Papa hat Alzheimer: „Es schmerzt, wie sein Verstand verblasst“

Demenz

Foto: Christoph Behrmann

Ihr Lieben, können wir um einen Menschen trauern, obwohl er noch lebt? Weil sein Geist sich langsam und immer weiter fortschreitend verabschiedet? Weil ein Abschied auf Raten stattfindet? Steven hat sich diese Fragen gestellt, als sein geliebter Stiefvater die Diagnose Alzheimer-Demenz erhielt. Ihm hat er nun sein neuestes Lied gewidemt. Es heißt: „Vater und Sohn“. Und ihr könnt es euch weiter hinten im Artikel ansehen und -hören.

Lieber Steven, wann hast du zum ersten Mal gemerkt, dass sich dein Vater verändert, wie alt wart ihr beide da?

Mein Vater war ein Allround-Talent im handwerklichen Betrieb: Bauen, Konstruieren, auch Dämmen von Häuser, er hat unsere komplette Scheune ausgebaut, er konnte förmlich alles reparieren, auch Autos und Waschmaschinen etc. Als gelernter Elektroniker und Baumaschinen-Fachmeister hatte er in unserer Scheune eine riesen Ausstellung an unterschiedlichstem Werkzeug.

Als der Betrieb, in dem er gearbeitet hat, vor mehr als zehn Jahren pleiteging, wurde dieser samt Mitarbeitern von einem Großkonzern für Bauprojekte in Mannheim aufgekauft.

Zu dieser Zeit gab es eine Phase, in der er zu Reparaturarbeiten in einer Kläranlage geschickt wurde, er nahm in dieser Zeit stark an Körpergewicht ab. Für heimische Projekte half ihm mein Großvater wie so oft. Ab da fiel immer mehr auf, dass er oft vergaß, wo er sein Werkzeug hingelegt hatte, er wurde auch immer gereizter von der Arbeit.

Wie ging es weiter, hattet ihr bald eine Diagnose oder dauerte das?

Es gab Gerüchte, dass Mitarbeiter der Firma anfingen, ihn zu mobben. Dass sie ihm extra das Werkzeug oder Pläne heimlich verlegten und er seiner Arbeit nicht mehr gut nachkam. So kam zusätzlich zu der anfänglichen Vergesslichkeit auch ein psychischer Druck. Nachdem er im März 2015 ohnmächtig wurde und dadurch mit seinem Werkzeugbus auf einem Parkplatz gegen eine Mauer fuhr, ging er zum Arzt.

Es dauerte, bis es eine Diagnose gab, da zunächst nichts Physiologisches festgestellt werden konnte. In der Rheinhessen Fachklinik in Alzey, die vor allem einen psychiatrischen Schwerpunkt hat, stellte man bei ihm erstmal ein schweres Burnout mit starken Depressionen fest. Aufgrund seines physischen Zustandes wurden weitere Tests durchgeführt und so ergab es sich, dass er mit 56 Jahren die Diagnose Alzheimer-Demenz im Frühstadium bekam.

War die Gewissheit irgendwann auch eine Erleichterung?

Zuerst ja, er bekam Medikamente gegen seine schweren Depressionen und wurde dadurch mit der Zeit ein so sanfter, liebevoller Mensch… Ich fragte ihn, wo er diesen all die Jahre versteckt hatte. Er meinte, er hätte seine Gefühle komplett unterdrückt und für seine Arbeit gelebt, damit wir abgesichert sind. Das war für ihn das Wichtigste, er litt aber unter großen seelischen Problemen und kam da einfach nicht alleine raus.

Mein Vater hatte früher leider immer abgelehnt, wenn mal darüber gesprochen wurde, ob eine Therapie aufgrund seiner nicht leichten Kindheit eine Möglichkeit wäre. Da mein Vater auch Legastheniker ist, hat er sich oft auch in anderen Bereichen minderwertig gefühlt. Er hat es einfach nicht geblickt, dass er künstlerisch sehr begabt ist.

Als ich 7 Jahre alt war, hat er mir ein Schwert geschmiedet, da ich so ein großer Mittelalter-Fan war, aber auch als Steinbildhauer konnte er tolle Sachen kreieren, nicht zuletzt war seine Schnitzkunst in unserer Familie legendär.

Was hat dieser schleichende Abschied vom früheren Charakter deines Vaters mit dir gemacht? Wie fühlt sich das an?

