen meiner Meinung nach direkt bei den Kindern ankommen (z. B.gutes Kita- und Schulessen, qualifizierte Nachmittagsbetreuung mit guter Hausaufgabenbetreuung und günstige Eintritte in Zoos, Kinderveranstaltungen
    etc.)
    Wenn solche Menschen wirkliches Mitspracherecht bei politischen Entscheidungen hätten, könnte sich einiges zum Guten wenden…
    Danke für das wichtige Interview!

  2. Ein wichtiges Thema, das auf jeden Fall. Allerdings bin ich nicht ganz damit einverstanden, dass es grundsätzlich am wenigen Geld liegt, wenn man als Familie „nicht dazu gehört“.
    Familien, die von Sozialleistungen leben, sind aus verschiedenen Gründen in dieser Situation. Oft, und das darf ich sagen, da ich in einer Familie aufgewachsen bin, in der auch Sozialleistungen bezogen wurden, ist das Problem, dass diese Menschen nicht in der Lage sind, für sich selbst zu sorgen. Aus gesundheitlichen oder anderen Gründen.
    Nur, weil man sich keinen Urlaub im Ausland leisten kann, ist man ja gesellschaftlich nicht gleich abgehängt.
    Am Geld liegt es nicht, oft aber an der Fähigkeit der Bezieher von Bürgergeld und Co., das vorhandene Geld sinnvoll einzusetzen bzw. richtige Prioritäten zu setzen. Auch mit wenig Geld kann man sich theoretisch um die Belange seiner Kinder kümmern, seien es schulische, emotionale oder körperliche. Auch mit wenig Geld kann man seinen Kindern täglich ein warmes Essen kochen, die Wäsche waschen, aufräumen und sich ab und zu mal was besonderes „gönnen“.
    Aus meiner Sicht wäre irgendeine strukturierte Anleitung für das Familienleben für diejenigen, die das nicht hinkriegen wichtiger, als noch mehr Gelder für Hilfseinrichtungen wie die Arche.

  3. Ein super wichtiger Artikel. Danke.
    Ich lese immer sehr gern bei euch. Die Themen sind super vielfältig. Toll

    p.s ihr müsst wahrscheinlich nochmal den Titel ändern, da ist glaub ich was schief gelaufen („wirklich“ steht an der falschen Stelle)

    Liebe Grüße,
    Anna

    1. Dir ist schon bewusst, dass sehr viele Familien aufstocken zum Gehalt Bürgergeld beziehen müssen? Weil saß Gehalt einfach nicht reicht. In solchen Familien herrscht Struktur, es ist einfach nicht genug Geld da,,um den Kindern jeden Tag eine warme Mahlzeit zu ermöglichen. Oft sitzen Kinder auch ohne Frühstück in der Schule,die Brotdose bleibt leer, weil es einfach eine Rechnung ist, ob du es dir leisten kannst, 5 Tage die Woche deinem Kind Essen mit tut Schule zu geben oder nicht. Ich selber kenne Zeiten, da musste ich mich entscheiden, ob ich jetzt eine Packung Brot oder eine Packung Wurst kaufen kann. Für beides gleichzeitig hatte ich nicht genug Geld. Gott sei Dank hatte ich da noch kein Kind und war nur für mich selbst verantwortlich. Ich lief im tiefsten Winter mit Winterstiefeln herum, die undicht waren, weil ich arbeitslos ohne Bezüge war und es mur nicht leisten konnte, neue Schuhe zu kaufen. Da ich auch komplett meine Krankenversicherung selbst zahlen musste. Glaub es sich,,dass es Familien gibt, die nicht genug Geld haben, um Essen für ihre Kinder zu kaufen. Ja, auch in Deutschland. Und nein, das ist keine Ausnahme. Due vielen Stellen der Arche bestätigen das.

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