Gewalt im Klassen-Chat: „Wir verlieren unsere Kinder an die Medien“

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Foto: pixabay

Ihr Lieben, wenn es um den Medien-Konsum unserer Kinder geht, scheiden sich die Geister. Alle sind sich aber wohl einig, dass das Internet Fluch und Segen sein kann. Silke Müller ist nicht nur Schulleiterin an der Waldschule Hatten, sondern auch Digitalbotschafterin des Landes Niedersachsen und sieht die Entwicklung eher kritisch. Sie beobachtet dort Gewalt, Missbrauch und Rassismus.

In ihrem Buch Wir verlieren unsere Kinder widmet sie sich dem verstörenden Alltag im Klassen-Chat. Nicht die Dauer des kindlichen Medienkonsums sei ihre größte Sorge, sondern die Inhalte, die sie konsumierten.

Portrait Silke

Liebe Frau Müller, Sie schreiben, eine Medienkompetenz sei in vielen Schulen und Familien noch immer ein Fremdwort. Warum ist das so und welche Veränderungen bräuchte es?

Möglicherweise ist der Begriff kein Fremdwort. Die Bedeutung aber ist meines Erachtens oft auf eine klassische Verbots- und Regulierungsdiskussion beschränkt. Wie lange darf mein Kind am Tag am Handy sein oder sprichwörtlich „daddeln“, welche Spiele sind erlaubt, welche Filter braucht es auf meiner Fritz Box?

Diese Fragen sind klassisch für unser Verständnis von Medienkompetenz. Gleichzeitig müssen wir uns aber im Grunde eingestehen, dass wir selbst in unserer Generation (ich bin Jahrgang 1980) gar keine Medienkompetenz aufbauen konnten. Zumindest nicht, was den Umgang mit sozialen Netzwerken, Onlinegames und Ähnlichem angeht.

Wie war das früher?

In meiner Schule gab es früher sicher einen Computer-Raum, ob ich den allerdings jemals betreten habe, weiß ich allerdings nicht mehr. Interaktion und Kommunikation war letztlich kein Thema, schließlich gab es noch keine sozialen Netzwerke. Als diese so langsam mit Facebook, Instagram und WhatsApp einzogen, waren viele von uns fasziniert und nutzten die neuen Möglichkeiten des Austauschs ziemlich unbedarft.

So richtig verstehen kann ich das Phänomen, jedes Bild aus dem Alltag zu teilen nach wie vor nicht. Schließlich bin ich ja damals auch nicht mit meinem Fotoalbum unterm Arm durch die Welt spaziert und habe selbst fremden Menschen den Blick hinein angeboten. Letztlich ist diese Entwicklung aber eben da. Und sie hat sich eindeutig auf unsere Kinder übertragen.

Wir sollten also zuallererst aufhören, die Kinder immer nur zu sanktionieren oder gar zu kriminalisieren im Sinne von „Wie kannst Du nur!“, „Warum hast Du das gemacht?“. Vielmehr gilt es hinzusehen und zum Begleiter auf Augenhöhe zu werden.

Wie sähe so eine zeitgemäße Medienkompetenz Ihrer Meinung nach aus?

Ganz klar braucht es hier Möglichkeiten, zunächst selbst zu sehen, was die Kinder sehen. Will man sich selbst keinen Account bei den Netzwerken der Kinder zulegen (was ich jedoch empfehle), muss man sich dennoch Informationen darüber beschaffen, was in diesen Netzwerken, besonders ist es eben derzeit TikTok, geteilt wird und die Kinder täglich erreicht.

Erst, wenn ich verstehe, was die Kinder sehen, begreife ich die Dimension und die Notwendigkeit, ihnen über das Gesehene zu sprechen, quasi um wirklich dadurch die eigene Seele ein wenig zu reinigen. Gleichzeitig gibt es unglaublich gute Präventionsprogramme bei einzelnen Medienpädagogen, bei Initiativen wie weitklick.de, klicksafe.de, law4school.de und vieles mehr.

Was bedeutet das noch?

Das bedeutet gelichzeitig, dass man sich Zeit nehmen muss, sich mit der Materie zu beschäftigen und auseinanderzusetzen. Ich empfehle auch immer wieder, ein Online-Spiel, das die Kinder selbst spielen möchten zunächst mal eine Zeit lang selbst zu spielen, um die Abläufe dahinter zu verstehen und auch um zu begreifen, dass man gerade in solchen Spielen den Kindern große gefahren aussetzt, da immer wieder insbesondere Cybergrooming ein Problem darstellt.