Die ersten drei Jahre waren recht normal, sogar sehr schön, er war zuhause gut drauf, bekam Ergotherapie und konnte meine Mutter, die selbständig ist, sehr gut unterstützen. Er besuchte mich öfter in Mannheim, er durfte ja noch recht viel als Frührentner machen, es gab regelmäßig Tests, so dass man feststellen konnte, was er noch imstande war zu machen. Er redete offen über seine Krankheit, man merkte nur langsam den Verfall seines Verstandes, Wortfindungsstörungen als Beispiel, waren das Auffälligste.

Für jemanden wie mich, der Musiker ist und für den Worte so wichtig sind, schlich sich allmählich ein Gefühl der Angst ein. Dadurch, dass ich Asperger-Autist bin, war es für mich erst nicht greifbar. Im Laufe der Zeit verstand ich durch die Krankheit einerseits, was mir dieser Mann nach seinen Möglichkeiten alles gegeben hatte und dass diese Krankheit auch ein schleichender Abschied ist. Mit anzusehen, wie bei einem geliebten Menschen der Verstand mehr und mehr verblasst, schmerzt unheimlich, da man ja leider weiß, wie es ausgehen wird. 

Konntest/Wolltest du mit jemandem darüber reden?

Als Künstler habe ich trotz meiner Autismus-Diagnose einen guten Zugang zu Menschen, daher war es nicht schwer, Menschen zu finden, mit denen ich darüber reden konnte. Zumal ich meine Musik auch als Ventil nutzte. Natürlich denkst du dir als Mensch: Verdammt, ich bin selbst Legastheniker, Autist und stark sehbehindert mit etlichen Lebensmittelunverträglichkeiten, anscheinend habe ich überall „Hier!“ gerufen und jetzt hat einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben diesen schleichenden Tod als Erkrankung. Bin ich verflucht?

Ich hatte durchaus gute Gespräche mit meinen Freunden und Vertrauten, die sich damit auskennen… aber egal, wie oft du darüber redest, es gibt einfach Momente der absoluten Machtlosigkeit und gerade, weil Alzheimer-Demenz auch ein starkes Tabuthema ist, laufe ich des Öfteren gegen Wände, da Unbetroffene sich einfach selten hineinfühlen können. Sie können nicht gänzlich nachempfinden, wie traurig ich mich deswegen manchmal fühle. Manche möchten auch gar nicht so viel darüber wissen, weil ihnen die Krankheit Angst macht. Was ich ja sogar verstehen kann.

Inwiefern war dein Vater Teil deines Alltags in der Zeit der Erkrankung?

An dieser Stelle wäre vielleicht eine Kleinigkeit zu erwähnen, die ich jahrelang nicht als selbstverständlich empfand, aber bei meinem Vater und mir in Fleisch und Blut überging:

Mein Vater ist im Grunde mein Stiefvater, er trat in mein Leben, als ich vier Jahre alt war und er nahm diese Rolle direkt an. Er wollte auch keine weiteren Kinder, er sagte dazu immer:

„Ich habe einen Sohn’“. Das reichte ihm. Er hat nie den Eindruck erweckt, dass, falls meine Eltern sich trennen würden, er nicht mehr für mich zuständig wäre.

Mein leiblicher Vater starb zu der Zeit, als mein Vater an Alzheimer erkrankte, daher ist diese Frage einfach zu beantworten: Papa Werner war generell bis heute in meinem Leben allgegenwärtig und wurde noch präsenter im Alltag, als er nicht mehr arbeiten konnte und noch einigermaßen fit war. So führten wir Gespräche zwischen Vater und Sohn die ich niemals mit meinem leiblichen Vater hätte führen können.

Er hat durch seine Krankheit auch vergessen, dass er mein Stiefvater ist. Das ist etwas lustig, zeigt aber offen die große Verbundenheit, die er mir gegenüber in sich trägt. Daher kann ich sagen: So schlimm diese Krankheit ist, im Alltag belebte sie auch unsere Beziehung auf eine besondere Art und Weise. Es ist wichtig, den Blickpunkt auch auf die positiven Dinge zu richten, es muss ja weitergehen. Mein Vater war immer bemüht, mir mein Künstler-Leben zusammen mit meiner Mutter zu ermöglichen.

