„Mein Vater war Alkoholiker, meine Mutter spielsüchtig“ – Interview mit Julia

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Ihr Lieben, vor ein paar Tagen hatten wir hier den Gastbeitrag von Yasmin, die über ihre Kindheit voller Gewalt berichtet hat. Die Reaktionen darauf waren unglaublich – viele von Euch haben ganz Ähnliches erlebt und wollten davon erzählen. So auch auch Julia, die wir heute im Interview haben: 

Liebe Julia, Du hast Gewalt in Deiner Kindheit erleiden müssen. Wer hat sie Dir angetan und wann fing es an?

Mein Vater war ein prügelnder Alkoholiker, meine Mutter war spielsüchtig und hat nach der Scheidung von meinem Vater auch oft zugeschlagen. Gerne mit dem Kleiderbügel oder Holzkochlöffel. 

Es begann sehr früh in meiner Kindheit, ich muss etwa zwei Jahre alt gewesen sein. Damals gab es noch keine Fernbedienungen für den Fernseher und ich war dafür zuständig, die Programme umzuschalten, wenn mein Vater TV guckte. Wenn ich es wagte, umzuschalten, ohne dass er es sagte, schlug mein Vater zu. Als ich vier oder fünf Jahre alt war, schlug mein Vater einmal so heftig zu. dass ich durch das Badezimmer flog. Ich schlug zwischen Klo und Badewanne auf, mien Vater ließ mich einfach liegen. Wenn mein Vater getrunken hatte, war er sehr gewaltbereit. 

Hattest Du auch mal das Gefühl, geliebt zu werden?

Ich war ein Unfall, das wurde mir ständig gesagt. Vor mir hat meine Mutter ein Kind abgetrieben, nach mir zwei Kinder. Sie sagte mir oft, es wäre besser gewesen, wenn sie mich auch abgetrieben hätte. Ich hörte ständig Sachen wie: "Wenn DU nicht gewesen wärst, hätte ich meinen tollen Job nicht aufgeben müssen. Wenn DU nicht gewesen wärst, hätte ich deinen Vater nicht heiraten müssen. Ohne DICH wäre mein Leben so viel einfacher gewesen!' Sie hat mir also quasi ständig meine Existenz zum Vorwurf gemacht, obwohl ich da ja nun am wenigsten für konnte.

Wie haben sich Deine Eltern verhalten, nachdem sie Dich geschlagen haben? 

Sie haben sich nie entschuldigt., Ich war immer die Böse und ich war immer schuld an den Schlägen. Mit meinem Vater habe ich keinen Kontakt mehr, mit meiner Mutter schon. Wenn ich sie später damit konfrontiert habe, machte sie sich lächerlich, sagte: "Jaja, ich war ja soooo eine schlechte Mutter." Meine Mutter ist ebenfalls von ihrem Vater geschlagen worden, sie kennt es nicht anders. 

Wie hast Du Dich nach den Übergriffen gefühlt?

Einfach nur klein und schlecht. 

Sind die Übergriffe jemand aufgefallen? 

Nein, nicht wirklich. Als meine Eltern sich getrennt haben, hat mein Vater schnell wieder geheiratet. Meine Stiefmutter hat die Schläge natürlich gesehen, sie hat aber ebenfalls viel getrunken und nicht eingegriffen. 

Hast Du Dich jemand anvertraut?

Nein, ich habe mich geschämt. Meine Oma, die Mutter meiner Mutter, wusste aber, wie es mit geht. Sie habe ich auch immer angerufen, wenn meine Mutter mal wieder in der Spielhalle und ich abends alleine war. 

Du bist dann in eine Pflegefamilie gekommen. Wann war das?

Mit 12 Jahren. Meine Mutter spielte nur noch und ich war einfach zu viel alleine. Bekannte von meiner Mutter, die ebenfalls zwei Teenager-Töchter hatten, haben mich aufgenommen. Ich habe dort auch keine große Liebe erfahren. Ich war eben da, meist alleine in meinem Zimmer oder bei Freunden.

Du hast versucht, Dir das Leben zu nehmen. 

Ja, drei mal. Das letzte Mal war es auch ganz schön knapp…Meine Couisine hat mich damals im Krankenhaus besucht und sagte nur: "Weißt Du eigentlich, was Du Deiner armen Mutter damit antust?" Niemand fragte nach den Gründen für meinen Suizidversuch. Meine Mutter holte mich irgendwann ab und wir sprachen nie ein Wort darüber. 

Wann hast Du damit begonnen, Deine Erlebnisse professionell aufzuarbeiten?

Mit 24 oder 25 Jahren hatte ich wieder eine Phase, in der es mir psychisch sehr schlecht ging. Ich hatte wieder Suizid-Gedanken und zog die Reißleine. Ich ging zweimal die Woche in die Therapie, das hat mich gerettet. Die Therapeutin sagte zu mir: "Es ist ein Wunder, dass Sie diese Kindheit überlebt haben." 

Wie hat die Gewalt in Deiner Kindheit Dich geprägt?

Ich habe bis heute Albträume. Außerdem habe ich mir lange Partner gesucht, die mich ebenfalls schlecht behandelten. Dieses unterbewusste Muster habe ich dank Therapie durchbrochen, bin heute glücklich verheiratet und habe zwei tolle Töchter. 

Was ist Dir in ihrer Erziehung besonders wichtig?

Ich möchte, dass sie so viel Geborgenheit wie möglich erfahren und ganz viel Liebe bekommen. Das heißt nicht, dass ich nicht auch konsequent oder auch mal streng bin. Aber ich schreie nicht rum und ich würde sie niemals schlagen. 

Du hast heute noch Kontakt zu Deiner Mutter – warum?

Ich wollte meiner Mutter die Chance geben, eine gute Oma zu sein. Ich habe ihr mehr als nachdrücklich deutlich gemacht habe, dass sie ihre Enkelkinder nie wieder sehen wird, wenn sie mit ihnen auch nur ansatzweise das macht, was sie mit mir als Kind getan hat. Ich liebe meine Mutter nicht. Ich nenne sie nicht Mama oder Mutti. Ich nenne sie Oma. Ich habe eine gewisse Art von Mitleid für meine Mutter, weil sie selbst als Kind geschlagen wurde und es vielleicht einfach nicht anders kannte…

Was möchtest Du unbedingt noch sagen zu dem Thema?

Das ist ganz einfach: Man darf Kindern niemals Gewalt antun. Keine körperliche und keine Seelische. Denn das werden sie ihr ganzes Leben nie wieder los.

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1 comment

  1. Sehr reflektiert
    Liebe Julia,
    ich finde dein Interview sehr mutig, weil es so offen und reflektiert ist. Du bist bestimmt eine gute Mama für deine Kinder! Dazu gehört doch aber auch auf sich hier und heute selbst zu achten. Geht es dir gut, wenn du mit deiner Mutter trotz allem in Kontakt stehst? Ihr Nichthandeln war ja kein kleines Delikt, Vernachlässigung und Misshandlung in diesem Umfang zuzulassen, sind strafbar. Wenn du mit ihr im Kontakt stehst musst du unweigerlich schmerzlich daran erinnert werden oder dein Körper psychosomatisch. Verständlich, dass du Mitleid hast. Aber wenn Sie keine gute Mutter war, wird sie auch keine gute Oma sein. Menschen ändern sich selten, es sei denn mithilfe guter Therapie. Alles Gute und beschütze weiterhin deine Kleinen. LG