Familie in Armut: Immer Angst vor der nächsten Rechnung

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Ihr Lieben, in Deutschland sind 13,8 Millionen Menschen einkommensarm. Das ist ein neuer Höchststand. Als einkommensarm werden Haushalte bezeichnet, deren Nettoeinkommen unterhalb von 60 Prozent des mittleren Einkommens liegen – die genauen Zahlen variieren von Bundesland zu Bundesland. Unsere Leserin Julia gehörte zu diesen einkommensschwachen Personen, die und ihre Familie haben harte Zeiten hinter sich. Davon erzählt sie uns und wie sie heute endlich ihre Schulden abbezahlen kann.

Liebe Julia, wer gehört alles zu eurer Familie?

Wir sind mein Mann Tom (52), mein Sohn Max (6) und ich (40), außerdem haben wir noch einen kleinen Hund. Wir leben in NRW, bis vor einem Jahr wohnten wir noch in der Großstadt in einer 60qm Wohnung. Dann sind wir aufs Land gezogen, haben jetzt ein Haus mit 120qm und Garten. Ich bin Lehrerin (verbeamtet) und mein Mann hat einen Job im Kundendienst. Ich arbeite Vollzeit und er 25 Std pro Woche. 

Du hast dich zum Thema Armut bei uns gemeldet und sagst, dass ihr bis vor zwei Jahren unter der Armutsgrenze gelebt habt. Wie war damals eure Situation?

Ich war noch im Studium und mein Mann konnte nicht arbeiten. Im Oktober 2015 erkrankte er schwer an Depressionen und wurde zunächst krankgeschrieben. Als nach sechs Wochen dann das Krankengeld einsetzte, mussten wir schon mit ungefähr 30% weniger Gehalt auskommen. Ich hatte zu der Zeit noch einen Job, bei dem ich 250€ bekam und konnte durch private Nachhilfe noch etwa 400€ im Monat dazuverdienen. Nach einiger Zeit fiel aber auch das Krankengeld weg und da es ihm trotz Therapien noch nicht besser ging, mussten wir 2017 Hartz IV beantragen. Dort sagte man uns nach etlichen Anträgen und Widersprüchen, dass ich mein Studium abbrechen müsste (Oktober 2018 wurde ich fertig), da ich sonst nicht berechtigt war und kein Geld bekäme. Das habe ich natürlich nicht gemacht, sodass wir mit weniger als dem Grundsatz auskommen mussten.

Wie sah eure finanzielle Situation genau aus?

Zum Glück hatte ich einen 250€ Job. Der Nachhilfe-Job war durch Kind und Abschlussprüfungen und krankem Ehemann leider nicht mehr möglich. Es wurde dann vom Amt auch nur sein Anteil zur Miete gezahlt, sodass wir insgesamt etwa 1500€ hatten. Die Miete kostete 750 Euro, nach Abzug aller anderen Kosten wie Telefon, Strom usw. hatten wir etwa 400 Euro im Monat zum Leben.

In welchen Momenten/Situationen hast du damals die Armut gespürt?

Besonders bedrückend war für mich die ständige Existenzangst. Jeden Tag aufs Konto schauen und immer wieder am Ende des Monats einige Rechnungen nicht bezahlen zu können, macht einen richtig mürbe. Oft waren wir sehr verzweifelt und haben geweint, wenn zum Beispiel etwas kaputt ging und wir dringend ersetzen mussten (z.B. Waschmaschine). Wir haben uns zu Weihnachten und zu Geburtstagen immer nur Geld schenken lassen, damit haben wir dann längst überfällige Rechnungen bezahlt.

Das Schlimmste war eigentlich die soziale Ausgrenzung. Wir konnten am sozialen Leben im Grunde gar nicht mehr teilnehmen. Wenn Freunde mit uns Essen gehen wollten, haben wir abgesagt. Klar, wussten einige von unserer Situation und wollten helfen, aber ständig in der Schuld anderer zu stehen, ist auch sehr belastend. Wir haben unsere Freunde auch kaum mehr zu uns nach Hause einladen ging nicht. Wir konnten nichts anbieten und hatten in unserer zwei Zimmer-Wohnung auch schlicht keinen Platz.

Urlaub oder Kino war natürlich nie drin. Wir haben allerdings immer versucht, nur an uns und nie am Kind zu sparen. Wir haben zum Beispiel alles versucht, damit er zum Schwimmkurs gehen konnte.

Was hat das mit euch als Familie gemacht?

Ich würde sagen, dass es uns als Familie näher zusammengebracht hat. Wenn man auch solche schlechten Zeiten übersteht, dann macht das was mit einer Beziehung. Klar gab es auch oft Streit, weil wir beide einfach bis zum Bersten angespannt waren und es ja doch immer auch Situationen gab, in denen Geld ausgegeben werden musste. Aber insgesamt haben wir das gut gemeistert.

