Weinende Mamas im Kita-Flur: Wenn der Abschied zu früh kommt

Weinende Mamas

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Ihr Lieben, als mir eine Kitaleitung erzählte, dass sie immer öfter weinende Mamas im Flur beobachte, habe ich sie nach ihrer Einschätzung gefragt. Warum fällt es manchen Eltern so schwer, ihr Kind loszulassen? Und die Antwort war voller Verständnis: Weil viele Mamas ihre Kinder einfach früher abgeben müssen, als sie sich das selbst so vorgestellt hätten.

Weil die Arbeit wartet, weil es finanziell sonst anders nicht geht. Nicht, weil sie helikoptern! Auch wenn auch diese Kitaleiterin schon Fälle mitbekommen hat, wo Eltern ihrem Kind einen Sender in die Jacke genäht hatten, damit es beim Ausflug nicht vergessen wird… Es gibt nichts, was es nicht gibt. Hier kommen die reflektierten Antworten dazu, warum es in Kitafluren heute anders zugeht als früher.

Liebe Nina, du bist schon viele Jahre lang Kitaleitung. Welche Veränderungen fallen dir an den Kindern und welche an den Eltern auf?

Die Entwicklung der letzten Jahre ist deutlich spürbar – sowohl bei den Kindern als auch bei den Eltern. Unsere Kinder kommen heute mit sehr feinen Antennen in die Kita. Sie sind sensibel, klug und voller Lebensfreude – aber sie zeigen auch häufiger Schwierigkeiten, mit Frust oder Unklarheiten umzugehen und sie sind in jeder Altersgruppe unselbständiger. Viele Kinder brauchen viel Nähe, Sicherheit und Orientierung. Gleichzeitig fehlt es manchen an Selbstwirksamkeit, weil sie vieles nicht selbst ausprobieren durften – sei es, Konflikte zu klären oder auch mal etwas nicht sofort zu bekommen.

Bei den Eltern fällt mir auf, wie hoch der Druck ist, unter dem sie stehen. Viele müssen deutlich früher wieder in den Beruf einsteigen, als sie es sich eigentlich wünschen würden – einfach, weil es finanziell nicht anders geht. Gerade in einer Betriebskita ist das spürbar: Die Arbeitgeber fördern die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, was grundsätzlich gut ist – aber es steht eben auch die Erwartung im Raum, dass Eltern früh wieder verfügbar sind. Das bringt viele Mütter und Väter in ein Spannungsfeld zwischen emotionalem Bedürfnis und ökonomischem Zwang.

Kita
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Du sagst, du würdest im Flur viele weinende Mamas sehen. Wie kommt es dazu?

Diese Szenen gehören tatsächlich zu meinem Alltag – und sie berühren mich jedes Mal. Viele Mütter verabschieden sich morgens mit Tränen in den Augen, weil sie sich innerlich noch nicht bereit fühlen, ihr Kind in fremde Hände zu geben. Sie wissen, dass ihr Kind bei uns gut aufgehoben ist – und trotzdem ist es ein emotionaler Kraftakt.

Hinter diesen Tränen steckt oft viel mehr als nur der Moment des Loslassens: Es ist die Wucht der Entscheidung, die nicht ganz freiwillig getroffen wurde. Es ist der Spagat zwischen dem Wunsch, für das Kind da zu sein, und der Notwendigkeit, im Job zu funktionieren. Und es ist das schlechte Gewissen, das sich wie ein Schatten über den Tag legt: „Bin ich egoistisch, weil ich mein Kind abgebe?“„Ist es zu früh?“

Sind das die Gründe dafür, dass Eltern ihre Kinder so schwer loslassen können?

Ich glaube, es sind mehrere Ebenen, die da ineinandergreifen. Zum einen ist da die emotionale Bindung, die – gerade nach dem ersten Lebensjahr – sehr stark ist. Zum anderen ist da der gesellschaftliche Druck: Die ideale Mutter, die alles kann. Sie ist liebevoll, geduldig, attraktiv, immer präsent für ihre Kinder – und gleichzeitig beruflich erfolgreich, organisiert, leistungsfähig.

Dieses Bild begegnet Eltern überall, vor allem in den sozialen Medien. Auf Instagram sieht man perfekt gestylte Mütter, die scheinbar mühelos Haushalt, Job, Familienzeit und Selbstfürsorge unter einen Hut bekommen – natürlich immer mit einem Lächeln. Kein Augenring, kein Wutanfall, kein Zweifel. Das erzeugt eine toxische Vergleichskultur, in der Eltern – insbesondere Mütter – ständig das Gefühl haben, nicht zu genügen.

