Ihr Lieben, heute erzählen uns die Schwestern Michelle und Sinja davon, wie ihre große Schwester Natalie bereits früh die Diagnose „Kinderdemenz“ erhielt, wobei das früher noch gar nicht so genannt wurde. Sie erkrankte an NCL. Den Kontakt zu dieser bewundernswerten Familie hat uns die NCL-Stiftung hergestellt, deren Arbeit und Engagement wir nicht hoch genug schätzen können. Natalie war 28, als sie gestorben ist. Michelle war damals 23 und Sinja 24 Jahre alt.
Mögt ihr uns zuerst mal kurz eure Familie vorstellen?
Michelle: Ich bin Michelle (34) und wohne mit meinem Mann und unseren zwei Töchtern (4 & 3 Jahre) in Hannover. Ich bin bei einem Reifenhersteller beschäftigt und arbeite in Teilzeit. Außerdem hat mein Mann bereits zwei große Kinder aus seiner früheren Beziehung, die im Wechselmodell auch alle 14 Tage bei uns sind.
Sinja: Ich bin Sinja (35) und lebe mit meiner Tochter (12) in Hannover. In derselben Straße wie Michelle und ihre Familie. Ich arbeite im öffentlichen Dienst und habe noch einen Nebenjob, in dem ich ein schwerbehindertes Kind einmal die Woche zu Hause bei ihrer Familie betreue. Für Haustiere bleibt da leider keine Zeit, obwohl meine Tochter sehr gern eins hätte.
Michelle: Natalie war die Älteste von uns vier Kindern, danach kam Vanessa (sie lebt mit ihrer Familie in London), dann Sinja und dann Michelle. Alle etwa im 2-Jahres-Abstand. Wir waren also ein wilder Haufen voller Mädels 🙂

Wie lang ist Natalies Tod her und wo steht ihr gerade mit eurer Trauer?
Michelle: Der Tod unserer Schwester ist mittlerweile 11 Jahre her. Am 09.05.2014 ist sie verstorben. Ich kann mich noch genau an den Freitag erinnern, als ich auf der Arbeit den Anruf von dem Mann meiner Mutter erhalten habe. Ich habe mich sofort ins Auto gesetzt habe Sinja abgeholt und wir sind zu unserer Mutter nach Garbsen gefahren. Dort haben wir uns alle gemeinsam umarmt und geweint.
Wir saßen noch einige Stunden an Natalies Bett und konnten uns richtig von ihr verabschieden, bevor sie abgeholt wurde. Die ersten Wochen und Monate waren für uns alle noch sehr schwer, da kein Tag ohne Gedanken an sie vergangen ist. Mittlerweile leben wir gut mit dem Gedanken, dass sie nun an einem besseren Ort ohne Schmerz ist.
An den Geburtstagen und auch am Todestag verbringen wir Zeit mir unserer Mutter oder halten Kontakt. An manchen Tagen ergibt sich ein Gespräch über vergangene Zeiten und die guten Gedanken an Momente, die wir mit Natalie erleben durften. Für unsere Mutter ist es immer wichtig gewesen, sie nicht an lebenserhaltenden Maßnahmen anschließen zu lassen. Sie konnte zu Hause in den Armen unserer Mutter sterben. Ich glaube, das war etwas Gutes und natürlich auch Schreckliches zugleich.
Sinja: Ich kann mich noch ganz genau an den Moment erinnern, als ich davon erfuhr, dass Natalie gestorben ist. Es riss mir den Boden unter den Füßen weg. Ich bin jährlich zu ihrem Geburtstag und auch zu ihrem Todestag bei ihr am Grab, auch an anderen Tagen. Aber an den beiden Tagen bekommt sie ganz besonders schöne Blümchen in ihren Lieblingsfarben.
Ich denke viel an sie. Es gibt immer wieder Situationen, in denen ich an sie erinnert werde. Ob es die Trommeln im Zoo sind, an die ich schöne Erinnerungen mit ihr habe oder auch einfach nur ein bestimmter Film oder ein Lied. Die Trauer dann zu unterdrücken wäre in meinen Augen falsch, so lasse ich sie dann einfach zu.
Wann habt ihr zum ersten Mal von dem Begriff „Kinderdemenz“ gehört?
Michelle: Ich persönlich habe in den letzten Jahren den Begriff Kinderdemenz gehört. Früher konnte ich noch keinen wirklichen Zusammenhang mit der Krankheit unserer Schwester mit dem Gedanken an Kinderdemenz verbinden.
Sinja: Den Begriff „Kinderdemenz“ kenne ich erst seit einigen Jahren. Früher war mir der Begriff gar nicht geläufig. Unter Kinderdemenz können sich aber auch viele meiner Freunde die Krankheit besser vorstellen. Vor allem auch die, die erst in den letzten 11 Jahren dazu kamen und Natalie leider nicht mehr kennenlernen konnten.