Wie und wann hat sich eure Situation verändert und wie sieht es heute bei euch aus?

Als ich 2018 dann endlich meinen Abschluss hatte, bekam ich dann auch offiziell Hartz IV, wodurch sich unsere Situation schon ein wenig verbessert hatte. 2019 ging ich dann ins Referendariat und verdiente mit meinen 2000€ so viel wie nie zuvor. So viel, dass Hartz IV dann komplett wegfiel und mein Mann sich selbst krankenversichern musste. Wir hatten hier auch nicht viel Geld übrig, aber immerhin etwas mehr als vorher.

Mit Abschluss des Refs 2021 wurde ich zum Glück direkt an meiner Schule verbeamtet und seitdem ist alles anders. Zudem hat mein Mann sich sehr erholt und kann seit 2020 auch wieder in Teilzeit arbeiten gehen.

Was könnt ihr euch heute leisten, was vor zwei Jahren noch undenkbar gewesen wäre?

Wir sind aus unserer winzigen Wohnung ausgezogen und in ein schönes Haus aufs Land gezogen. Zudem haben wir drei wirklich einige neue Klamotten gekauft, weil vieles so abgenutzt und kaum noch tragbar war. Meiner besten Freundin, die mich immer sehr unterstützt hat, habe ich nun endlich zum Geburtstag einen Wellness-Gutschein schenken können. Und wir können nun endlich unsere Schulden abbezahlen.

Rückblickend: Was war das Schlimmste für dich an der Armut?

Ich schaue fast täglich aufs Konto und mir fährt auch immer noch immer wieder ein Schreck durch die Glieder, wenn ich höhere Abbuchungen sehe oder wenn sich das Konto am Ende des Monats langsam leert. Ich rechne dann immer noch, wie viel ich noch brauche und was alles noch abgebucht wird. Ich denke, dass dieses getriebene Gefühl steter Angst das schlimmste war. Darüber hinaus treffe ich immer wieder auf viel Unverständnis. Kaum einer kann sich vorstellen, wie belastend eine solche Situation ist. Da ist man schnell mit unüberlegten Kommentaren, wie „sind ja nur 10€, da soll man sich nicht so anstellen“. Für einige sind 10€ sehr viel Geld, das man schlicht nicht erübrigen kann. 

Was hätte euch damals geholfen?

Geholfen hätte definitiv Aufklärung. Wir haben in der ganzen Zeit unterschiedliche Unterstützungen bekommen wie Wohngeld, Elterngeld, Arbeitslosengeld, Kinderzuschlag oder Hartz IV, wobei häufig nicht klar war, was uns eigentlich zusteht. Es gibt auch kaum Hilfe bei den Anträgen. Es verschlingt unheimlich viel Zeit und Energie diese Anträge zu stellen. Die Bearbeitungszeiten sind auch extrem lang, sodass da schon häufig Schulden entstehen. Die psychische Belastung ist enorm und man wird schnell in eine Rolle als Bittsteller*in gedrängt.

Wenn Geld nun gar keine Rolle spielen würde – welchen materiellen Wunsch würdest du dir erfüllen?

Dass ich darüber so lange nachdenken muss, macht mich sehr glücklich. Ich habe mir im letzten Jahr ja schon tatsächlich viele materielle Wünsche erfüllt und bin da sehr dankbar für. Ich freue mich, wenn ich unsere Schulden bezahlt habe und endlich etwas ansparen kann und der Grünen Zahl auf dem Konto beim Wachsen zusehen kann, sodass das Panikgefühl, wenn etwas abgebucht wird oder eine Rechnung ins Haus flattert, langsam aber sicher verschwindet. 

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5 comments

  1. Hallo Julia,
    da habt ihr wirklich eine schwierige Zeit hinter euch – ich wünsche euch alles Gute, deinem Mann auch gesundheitlich!

    Deine Geschichte zeigt, dass es trotz aller staatlicher Unterstützung leider für bestimmte Fälle blinde Flecken gibt.
    Gute Beratung bieten oft Beratungsstellen der Diakonie oder Caritas. Die kennen sich gut aus, welche finanziellen Hilfen es für welche Situation gibt.
    Außerdem können Anträge für Stiftungsgelder gestellt werden.

    Aus meiner Sicht ist deine Geschichte aber kein klassischer Fall von Armut bzw Armutsbetroffenheit.
    Es war zum Glück absehbar, wann ihr aus der Situation heraus kommt und dass dich dann ein gutes Gehalt erwartet.