Können Sie das genauer beschreiben?

Wildfremde Menschen nehmen dabei im Zuge des Spiels bspw. Kontakt mit den Kindern auf, versuchen das Vertrauen zu gewinnen, um dann in sexuell motivierte Übergriffe überzugehen. Ich empfehle diesbezüglich auch unbedingt den Kanälen von dem renommierten Cyberkriminologen Prof. Dr. Thomas Gabriel-Rüdiger zu folgen, der immer wieder sehr deutlich über Gefahren aufklärt und gute Tipps für Prävention gibt.

An unserer Schule haben wir zudem seit Jahren eine Social Media-Sprechstunde eingerichtet. Das Konzept kann man auf unserer Homepage www.waldschule-hatten.de finden. Hier gibt ein Kollege den Kindern die Möglichkeit, vertraulich mit ihm über Erfahrungen, vielleicht Probleme und Sorgen zu sprechen. Und bei unseren regelmäßigen Social-Media-Infoabenden zeigen wir den Eltern sehr klar anhand von Screenshots etc., was die Kinder tagtäglich sehen. Da sitzt der Schock oft sehr tief.

Medienkompetenz heißt also in erster Linie, die Dimensionen der Gefahren im Netz zu erkennen und ein Bewusstsein dafür aufzubauen. Erst dann werden wir wohl beginnen, unsere Kinder wirklich zu begleiten und zu schützen.

Sie sind Schulleiterin in Niedersachsen und seit 2021 erste Digitalbotschafterin ihres Landes. Welche Werte sind Ihnen dabei wichtig?

Vertrauen. Zuhören, um zu verstehen, nicht um direkt um zu antworten um sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen. Empathie. Mitmenschlichkeit. Und vor allem Mut, sich gegen Ungerechtigkeiten zu erheben. Gerade im Netz.

Sie haben nun ein Buch geschrieben. Es trägt den doch etwas reißerischen Titel „Wir verlieren unsere Kinder!“ Im Untertitel heißt es: „Gewalt, Missbrauch, Rassismus – der verstörende Alltag im Klassen-Chat“. Soll das vor allem eine Warnung an die Eltern sein?

Nicht nur an die Eltern. An uns alle. An alle, denen Kinder und Jugendliche wichtig sind und ich hoffe, dass das in unserer Gesellschaft noch immer so ist. Man sagt so schön, dass es ein ganzes Dorf bräuchte, um ein Kind zu erziehen.

Hier ist die Dimension nun noch viel größer: Man braucht alle Teile der Gesellschaft, um die Kinder in einer sich nicht nur digital immer weiter verrohenden, radikalisierenden, intoleranten, respektlosen Welt zu beschützen. Vor Alpträumen. Vor falschem Vorbild. Vor insbesondere sexuellen Übergriffen. Vor Diffamierungen und Demütigungen, welche ein einzelnes geteiltes Foto schon auslösen kann.

Was genau sehen die zum Teil noch sehr jungen Kinder in den Klassen-Chats, haben Sie da ein paar Beispiele für uns?

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Schon Grundschüler sehen Bilder von Suiziden, von Kriegsverbrechen oder bestialischen Tierquälereien auf ihren Handys. Verschickt im Klassen-Chat oder auf Social Media geteilt. Die Eltern: ahnungslos.

Foltervideos wie z.B. die Kastration eines Mannes, Sexualpraktiken, die sicher nichts mehr mit einer normalen Intimität für junge Menschen, die sich gerade erst in ihrer Sexualität finden, zu tun haben. Sie sehen homophobe und menschenverachtende Sticker und Memes.

Das alles sind dann vielleicht Bilder, die irgendwo aus dem Netz kommen. „Die Faszination des Grausamen gab es schon immer“, höre ich dann oft. Die Häufigkeit und Zugänglichkeit aber und vor allem die Einfachheit, selbst Inhalte zu produzieren und zu verbreiten ist aber schlichtweg kaum noch zu überblicken. Und dann sind es eben oft die Bilder, Hassnachrichten, Kommentare, die sich gegen eigene Klassenkameraden oder Lehrer richten.