Hinzu kommt: Viele haben das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen, dass sie ihr Kind früh abgeben – und versuchen das durch „100 % perfekte Fürsorge“ zu kompensieren. Sie machen zu Hause alles für ihre Kinder. Aber genau das nimmt den Kindern die Möglichkeit, sich selbst auszuprobieren, eigene Wege zu gehen und Erfahrungen zu machen – auch unangenehme.

Meinst du, sie sind so nah dran an ihren Kindern, dass sie auch mal zu viel helfen – und die Kinder dadurch möglicherweise WIRKLICH nicht ohne sie auskommen?

Das ist ein zentrales Thema. Wenn ich als Elternteil das Gefühl habe, meinem Kind durch die frühe Fremdbetreuung etwas wegzunehmen, versuche ich oft – meist unbewusst – das im Alltag wieder „gutzumachen“. Ich tröste früher, greife schneller ein, räume alle Hindernisse aus dem Weg. Das ist verständlich, aber es nimmt dem Kind Entwicklungsspielräume.

Kinder brauchen Herausforderungen. Sie brauchen es, dass etwas mal nicht sofort klappt, dass ein anderes Kind mal „nein“ sagt oder ein Spielzeug nicht teilt. Wenn Eltern immer schon vorher eingreifen, erleben die Kinder nicht, dass sie selbst Lösungen finden können. Sie verinnerlichen: „Ich bin auf Hilfe angewiesen“ – obwohl sie viel mehr könnten, als ihnen oft zugetraut wird.

Kindergarten
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Liegt das auch an der fehlenden Großfamilie, an dem „Dorf“, das es früher gab?

Unbedingt. Die berühmte Redewendung „Es braucht ein Dorf, um ein Kind großzuziehen“ ist heute für viele Familien schlicht nicht mehr Realität. Großeltern wohnen oft weit weg oder sind selbst noch berufstätig. Nachbarn sind anonymer geworden, Freundeskreise sind nicht mehr so beständig und weit verteilt.

Für viele Mütter bedeutet das: Sie sind sehr früh mit der vollen Verantwortung allein – emotional, organisatorisch und manchmal auch finanziell. Da entsteht ein immenser Druck: Alles richtig machen, nichts verpassen, jedes Bedürfnis sofort erkennen und erfüllen. Das kann gar nicht gutgehen – und trotzdem versuchen viele genau das.

In der Konsequenz fällt es schwer, Verantwortung abzugeben – auch an uns pädagogische Fachkräfte. Es braucht viel Vertrauen, um zu sagen: „Ich weiß, dass mein Kind hier gut begleitet wird – auch wenn ich nicht dabei bin.“

Und oft sind es heute die finanziellen Gründe, aus denen viele Eltern ihre Kinder früh abgeben MÜSSEN?

Ganz klar: Ja. Das ist eine der häufigsten Rückmeldungen in Elterngesprächen. Viele würden ihr Kind gerne länger zu Hause betreuen, fühlen sich aber gezwungen, früh in den Beruf zurückzukehren – weil ein Gehalt allein nicht reicht, weil die Wohnung teuer ist, oder weil der Arbeitgeber signalisiert: „Jetzt erwarten wir dich zurück.“

In einer Betriebskita wird das besonders deutlich. Wir sind Teil eines Systems, das es Eltern zwar erleichtert, früh wieder zu arbeiten – das aber gleichzeitig implizit Druck ausübt. Eltern spüren diese Ambivalenz: Sie sollen Karriere machen und Familie unter einen Hut bringen – und gleichzeitig keine Schwächen zeigen.

Das führt bei vielen zu einem ständigen inneren Konflikt. Und der entlädt sich dann zum Beispiel im Flur der Kita, bei der Verabschiedung. Es ist nicht nur ein „Loslassen“ – es ist auch ein Abschied vom Wunschbild, wie Elternsein eigentlich aussehen sollte.

Beobachtest du das Verhalten auch bei Vätern?

Mein fabelhaftes Einzelkind
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Ja, aber anders. Väter übernehmen heute deutlich mehr Verantwortung als früher – auch bei der Eingewöhnung. Viele sind sehr präsent, feinfühlig und unterstützend. Aber gesellschaftlich ist der Druck auf Väter noch nicht ganz so hoch, alles perfekt machen zu müssen.

Während Mütter oft unter dem Zwang stehen, sowohl im Job als auch zu Hause 100 % zu geben, können Väter in manchen Kontexten noch mit weniger Erwartungsdruck agieren. Trotzdem erlebe ich auch Väter, die innerlich zerrissen sind, die sich fragen: „Bin ich genug für mein Kind?“ – nur zeigen sie es anders.