    Ihr hattet – so habe ich es heraus gelesen – persönliche und strukturelle Ressourcen, die viele von Armut betroffene Familien nicht haben, zum Beispiel auch die finanzielle Unterstützung durch euer Umfeld (Familie vermutlich) zu Geburtstagen und Feiertagen, um offene Rechnungen zu begleichen.

    Damit möchte ich eure Situation nicht bagatellisieten, hoffentlich wirkt es nicht so. Für drei Jahre in so einer Anspannung zu leben war bestimmt eine Erfahrung, auf die ihr gerne verzichtet hättet.

    Viele Grüße Magda

  2. Glückwunsch zunächst, dass Du und Ihr Euch da hindurchgekämpft habt.

    Die Schilderung Eurer bestimmt anstrengenden und schwierigen Zeit passt für mich jedoch nicht zum Titel „Familie in Armut“.

    Während des Studiums zT äußerst prekär zu leben ist einigermaßen normal. Ungewöhnlich ist jedoch, erst mit Ende Dreißig ein Studium abzuschließen. Das erklärt sich mir entweder gar nicht oder es gab eine frühere Ausbildungs-/ Erwerbsbiografie, die bewusst und gewollt zu Gunsten der Perspektiven des Studiums aufgegeben wurde.

  3. Hallo Julia, danke für deinen Beitrag! Es zeigt, dass es in unserem Sozialstaat doch ziemlich krankt, insbesondere für chronisch Kranke. Es gibt nur a) Berufsunfähigkeitsrente, diese wird meistens abgelehnt oder b) Hartz 4, dafür muss man erst seine Ersparnisse aufbrauchen oder man soll sein Studium abbrechen! Man ist doch sehr auf seine gesundheitliche Leistungsfähigkeit angewiesen in Deutschland. Krankheitsbedingt kann man problemlos gekündigt werden, wenn man seinen Beruf nicht mehr schafft, aber das muss man dann dem Amt erklären! Da braucht man etwas wirklich Objektives und /oder einen wohlwollenden Arzt. Bei Depressionen fehlt ja oft immer noch das Verständnis. Bei mir sind es Asthma, Lungenschmerzen, Post Covid und Tinnitus. Da weiß kein Arzt, wie ich mich wirklich fühle und so versuche ich, meinen Teilzeitjob mit Anfang 50 körperlich noch irgendwie ein paar Jahre zu schaffen, bis es gar nicht mehr geht. Rente gibt’s dann auch nur für einen Teilzeitjob…

    1. Es gibt nun mal „krumme“ Lebensläufe, die eben nicht „klassisch“ gerade verlaufen. Da gibt es nichts zu verstehen…natürlich fällt dieser Aspekt auf. Klar. Mir auch. Aber da ich selbst ebenfalls nochmal mit 40 eine Ausbildung gemacht habe und weitere ähnliche Fälle kenne, finde ich es nicht fragwürdig, sondern mega toll, diesen Schritt auch in einem älteren Stadium zu wagen, an sich zu glauben und es schließlich zu schaffen. Es gab bei mir viele merkwürdige Blicke, Fragen, Kommentare.
      Jeder hat andere Gründe so spät noch einen neuen Bildungs/Berufsweg einzuschlagen. Diese gehen niemanden etwas an, weil dahinter häufiger schwierige Schicksale, Fehlentscheidungen, evtl. Scham oder sonstige Probleme stehen, die nichts zum Thema beitragen. Wichtig ist – man hat die Kurve bekommen. Es funktioniert. Auch mit 30-40+ kann man sein Leben nochmal völlig umkrempeln. Und das ist großartig so!

  4. Liebe Julia, vielen Dank für deine Offenheit und Ehrlichkeit. Ich habe leider recht ähnliche Phasen in meinem Leben als Mutter und Lehrkraft erlebt. Besonders unglücklich empfand ich, dass in der Gesellschaft das Bild besteht, dass Lehrkräfte für viel Geld wenig arbeiten. Die Gehälter variieren leider sehr stark und es hängt einfach auch davon ab, mit wie viel Arbeitszeit man wie viele Menschen finanziert. Auch Elternzeiten sind heftig, wenn man den Familienverdienst allein bestreitet. Zudem war ich auch nach meinem Studium leider verschuldet, obwohl ich bis auf die heftigen Examensphasen immer Nebenjobs hatte. Zum Glück sind wir finanziell nun eine Weile stabil. Aber ich merke auch, dass ich beim Kontocheck oder in Momenten, in denen man sich etwas leistet noch immer den alten Ängsten begegne. Ich bin entsetzt, dass das Arbeitsamt verlangt hat, dass du deine Ausbildung abbrichst und ziehe meinen Hut vor dir. Auch weil du es geschafft hast mit deinem Mann ein Paar zu bleiben. Danke!

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