Hat euch das näher zusammengebracht oder fühlte es sich eher wie eine immer weiter voranschreitende Entfernung an?

Da habe ich wohl etwas vorgegriffen mit der Antwort, es hat uns definitiv näher zusammengebracht, da er seine Liebe endlich zeigen konnte, was ihm wohl auch wegen seiner Depression nicht möglich war, aber durch den geistigen Verfall ist der Zugang natürlich immer schwieriger. Ich muss mir die hellen und schönen Momente in Erinnerung bewahren.

Seit er 2021 dreimal von Zuhause abgehauen ist und mit etlichen Polizei-Staffeln gesucht werden musste, lebt er im Heim. Und das ist relativ weit weg, sodass ich ihn nichtmehr oft sehe zurzeit. Da ich leider aufgrund meiner Sehbehinderung kein Auto fahren kann und viel unterwegs bin als Musiker, ist das immer eine große Abstimmung innerhalb der Familie, ihn gemeinsam zu besuchen.

Du hast dann irgendwann deinen Schmerz in Kreativität umgewandelt und einen Song geschrieben, der Vater und Sohn heißt. Worum geht es darin?

Es ist ein besonderes Stück Geschichte aus der gemeinsamen Biografie meines Vaters und mir als seinem Sohn. Es geht um die Erinnerungen aus der Kindheit, die niemals verblassen werden, die ich nie vergesse. Um die Dankbarkeit, ihn als Vater zu haben, um meine Liebe zu ihm als Mensch und dass ich den Nebel in seinem Kopf mit Erzählungen und Musik vertreiben möchte.

Aber vor allem geht es drum, dass egal was passiert, wir immer Vater und Sohn bleiben werden. Denn über diese Krankheit hinaus gibt es noch etwas viel Größeres und das ist die Liebe, die man im Herzen für einen Mensch trägt. Das alles soll der Song “Vater und Sohn“ widerspiegeln. Er war es, der mir als Kind meinen Zweitnamen Elijah gab, dieser Name ist heute mein Künstlername. Er hat also auch da ganz unbewusst an meiner Karriere mitgewerkelt. 

War es schmerzhaft ihn zu schreiben und schließlich zu singen oder befreiend?

Den Song zu schreiben mit meinem Team, hatte eine befreiende Wirkung. Der Schmerz kommt eher bei alltäglichen Dingen hoch, wenn ich mit meinem kleinen Sohn Hand in Hand spazieren gehe und daran denke, dass sein Großvater das alles nicht mehr wirklich miterleben kann und leider aufgrund seines Stadiums der Krankheit keine wirkliche Beziehung zu seinem Enkel aufbauen kann. Zumal mein Sohn mit 2 Jahren, das Ganze ja auch noch nicht versteht. Ich versuche daher, die Dinge weiter musikalisch festzuhalten, um ihm eines Tages viel über seinen Großvater erzählen zu können. 

Bekommst du Rückmeldungen von ebenfalls Betroffenen?

Es gab auf diesen Song unglaublich tolle Feedbacks abseits der Musik-Industrie. Es scheint, als habe ich da tatsächlich einen Nerv getroffen. Dieses Lied fand den Weg in so viele Playlists, auch in die von Menschen, die selbst betroffen sind. Da gab es herzergreifende Rückmeldungen, der Song könnte genauso gut „Oma und Enkel/in“ heißen oder „Mutter und Tochter“! Es war sehr toll, so viele mutmachende Nachrichten zu bekommen! Ich denke, dass dieser Song auch mein persönlichstes Werk bisher ist und Zeiten überdauert – für alle Menschen die diese Schicksale kennen.

Was möchtest du anderen in ähnlicher Lage gern noch mit auf den Weg geben?

Ich bitte Menschen, die die Möglichkeit vor allem im medialen Bereich haben, mehr über Alzheimer-Demenz zu sprechen! Für alle Betroffenen kann ich eines sagen: Selbst, wenn alles gerade so dunkel erscheint, ist da ein Licht, ein Funke von Glück, den wir ergreifen können und nicht mehr loslassen sollten. Der Schmerz wird besser und man lernt, wieder zu atmen! Ich schließe es mit den Worten von Hermann Hesse ab, die mir geholfen haben: Wenn wir einen Menschen glücklicher und heiterer machen können, so sollten wir es auf jeden Fall tun, mag er uns darum bitten oder nicht. 

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