Was war denn die skurrilste Szene, die du zuletzt auf dem Flur erlebt hast?

Die skurrilsten Szenen spielen sich oft genau dann ab, wenn Eltern es eigentlich „gut meinen“ – und dabei völlig ausblenden, welche Wirkung ihr Verhalten auf das Kind und die Eingewöhnung hat. Eine Mutter schaffte es beispielsweise nicht, sich in den vorgesehenen Gesprächsraum zu setzen und dort 15 Minuten zu warten, während ihr Kind das erste Mal alleine in der Gruppe war.

Stattdessen saß sie an der Garderobe und schaute immer wieder durch das kleine Fenster in der Tür – natürlich nicht unbemerkt. Das Kind sah sie jedes Mal, fing sofort an zu weinen und konnte sich nicht einlassen. Für die Mutter war das der Beweis: „Mein Kind kann nicht ohne mich.“ Dass ihr Verhalten genau diese Reaktion verursachte, konnte sie nicht erkennen – oder nicht zulassen.

Eine weitere skurrile Geschichte ist die einer Mutter, die ihrem Kind heimlich einen AirTag in die Jacke nähte – aus Angst, es könnte bei einem Ausflug vergessen werden. Vertrauen in die Einrichtung oder das Team war kaum vorhanden, dafür umso mehr Kontrolle und Sorge – ein Spiegel der Überforderung, die viele Eltern heute erleben.

Spielplatz
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Was meinst du, hat Social Media damit zu tun, dass viele Eltern heute so viel um ihre Kinder herumkreisen?

Social Media ist Fluch und Segen zugleich. Auf der einen Seite bietet es Austausch, Ideen, Impulse – aber auf der anderen Seite setzt es enorm unter Druck. Es wird ein Idealbild von Elternschaft gezeichnet, das mit der Realität nichts zu tun hat.

Die perfekte Mutter in den sozialen Netzwerken sieht frisch aus, lacht mit ihren Kindern, spielt pädagogisch wertvolle Spiele, ist beruflich erfolgreich und natürlich total entspannt. Sie braucht keinen Schlaf und keine Hilfe. Und genau das suggeriert: „Wenn du es nicht schaffst, liegt es an dir.“

Das macht Eltern unsicher. Und aus dieser Unsicherheit entsteht der Wunsch, alles richtig zu machen – um sich selbst und den Kindern zu beweisen: „Ich bin eine gute Mutter, ein guter Vater.“ Aber „alles richtig“ ist kein realistisches Ziel – und auch kein gesundes.

Wie kommen wir denn da wohl wieder zu mehr Gelassenheit?

Ich wünsche mir, dass wir Eltern wieder mehr zutrauen – nicht im Sinne von „Mach mal allein!“, sondern im Sinne von: „Du darfst fühlen, zweifeln, scheitern – und trotzdem gut genug sein.“

Wir müssen echte Räume schaffen, in denen Eltern sich ehrlich zeigen dürfen. Wo es nicht um Vergleich, sondern um Verbindung geht. Und wir Fachkräfte können diesen Raum eröffnen – durch echtes Zuhören, durch Gespräche auf Augenhöhe, durch die Botschaft: „Du musst nicht perfekt sein. Dein Kind braucht vor allem dich – nicht deine Leistung.“

Wenn Eltern spüren, dass sie mit ihren Unsicherheiten nicht allein sind, entsteht etwas ganz Wichtiges: Vertrauen. In uns, in ihr Kind – und vor allem: in sich selbst.

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1 comment

  1. Die wenigen Male, bei denen ich beim Abschied Tränen in den Augen hatte (bzw. angefangen habe zu weinen, sobald ich aus dem Kindergarten draußen war) waren leider tatsächlich die Tage, an denen ich NICHT das Gefühl hatte, dass mein Kind gut im Kindergarten aufgehoben ist. Es waren die Tage, an denen ich das Gefühl hatte, dass mein Kind nicht so wahrgenommen wird wie er ist, sondern so funktionieren muss wie alle anderen.
    Es gibt viele tolle Kitas und viele tolle Erzieherinnen und dafür bin ich sehr dankbar und in der Krippe, habe ich unsere Kinder auch immer ohne Tränen meinerseits abgegeben.
    Deswegen könnte ich mir vorstellen, dass Eltern auch einfach mehr helikoptern, wenn die Betreuungsqualität schlechter ist – was ja heute allein schon aufgrund von Personalmangel leider öfter der Fall ist.

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