Gastbeitrag von Claudia: Als ich 14 war, zog meine Mutter still und heimlich aus

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Ich war 14 Jahre alt und kam von der Schule nach Hause. Ich schloss die Tür auf und sofort sagte mir mein Gefühl: "Hier stimmt etwas nicht." Mein Vater kam mir entgegen und ich fragte: "Wo ist Mutti?" Er sah mich nicht mal richtig an, als er sagte: "Sie ist mit Deiner Schwester ausgezogen." 

Ich stand regungslos im Flur, meine Welt brach zusammen. Mein Vater ging einfach an mir vorbei und verließ die Wohnung. 

Ich erinnere mich, dass ich nicht mal weinen konnte. Ich stand unter Schock. Ich hatte Angst vor meinem Vater. Wenn wir nicht parierten, gab es einen Schlag in den Nacken. Wenn wir nicht rechtzeitig zu Hause waren, sperrte er einfach die Tür zu, so dass wir nicht mehr ins Haus kamen. Und leider wurde er, als ich 12 Jahre alt war, auch sexuell übergriffig. Und nun war das Schlimmste eingetreten: Ich war von nun ab mit ihm allein. Und meine Mutter mit meiner Schwester über 100 Kilometer weit weg. 

Der Gedanke, der mich über Jahre hinweg quälte: "Warum hat meine Mutter meine Schwester mitgenommen und mich zurück gelassen?" Ich fand darauf keine Antwort und ich war so verletzt, dass ich meine Mutter dafür gehasst habe. 

Dazu muss man sagen, dass meine Mutter es auch sehr schwer mit meinem Vater gehabt hat. Sie war komplett eingeschüchtert und wirkte depressiv. Bis heute weiß ich nicht, ob sie von sich ausgegangen ist oder ob mein Vater sie rausgeworfen hat. Wie es auch war – sie hat mich zurück gelassen. 

Meine Mutter hat mir so oft gefehlt. Alle meine Mitschüler hatten ihre Eltern, Geschwister, Oma und Opa. Ich war immer allein. Auch bei Abschlussfeiern der Schule. Ich war so schrecklich einsam. 

Später wurde meine Mutter krank, eine schlimme Nervenkrankheit. Zunächst wollte ich sie nicht in der Klinik besuchen, dann überwand ich mich doch und ging hin. Sie, meine Schwester und ich saßen zusammen und Mutti fragte mich: “Und was macht die Schule?“ Ich antwortete ihr, dass ich nicht mehr zur Schule gehe und meinen Realschulabschluss gemacht habe. Sie nickte nur und frage: “Und was macht die Schule?“ Danach habe ich sie sieben Jahre nicht mehr gesehen. Durch meine Schwester wusste ich immer, wie es um meine Mutter steht. Aber ich selbst konnte nicht hin, ich brauchte Distanz. 
 
Dann kam ein Anruf meiner Schwester, dass es meiner Mutter schlechter gehe, sie habe einen Luftröhrenschnitt bekommen und läge auf der Intensivstation. Ich fuhr natürlich ins Krankenhaus und da lag sie nun, überall Kabel, Schläuche und Geräte. Meine Schwester hat sich einen Stuhl genommen und ihre Hand gehalten. Sie hat mir ihr gesprochen und ihre Hand gestreichelt. Ich stand nur versteinert da, fühlte mich innerlich zerrissen und bin hinaus auf den Flur gelaufen. Eine Krankenschwester sprach mir gut zu und sagte, ich könne meine Mutter ruhig anfassen und streicheln. Ich ging zurück ins Zimmer, aber ich konnte das nicht. Ich rannte raus aus dem Krankenhaus. 
 
Mir war bewusst, dass sie sterben würde und ich habe ihr gewünscht, dass sie endlich erlöst wird. Ich habe draußen viel über meine Mutter nachgedacht und mich an die schönen Dinge erinnert. Dass sie Musik liebte, zum Beispiel. Dass sie viel mit mir gekuschelt hat, als ich noch klein war. Dass sie wenig geschmipft hat und uns oft Süßigkeiten zugesteckt hat. Mich plagte das schlechte Gewissen, dass ich sie jahrelang nicht besucht hatte. Ich konnte ihr einfach nicht verzeihen, dass sie mich zurück gelassen hatte. Sie war einfach gegangen, ohne eine Erklärung. Ohne einen Brief. Ohne einen Anruf, 
 

Und dann starb meine Mutter. Als meine Schwester es mir am Telefon erzählte, konnte ich nicht weinen. In der Kapelle dann brachen die Dämme. Der Organist spielte Let it be von den Beatles – und auch heute, zehn Jahre nach dem Tod, kann ich dieses Lied nicht hören. Während der Trauerfeier regnete es in Ströhmen, als wir dann heraus kamen, schien plötzlich die Sonne. Die Sonnenstrahlen wärmten mein Gesicht. Das war der Moment, in dem ich Frieden schloss und meiner Mutter vergab. 

Heute geht es mir wieder gut, ich habe mir externe Hilfe geholt, um meine Geschichte zu verarbeiten. Heute denke ich mit einem Lächeln an meine Mutter zurück. Ich weiß, dass sie selbst eine schreckliche Kindheit hatte und der Schritt, meinen Vater zu verlassen, wohl die härteste Entscheidung in ihrem Leben war. 

Ich bin im Reinen mit ihr und mir. Und ich sehe meinen Sohn an und denke, dass sie eine gute Oma gewesen wäre.

 

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3 comments

  1. Warum
    Warum hast Du Deine Muttee denn nicht gefragt, warum sie Dich nicht mitgenommen hatte? Oder vielleicht hättest Du nachkommen können? Ein Aussprechen hätte Dir und Deiner Mutter sicherlich geholfen. Vielleicht dachte sie, Du bist zufrieden bei Deinem Vater. Schade, dass ein Gespräch nicht mehr stattgefunden hat. Alles Gute weiterhin.
    Und „es regnet in Strömen“ schteibt sich ohne h 😉

    1. Ihre Mutter wird wohl kaum
      Ihre Mutter wird wohl kaum gedacht haben, dass es ihrem Kind bei diesem Mann gut geht, der gewalttätig ist und sie sexuell missbraucht hat.

      Ich habe für die Mutter absolut keine netten Worte übrig. Sie war in der Lage das eine Kind mitzunehmen und das andere hat sie einfach zurück gelassen. Und das auch noch ohne jegliches Gespräch. Das ist mir unbegreiflich.

  2. Danke
    Liebe Claudia! Danke für deine Geschichte. Sie stimmt mich zugleich traurig und hoffnungsfroh, dass das Leben immer wieder weiter geht und sich auch zum Guten wenden kann.
    Alles Gute für dich!