Nicht zuletzt der tragische Fall des getöteten Mädchens Luise hat doch gezeigt, wie unfassbar schnell Fotos, Bilder, Kommentare, Vermutungen über Opfer und Täter bei TikTok veröffentlicht wurden. Ich mag mir nicht einmal vorstellen, dass das Eltern Angehörige, Freunde, Schulkameraden auch noch ertragen mussten und nach wie vor müssen.

Sie nennen das, was die Kinder da sehen, eine „alarmierende Dimension“. Welche Empfehlungen sprechen Sie dazu aus?

Ich appelliere an Eltern und Politik, nicht länger wegzusehen, sondern endlich die Brisanz und Gefahr, die von sozialen Netzwerken für Kinder, Jugendliche und letztlich auch für die Gesellschaft ausgehen, zu erkennen. Es braucht unbedingt, unverzüglich und egal mit welcher finanziellen Kraftanstrengung eine Online-Polizeiwache, an die sich Kinder im Falle des Falles direkt im Netz per App oder Klick wenden können.

Es braucht digitale Streetworker wie früher die „Nummer gegen Kummer“. Und es braucht endlich ein großes Bewusstsein, was offen im Netz zugänglich ist. Für alle braucht es dringend eine zeitgemäße Medienkompetenz. Ich lade jeden Interessierten gern ein, einmal an unseren Informationsabenden zu sozialen Netzwerken teilzunehmen. Wir dürfen nicht mehr wegsehen!

Nun klingt das alles schon eher heftig. Sie sagen gleichzeitig aber auch, es ginge Ihnen nicht um die Verteufelung des Internets und der so genannten sozialen Netzwerke. Wie lassen sich diese Aussagen in Einklang bringen?

Bleiben wir bei TikTok. Wie viele lustige, kreative und erheiternde Accounts es dort gibt, kann ich gar nicht zählen. Wie kreativ z.B. schwere Matherechenwege erklärt werden, Nachrichten durch Accounts aller großen Medienhäuser kindgerecht und modern präsentiert werden, das ist einfach super.

Wie wichtig die Möglichkeit ist, gerade über soziale Netzwerke und Streams wie Videokonferenzen im Austausch zu sein und Informationen zu teilen, haben wir ja nicht zuletzt in der Pandemie wohl alle im eigenen Alltag erfahren.

Gleichzeitig aber lassen wir zu, dass die dunkle Seite dieser Netzwerke genau diese großen Vorteile immer mehr überschatten. Letztlich ist genau diese Seite außer Kontrolle geraten und hieran trägt unsere Generation durch oftmals falsches Vorbild eine große Schuld. Überlegen Sie doch mal, wie oft wir Erwachsenen den größten Mist in den Netzwerken posten, wie Erwachsene über andere herziehen, Hassnachrichten formulieren, wie in WhatsApp-Gruppen oft öffentlich über Lehrer geschimpft und gerichtet wird.

Meinen wir wirklich, es sind nur unsere Kinder? Wir haben im Grunde diesen Weg überhaupt erst möglich gemacht und dabei außer Acht gelassen, dass es einen Wertekonsens für den Umgang miteinander im netz gebraucht hätte, wie überall, wo Menschen im Leben aufeinandertreffen. Nicht das Netz ist also schuld, sondern die, die es letztlich füllen und das sind wir.

Was würden Sie als Schulleiterin Ihren Kindern gern mitgeben wollen in die digitale Welt?

Viel mehr Selbstbewusstsein und Mut, sich selbst zu vertrauen und vor allem, sich selbst zu lieben. Kinder und Jugendliche aber sicher auch viele Erwachsene sind mittlerweile derart gesteuert von „Likes“, dem Zuspruch und der Be- und oft eben leider auch Verurteilung von außen, dass sie nur genau dieser Anerkennung nachjagen. Dafür scheint kein Filter zu wenig und keine Selbstdarstellung ausgeschlossen zu sein. Anerkennung erhält dabei eine Maske.

Ich würde mir so sehr wünschen, dass insbesondere unsere Heranwachsenden sich wieder demaskieren, zu sich selbst finden und das Smartphone voller Überzeugung einfach zur Seite legen können, um wieder mehr Luft in der ganz realen Welt zu schnuppern und Menschen kennen- und lieben zu lernen.

