Meine Mutter hat sich das Leben genommen – es prägt mich das bis heute

candle gec60f2341 1920

Ihr Lieben, viele von euch haben eine sehr enge Bindung zur eigenen Mutter. Doch was, wenn sie schon früh verstorben ist und man selbst nur kaum oder wenige Erinnerungen an sie hat? Wie beeinflusst das das ganze Leben? Genau darüber haben wir mit unserer Leserin Regina gesprochen, ihre Mutter hat sich das Leben genommen, als Regina sechs Jahre alt war. Danke für deine Offenheit, liebe Regina.

Liebe Regina, vor über dreißig Jahren hat sich deine Mutter das Leben genommen. Du warst damals 6 Jahre alt. Welche Erinnerungen hast du an deine Mama?

Da ich noch recht jung war, habe ich leider nicht sehr viele eigene Erinnerungen an meine Mutter. Das Meiste was ich über sie weiß, weiß ich aus den Erzählungen meines Vaters und meiner Großeltern. Es gibt allerdings auch ein paar Sachen bzw. Momente, an die ich mich noch erinnere. Meine Mutter war ein sehr warmherziger, geduldiger und naturverbundener Mensch. Wir haben sehr viel Zeit draußen verbracht und sie hat mir sehr viel über die Natur beigebracht.

Sie war eine gute Zuhörerin und hat mich fast immer ins Bett gebracht und blieb bei mir, bis ich schlief, allerdings nicht, ohne dass ich 3 Geschichten vorgelesen bekommen hatte.

Warum sie ihrem Leben so plötzlich ein Ende gesetzt hat, kann leider niemand beantworten. Es muss wohl eine Kurzschlussreaktion gewesen sein, sie hatte sich einen Tag davor erst ein paar neue Wanderschuhe und Stöcke gekauft und einen Abschiedsbrief gab es auch nicht. Das macht es für uns alle bis heute sehr schwer das Ganze zu verstehen. Unendlich oft habe ich mir gewünscht, es gäbe doch einen Brief, der etwas Licht ins Dunkle bringen würde. Meine Familie vermutet, dass sie vielleicht depressiv war. Aber es hätte dafür nicht wirklich Anzeichen gegeben.

Wie hast du vom Tod deiner Mutter erfahren?

An diese Situation erinnere ich mich leider nur zu gut. Ich musste von der KITA abgeholt werden, da ich plötzlich Schüttelfrost hatte und mich übergeben musste. Ich erinnere mich noch genau an das Büro der Kitaleitung, in dem ich gefühlt eine Ewigkeit saß, bis mein Vater kam und mich abholte.

Wir fuhren nach Hause. Dort saßen dann zwei Freunde meines Vaters am Tisch. Mein Vater ging mit mir in mein Zimmer. Mir ging es wohl wieder besser, denn ich erinnere mich, dass ich auf dem Bett herumhüpfte, während er neben mir saß und mich ein paar Mal ermahnte, damit aufzuhören, da er mir etwas sehr Wichtiges zu sagen hätte. Dann sagte er mir, dass Mama heute nicht nach Hause kommen würde und auch morgen nicht und übermorgen auch nicht, weil sie jetzt ein Engel wäre. 

Wie wurde mit dir in dieser Ausnahmesituation umgegangen? Wurde mit dir über den Tod deiner Mutter geredet?

Ja, es wurde mit mir darüber gesprochen, allerdings immer nur dann, wenn ich fragte. Dann bekam ich eine Antwort. Ansonsten wird dieses Thema bis heute gerne totgeschwiegen. Professionelle Hilfe bekam ich keine. Im Nachhinein wäre dies aber wirklich nicht verkehrt gewesen.

Mit 16 hatte ich mir dann selbst Hilfe bei einem Psychologen gesucht, allerdings stellte sich nach dem Kennenlerngespräch heraus, dass er nur Privatpatienten behandelt. Einen weiteren Anlauf habe ich bis heute nicht geschafft, da mein Vater mir immer wieder eingeredet hat, dass das alles Schwachsinn ist und einem bei sowas ein Psychologe eh nicht helfen kann. In letzter Zeit spiele ich immer öfter mit dem Gedanken mir Hilfe zu holen. Aber dann kommen mir Zweifel, weil das ganze ja schon so lange her ist…

Wie bist du nach dem Tod deiner Mutter aufgewachsen?

Da mein Vater Schicht arbeitete, sind wir zu meinen Großeltern gezogen und meine Oma hat ihre Arbeit gekündigt, damit sie sich um mich kümmern konnte. Anfänglich wurde noch viel darüber gesprochen, was ich bzw. wir alles mit meiner Mutter erlebt haben. Nur ihr Tod selbst war ein Tabuthema.

Irgendwann wurden die Gespräche über meine Mutter weniger, aber auch daran lag, dass ich merkte, dass es mein Gegenüber immer traurig machte, sobald ihr Name fiel. Ich muss aber sagen, dass meine Familie wirklich alles gegeben hat, um mir eine schöne Kindheit zu ermöglichen. Ich habe mich stets geliebt und geborgen gefühlt.