Wie lief euer Leben mit eurer Schwester damals?
Michelle: Wir als Familie haben Natalie immer als vollwertiges „normales“ Familienmitglied gesehen und sie an Aktivitäten teilhaben lassen oder auch mal den einen oder anderen kleinen Ausflug mit ihr unternommen (in unserem Alter natürlich noch nicht selbstverständlich). Unsere Freunde wussten, wie sie mit ihr umzugehen haben und wir hatten eine Menge Spaß miteinander.
Natalie hatte lange Zeit eine Betreuerin, die am Wochenende vorbei kam mit der wir auch gemeinsam Unternehmungen gemacht haben. Wir haben einige epileptische Anfälle von ihr (auch beim Essen) mitbekommen und jeder wusste, wie man sich in einer solchen Situation verhält. Ich bin des Öfteren mit Natalie und meiner Mutter zur Ergotherapie gegangen, die in unserer Straße war.
Anfänglich noch zu Fuß und später durch ihre Einschränkungen dann im Rollstuhl. Wir waren häufig bei Familienwochenenden von der NCL Gruppe Deutschland e.V., wo wir auch andere Geschwisterkinder sowie erkrankte Kinder mit Ihren Eltern kennenlernen konnten. Auch dort hatten wir immer eine schöne Zeit und konnten viel mitnehmen.
Sinja: Da wir selbst noch sehr klein waren, als bei Natalie NCL (neuronale Ceroid-Lipofuszinosen, Nervenzellen, vor allem im Gehirn und von der Netzhaut der Augen, sterben dabei ab) diagnostiziert wurde, haben wir wenig persönliche Erinnerung an die Zeit, als Natalie noch kerngesund war. So sind wir an der Krankheit und auch im Umgang damit (auf)gewachsen.
Wir haben viele tolle Ausflüge unternommen und waren oft mit befreundeten Familien ohne NCL-Kinder am Nachmittag auf dem Spielplatz. Natalie war immer mit dabei. Die Epileptischen Anfälle (Grand-mal-Anfälle) waren für unser Umfeld erst „gruselig“, aber nach und nach hatte sich jeder dran gewöhnt.
Ich bin schon mit 15 zu Hause ausgezogen, wollte aber vor allem den Kontakt zu Natalie nicht verlieren, weshalb ich dann sonntags oft Unternehmungen mit ihr gemacht habe. Mit meinen anderen Geschwistern konnte ich ja übers Telefon kommunizieren, was bei Natalie selbst zu der Zeit dann ja nicht mehr möglich war.

Wie hat euer Umfeld auf die Erkrankung reagiert und wie sie selbst?
Michelle: Als wir die Diagnose von Natalies Erkrankung bekommen haben, sind wir sehr offen damit umgegangen und haben unserer gesamten Familie und Freundeskreis ganz genau über die Erkrankung und deren Verlauf berichtet. Alle haben positiv reagiert. Der Umgang mit Nati war immer ein sehr herzlicher. Sie gehörte immer dazu und war auch immer mit dabei. Was niemand richtig wahrhaben wollte, auch die Geschwister unserer Eltern, war, dass NCL erblich bedingt ist.
Wir haben allen empfohlen, sich testen zu lassen. Einige haben es in Anspruch genommen, viele aber leider nicht. Natalie hat ihre Krankheit eigentlich immer über die Augen definiert („Ich wünsche mir neue Augen zu Weihnachten“) oder („Ich wünsche mir einen Freund, der gut gucken kann“). Gleich nach der Diagnose waren ihre kognitiven Fähigkeiten noch sehr gut. Aber dass sie nicht mehr sehen konnte, war zu diesem Zeitpunkt das Schlimmste für sie. Das schränkte ihren Lebensalltag sehr ein.
Sie konnte ihre ursprüngliche Grundschule nicht mehr besuchen, nicht mehr am Ballettunterricht teilnehmen, nicht mehr Fahrrad fahren, nicht mehr lesen und malen und vieles mehr. Sie hat sich deshalb auch lange geweigert, im Rollstuhl zu sitzen und möglichst alle Strecken zu Fuß zurückzulegen. Als sie von der Grundschule zur Sehbehindertenschule wechselte, war Sie 10 Jahre alt.
Der Schulwechsel und ihre Einschränkungen bedeuteten auch, dass ihre Freundinnen sich nach und nach nicht mehr blicken ließen. Für sie war es deshalb ein großes Glück, das wir Mädels mit unseren Freunden da waren und sie an unserem Leben haben teilhaben lassen.
Seid ihr beiden ähnlich oder unterschiedlich mit der Diagnose und der Situation umgegangen?