Und welche Handlungsempfehlungen sprechen Sie an Eltern aus, damit kein Kind traumatisiert wird – und doch auch die Jüngsten von der Digitalisierung profitieren können?

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Bitte und unbedingt: Halten Sie sich ausnahmslos daran, dass ein Smartphone nichts, aber auch gar nichts in der Nacht am Bett des Kindes zu suchen hat. Seien Sie klar und konsequent in Ihren Vorgaben und Regeln. Sprechen Sie von Beginn an deutlich an, dass das Netz keine Privatsphäre bietet, selbst wenn der eigene Account auch noch so abgesichert ist.

Erläutern Sie, dass das Smartphone deswegen manchmal genauso gemeinsam aufgeräumt werden muss, wie das eigene Kinderzimmer. Bieten Sie immer und zu jeder Zeit das Gespräch an, wenn die Kinder sich unsicher fühlen oder wirklich vielleicht auch eigene Fehler gemacht haben.

Vor allem aber sind einige Dinge aus meiner Sicht besonders wichtig: Nehmen Sie sich Zeit. Zeit für gemeinsame Essen zuhause, an denen kein Smartphone teilnehmen darf. Zeit für gemeinsame Spaziergänge. Was für die Kinder erst unfassbar ätzend wirkt, entpuppt sich plötzlich zu einem unglaublich guten Rahmen für Gespräche.

Zeigen Sie Ihren Kindern, dass es im digitalen Raum kein Thema gibt, dass nicht angesprochen werden darf, indem Sie zuhören, interessiert sind und sich auch Phänomene erklären lassen, die wir für absolut überflüssig halten. Und vor allen Dingen, zeigen Sie Ihrem Kind immer wieder, wie sehr sie es lieben und wie stolz Sie auf das Kind sind. Sagen sie es, umarmen Sie Ihr Kind. Hier und jetzt, im echten Leben und nicht nur als schnöde SMS.

Verraten Sie uns zu guter Letzt noch die Handyregeln für Ihre zwei eigenen (Stief-)Töchter?

Mein großes Glück ist das Alter der beiden „Zwerge“. Beide sind nun schon knapp über 20. Also aus dem Gröbsten raus. Dennoch hat meine fast zehnjährige Schwerpunktarbeit auf diesem Gebiet dafür gesorgt, dass meine Mädels gleichzeitig meine Beispielgeberinnen waren. Wir haben auch im Netz miteinander viele Höhen und Tiefen bewältigt. Sicher wurde auch die ein oder andere Konsequenz ausgesprochen, diskutiert über das aus meiner Sicht unangemessene, gepostete Foto.

Insgesamt aber waren die Probleme und Plattformen damals noch übersichtlich. Svenja und Jessica sind mittlerweile selbst schockiert, wenn ich von der Entwicklung bei TikTok und Co. berichte und ihnen einen Einblick in meine Arbeit gebe. Erst vor kurzem sagte Svenja, dass sie so unfassbar froh sei, dass „das Ganze damals so überhaupt nicht vergleichbar“ war.

Eine 24Jährige schaut in ihren jungen Jahren auf eine schauerliche Welt, die wir alle gemeinsam haben wachsen lassen. Ist das nicht ehrlich gesagt total erschreckend? Wir alle müssen endlich hinschauen, die Dimension der wirklich gefährdenden Inhalte begreifen, um den Kindern endlich helfend und vor allem in ihrer Lebenswelt beschützend zu begegnen.

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4 comments

  1. Vielen Dank für diesen unglaublich wichtigen Artikel und den Hinweis auf das Buch.
    Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, dass es hierauf so wenig Feedback gibt und wenn, dann zum Thema Werbebanner…

  2. Erstmal danke für diesen großartigenArtikel. Es ist so wichtig, über die Gefahren im Umgang mit den neuen Medien bzgl unserer Kinder zu informieren! Danke!

    Bzgl Werbung: Die Werbebanner erscheinen bei jedem Artikel. Ich finde dies überhaupt nicht schlimm, denn diese Werbung ermöglicht die Finanzierung dieses Blogs und die kostenfreie Nutzung der Artikel für uns alle. Daher nehme ich diese Banner gerne in Kauf.

  3. Ich muss einfach mal erwähnen, wie absoluz nervtötend das blinkende Werbebanner am unteren Displayrand ist. Hat man es weggeklickt, erscheint es 15 Sekunden später erneut. Muss das sein??

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