Wie war dein Verhältnis zum Vater? Wie hat er den Tod seiner Frau überwunden?

Das Verhältnis zu meinem Vater ist bis heute sehr eng. Er ist für mich Mama und Papa in einer Person und ich möchte gar nicht daran denken, dass ich ihn auch irgendwann verlieren werde. Allein beim Gedanken daran kommen mir die Tränen.

Mein Vater hat nie viel über den Tod meiner Mutter gesprochen. Er wollte der Starke sein für mich. Irgendwann habe ich ihm mal gesagt, dass ich damals mitbekommen habe, dass er abends viel geweint hat. Darüber war er sehr überrascht, denn er dachte, ich hätte das nicht mitbekommen. Mein Vater verbindet aber bis heute (leider) die Gefühle Wut und Trauer mit dem Tod meiner Mutter, denn er war lange sehr wütend darüber, dass sie uns alleine gelassen hat.

Er hat sich schnell wieder in eine Beziehung gestützt, die aber nicht lange hielt. Heute sagt er, dass es einfach der Wunsch nach der „heilen Familie“ war.

Wann in deiner Kindheit und Jugend hast du deine Mutter am meisten vermisst?

In meiner Grundschulzeit definitiv an Muttertag, wenn wir ein Geschenk für unsere Mütter basteln mussten und alle sich freuten, es ihnen zu geben. Ich überlegte dann, wo ich den schönsten Stein suchen kann, um mein Gebasteltes auf dem Friedhof gegen das Wegfliegen zu sichern.
Ich vermisse meine Mutter aber bis heute ständig.  Am meisten fehlt mir meine Mutter an meinem Geburtstag und bei jedem neuen „Lebensabschnitt“. Sei es der erste Freund, über den ich gerne mit ihr geredet hätte oder halt auch so viele andere Dinge, die sie nicht miterleben konnte. Abitur, Abschluss meiner Ausbildung, Staatsexamen, meine Hochzeit, die Geburt meines Sohnes. Es gibt so viele Momente, an denen sie fehlt.

Nun bist du heute selbst Mutter. Inwieweit beeinflusst dich das Fehlen deiner Mutter heute mit deinem eigenen Kind?

Es macht mich natürlich sehr traurig, dass meine Mutter und mein Sohn sich nie kennenlernen durften. Aber ich war von Anfang an offen und habe ihm erklärt, dass seine eine Oma früh ein Engel wurde. Ich möchte, dass er es weiß und will es nicht totschweigen (wie es meine Familie hauptsächlich getan hat bzw. tut)
Trotzdem ist dieser Weg manchmal nicht einfach, denn bald wird er 6 und ist dann in dem Alter, in dem ich meine Mutter verlor. Wenn ich darüber nachdenke, dann macht mich das sehr traurig, denn es führt mir vor Augen wie klein und jung ich damals einfach noch war. Und ich habe Angst davor alles nochmal erleben zu müssen, bei allen Lebenssituationen, die ich mit meinem Kind erlebe und sie mit mir nicht erleben konnte. 
Ob es wirklich so eintreten wird, wie ich befürchte oder hoffentlich doch ganz anders wird, wird sich erst im Laufe der nächsten Jahre zeigen.

Was würdest du deiner Mutter gerne sagen?

Danke, dass du der beste Schutzengel bist, den ich mir wünschen kann und ich hoffe, du bist stolz auf mich. Ich liebe dich über alles und hoffe, wir können irgendwann zusammen auf deiner Wolke sitzen und die verlorene Zeit nachholen. 

62fcabce0df64098964392688b761178

Du magst vielleicht auch


9 comments

  1. Liebe Regina,
    danke für deine Geschichte. Ich erkenne mich in manchem was du schreibst wieder. Mich würde sehr interessieren, wann du deinem Kind erzählst/erzählt hast, dass seine Oma ihr Leben selber beendet hat. Die Frage treibt mich persönlich um. Mein Vater hat sich das Leben genommen als ich 17 war, und mein jetzt 8-jähriger Sohn weiß, dass sein Opa eben früh gestorben ist, aber ich habe ihm bisher nicht sagen wollen, dass es Suizid war. Obwohl er sehr früh nach der Todesursache gefragt hat. Damals, (mit 4 Jahren) habe ich ihm erklärt, dass der Opa eine Krankheit im Kopf hatte. (Er hatte schwere Depressionen). So früh wollte ich mein Kind nicht damit konfrontieren, dass es sowas wie Suizid überhaupt gibt, obwohl er wirklich fast gebohrt hat. Ich wollte dem damals 4-jährigen nicht diese Möglichkeit eröffnen. Vor ein paar Monaten, mit fast 8 Jahren, hat er dann in einem Moment der sehr schwierig für uns war sehr direkt vor der Familie gefragt, woran der Opa gestorben ist. Meine Mutter hat dann deutlich gesagt, dass sie jetzt nicht darüber reden möchte. Das war einerseits OK und es ging mir genauso, andererseits hängt die Frage jetzt im Raum, und ich denke es ist für ein Kind ja nicht gut, Fragen nicht beantwortet zu bekommen. Wie gehst du damit um, oder bist du damit umgegangen? Liebe Grüße, Tina