Michelle: Zu dem Zeitpunkt war ich noch sehr jung. Ich kann mich nicht daran erinnern, wie ich damit umgegangen bin. Aber wenn man damit aufwächst, gehört es zum ganz normalen Leben mit dazu und es werden keine Unterschiede gemacht.
Sinja: Auch ich war nur 1 ½ Jahre älter als Michelle, also noch im Grundschulalter, als ich davon erfuhr. Persönlich kann ich mich an die Zeit leider auch nicht erinnern. Nur aus Erzählungen unserer Mutter ist mir ein wenig bekannt. Auch für mich war das Leben mit Natalie ganz normal. Da ich Michelle und Vanessa als meine Schwestern hatte, haben wir uns gegenseitig auch viel Halt gegeben und uns untereinander unterstützt, wenn wir Probleme hatten, sie aber grad nicht mit unserer Mutter besprechen konnten.
Ich habe aber für mich beschlossen, dass ich auch später mit Kindern mit Behinderung arbeiten möchte. Nachdem ich Nati einige Male bei der NCL-Jahrestagung in Barsinghausen mit einer Freundin zusammen betreut habe, habe ich also eine Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin angefangen, aber nicht abgeschlossen. Für mich war klar, dass ich somit sicher immer wieder an sie erinnert werde und nicht „abschließen“ kann, was mich traurig machte. Also habe ich dann doch noch umgeschwenkt und einen Bürojob angefangen.
Mögt ihr uns ein bisschen über den Charakter eurer Schwester erzählen – fernab ihrer Erkrankung? Was war Sie für ein Mensch?

Michelle: Natalie war ein fröhlicher, sozialer und hilfsbereiter Mensch. Sie half selbst zu einem Zeitpunkt, als sie schon nicht mehr so gut sehen konnte immer anderen Kindern. Ungerechtigkeiten konnte sie überhaupt nicht leiden und setzte sich immer für Schwächere ein.
Sie war sehr an Jungs interessiert und war auch einmal zum Essen von einem Jungen im LBZB (Landesbildungszentrum für Blinde) eingeladen worden. Da war sie sehr glücklich. Sie war ständig in jemanden verliebt 😊. Super cool fand sie es auch, wenn uns mal wieder hübsche Männer, die im Auto saßen, über die Straße haben gehen lassen.
Außerdem war sie die Kochqueen bei uns zu Hause. Essen und Essen zubereiten war ein Highlight für sie. Sie hat es sehr geliebt zu singen und zu basteln. Allerdings konnte sie auch mal kein Engel sein. Wenn ihr etwas nicht passte, konnte sie ziemlich zickig und bockig werden. Eine der schlimmsten Zeiten hat ihre damalige Betreuerin Nadja miterlebt, als sie im Alter von 16/17 Jahren bemerkte, dass all ihre Fähigkeiten verschwanden.
Was fehlt euch heute am meisten?
Michelle: Einfach zu unserer Mutter nach Hause zu kommen und ein großes Lächeln von Natalie zur Begrüßung zu bekommen, ihr Geschichten vorzulesen und ihr zuzuschauen, wie sie gespannt die Kassetten von Bibi Blocksberg oder Märchen verfolgt.
Sinja: Mir fehlt Natalies besonderes, herzliches und ansteckendes Lachen total. Ich habe noch heute im Ohr, wie es sich anhörte. Ich habe so gerne mit ihr gesungen oder einfach nur dagelegen und einen Film geschaut. Auch shoppen oder in den Zoo mit ihr und meinen Freundinnen zu gehen war immer lustig 🙂
Hat ihre Geschichte eure Familie näher zusammenrücken lassen oder hat es auch mal geruckelt?

Michelle: Die Familienstrukturen, die schon da waren, haben sich durch Natalies Erkrankung noch mehr verstärkt. Unsere Mutter war frühzeitig auf sich allein gestellt in Sachen Infos, Arztbesuche und Freizeit, was sie wirklich hervorragend (gerade mit 4 Mädchen) hinbekommen hat. Wir Mädels hatten untereinander eigentlich schon immer einen sehr engen Draht und haben immer zusammengehalten.
Sinja: Ich denke, grade die Beziehung zwischen Michelle, Vanessa und mir wurde enger, als die Krankheit voranschritt, da wir natürlich auch viel unter uns allein ausmachen mussten. Unsere Mutter hatte neben ihrem Job, der Betreuung von Natalie und der Beziehung zu unserem Vater oder später zu ihrem jetzigen Mann nicht immer Zeit, sich um jedes kleine Wehwehchen zu kümmern. Wir sind sicher schon früher als manch anderes Kind selbstständig geworden, was uns – in meinen Augen – nicht geschadet hat.