  2. Ich habe auch mein Vater früh verloren er hat sich zwar nicht direkt umgebracht, aber er hat eine OP verweigert und dass hat ihm letztens das Leben gekostet. Ich kenne auch diese Gedanken was ist wenn meine Kinder in dem Alter sind wie ich damals als mein Vater gestorben ist. Ich habe mich in einer Therapie meinen Ängsten gestellt. (Ich hatte lange Zeit grosse Angst vor Ärzten, Krankenhäusern und Operationen ). Ich konnte diese Ängste überwinden und spreche heute bei Behandlungen das Personal an und sage dass ich aufgeregter bin und habe bis jetzt immer so viel Empathie erhalten.

  3. Ich wünsche Regina das sie professionelle Hilfe annimmt und endlich das ausschließlich negative Erinnern loslassen kann. Erinnerungen sind auch etwas Schönes, bringen unvermittelt ein Lächeln aufs Gesicht und ins Herz.
    Und für die Realität, Sie hatten nie den späteren Alltag mit ihrer Mutter, ich glaube nicht das eine Bindung immer so toll rosarot gewesen wäre ( Sie nicht?). Und auch mit Abschiedsbrief wären Sie bei derselben Frage, dafür “ reicht“ keine ( noch so ausführliche) Erklärung. Den Abschluss machen, Frieden finden können nur Sie selbst. Ich meine das überhaupt nicht böse, nur solange Sie das selbst so intensiv leben, beschränken Sie Ihre Erfahrungen, Ihren ( Lebens)Wert.

      1. Und, auch sehr gut, leider noch nicht auf deutsch übersetzt, aber auf englisch ganz gut lesbar: Motherless Mothers auch von Hope Edelman.

    1. Hallo Silvia, bitte gib doch keine gutgemeinten Ratschläge ab, wenn du nicht selbst betroffen bist und keine Ahnung hast, wie sich das wirklich anfühlt. Für alle Betroffenen kann ich folgendes Buch empfehlen: Töchter ohne Mütter – der Verlust der Geborgenheit von Hope Edelmann.

  4. Hallo Regina,
    danke, dass Du Deine Gedanken hier teilst. Bei vielen Deiner Zeilen habe ich innerlich genickt, sie kommen mir sehr bekannt vor. Mit dem Unterschied, dass es mein Papa war, der sich suizidiert hat.
    Mein Sohn ist nun auch so alt, wie ich damals war… und jemand sagte mir, dass das tatsächlich viel aufwühlen kann. Du hast es so passend beschrieben: man sieht erst jetzt, wie klein man damals wirklich war und wie groß die Lücke ist, die nie gefüllt werden kann…
    Ich gehe inzwischen zur Gesprächstherapie, wie Du habe ich es in jungen Jahren versucht, aber es hat nicht gepasst bzw. ich glaube, ich war noch nicht so weit. Da war so eine große Wut auf meine Eltern, weil sie auf ihre Art und Weise beide einfach nicht mehr da waren… mein Papa fehlte komplett, meine Mama hat sich vollständig verschlossen und war emotional nicht mehr erreichbar… ich fühlte mich so unendlich allein mit allem.
    Seit ich selber Mama bin, hat sich das Gefühl gewandelt… Es ist, als würde man mit zwei Augenpaaren gleichzeitig sehen… zum einen aus den Augen des Kindes, das man damals war… aber inzwischen sehe ich auch aus den Augen meiner Eltern… wie schwer es für sie gewesen sein muss und wie sehr sie sich bemüht haben – mein Papa bis zu seinem Tod und meine Mama danach, als sie mich und meine Schwester allein groß gezogen hat. Da sind so viele unterschiedliche und teils widersprüchliche Gefühle. Diese da sein lassen können oder sie sogar anzunehmen ist manchmal nicht so einfach…
    Mir tun die Gespräche sehr gut. Sie belasten niemanden, ich muss keine Angst haben, jemanden traurig zu machen und alles darf raus. Es ist das, was ich mir damals gewünscht hätte, was ich so dringend gebraucht hätte, vor 30 Jahren… Bitte, wenn Du das Gefühl hast, dass es Dir gut tut, hol Dir jemanden dazu. Es ist nie zu lange her…
    Ich wünsche Dir und Deiner Familie alles Liebe
    Heidi

  5. Danke für diese offene und eindrückliche Schilderung. Es gibt ein bundesweites Netzwerk für Menschen, die eine/n Angehörige/n durch Suizid verloren haben – egal wie lange das her ist: http://www.agus-selbsthilfe.de:
    Auch die Telefonseelsorgestellen können Selbsthilfegruppen benennen.
    Alles Gute für Sie und Ihre Familie.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert