Ihr Lieben, das Leben ist so verdammt zerbrechlich, von einer Sekunde auf die andere kann sich alles ändern. Annes Mann starb vor vier Jahren bei einem Autounfall, seitdem ist sie alleine mit den drei Kindern. Wir sind ihr sehr dankbar, dass sie die Kraft hat, uns von diesem Schicksalsschlag zu erzählen und wünschen ihr alles, alles Liebe.
Liebe Anne, im Juni 2020 hatte dein Mann auf dem Weg zur Arbeit einen tödlichen Autounfall. Kannst du uns von diesem Morgen erzählen?
Zu dem Zeitpunkt war unser jüngster Sohn gerade 3 Monate alt. Mein Mann hatte zwei Monate Elternzeit genommen und war seit etwa einem Monat wieder zurück bei der Arbeit. Als Elektriker fing sein Arbeitstag in der Regel sehr früh an, ganz besonders, wenn er nicht direkt zur Baustelle fahren konnte, sondern noch zur Firma musste, z.B. um Material abzuholen.
An diesem Morgen ist er also früher aufgestanden als der Rest der Familie, hat sich sein Frühstück eingepackt und wir sind aufgestanden, als er um 6 das Haus verlassen hat. An der Treppe haben wir noch kurz den Tag besprochen, auch dass am Nachmittag der erste Termin meines Online- Rückbildungskurses anstand. Als letztes habe ich ihm – wie so oft- gesagt: Fahr vorsichtig, ich liebe dich!
Unser damals 4-Jähriger ist noch schnell runter gerannt, um Papa zu verabschieden und mein Mann hat ihm noch auf den nackten Bauch gepustet, was so lustige „Pupsgeräusche“ macht.
Während ich die Kinder fertig gemacht habe, hörte ich Martinshörner. Allerdings war das direkt an der Bundesstraße jetzt auch nichts außergewöhnliches, ich habe das gar nicht weiter registriert.
Wann und wie hast du dann erfahren, dass dein Mann einen tödlichen Unfall hatte?
Nachdem ich die beiden Großen in den Kindergarten gebracht hatte, bin ich mit dem Jüngsten und dem Hund spazieren gegangen. Das Getreide war reif und der Klatschmohn sah wunderschön aus. Es war ein sehr schöner Morgen. Wieder zuhause habe ich den Kleinen gefüttert und gewickelt, dann meine Sachen gepackt, weil die U-Untersuchung anstand.
Da klingelte es an der Tür und durch die Scheibe konnte ich Polizeiuniformen und gelbe Jacken sehen. Mein erster Gedanke war: „Bitte lass meinen Mann verhaftet worden sein. Oder nur verletzt. Aber bitte sagt mir nicht das, was ich denke, was ihr mir jetzt sagt.“
Der Polizist und zwei Seelsorger kamen mit ins Haus, fragten, ob sie ich setzen können. Dann wurde mir ungefragt das Baby aus dem Arm genommen und ich wusste schon, was dann kommen würde. Solche Mitteilungen müssen immer sehr direkt und unmissverständlich gemacht werden. „Ihr Mann hatte einen Autounfall und hat nicht überlebt.“ Mit diesem einzigen Satz war unser gemeinsames Lebe beendet und übrig blieben die Kinder, ich und ein Scherbenhaufen.
Wie hast du den restlichen Tag überstanden?
Mein erster Gedanke war: Ich muss meine Eltern anrufen, ich werde Hilfe brauchen. Der Polizist und die Seelsorger dachten, ich wollte meinen Mann anrufen und wollten mich am Telefonieren hindern. Als sie begriffen haben, was ich vorhabe, haben sie mich machen lassen.
Nach meinen Eltern habe ich seine Eltern angerufen. Seinen Vater habe ich auf dem Arbeitsweg, seine Mutter bei der Arbeit erreicht. Ich war sehr direkt, zu mehr war ich nicht in der Lage, aber ich fand es wichtig, dass ich es ihnen mitteile und dass ich das sofort mache.
Allerdings wurde mir die Formulierung, die ich in dieser absoluten Ausnahmesituation gemacht habe, später vorgeworfen und es entstand dieses „kill the messenger“ Problem, bei dem ich als Überbringer der Nachricht zum Ziel der Wut wurde. Nach diesen Telefonaten habe ich den Kindergarten informiert, aber darum gebeten, den Kindern noch nichts zu sagen, das wollte ich selbst machen.
Zwischendurch kamen zwei Polizisten und brachten mir die persönlichen Sachen meines Manns. Im Rucksack steckten die blutigen Handschuhe, die jemand vom Rettungsdienst hinein getan hatte, zwischen den Splittern seiner Brotbox und der Wasserflasche. Sein Schlüsselbund war komplett blutig.
Wann kam deine Familie zur Unterstützung?
Relativ schnell kamen meine Eltern, meine Schwester und mein Schwager. Sie haben auch die Kinder vom Kindergarten abgeholt, was die natürlich seltsam fanden, weil es nicht angekündigt war. Als sie zu Hause ankamen, stand dann schon ein Bild und eine Kerze auf dem Tisch, da war zumindest der Großen schon ziemlich klar, was los sein muss, denn das das Ritual mit Bild und Kerze kannte sie von den Sternenkindern, die wir in den Jahren zuvor gehen lassen mussten.
Wie haben deine Kinder auf die schlimme Nachricht reagiert?
Ich habe mich dann mit den beiden Großen aufs Sofa gesetzt und ihnen gesagt, was passiert ist. Sie haben kurz geweint und sich dann meine Schwester geschnappt und gefragt, ob sie was vorlesen kann. An den Rest des Tages habe ich kaum Erinnerungen.
Die erste Zeit ist man sicher im totalen Schock – wann hast du realisiert, dass dein Mann wirklich nicht mehr da ist?
Am Anfang war es einfach total surreal. Man wartet ständig darauf, dass die Tür aufgeht und er reinkommt, dass man beim Abendessen sein Auto vor dem Fenster vorbei zum Parkplatz fahren sieht.
Manchmal warte ich – ehrlich gesagt – auch jetzt noch darauf, dass ich aufwache. Ich hatte nämlich ein halbes Jahr vor dem Unfall mal einen Albtraum gehabt, in dem er bei einem Autounfall verstorben war. Damals bin ich aufgewacht und er war im Bad. Und manchmal geht die Phantasie komplett durch und ich hoffe, dass ich eigentlich noch träume.
Was das Ganze noch unwirklicher macht, war, dass wir ihn nicht mehr sehen konnten. Er hatte zu schwere Kopfverletzungen. Seine Eltern, Brüder und ich waren zwar im Kühlhaus, aber da war er im Bergesack und man konnte nur Konturen erahnen und etwas durchschimmern sehen. Das was man gesehen hat, war natürlich schon er, die Körperform, die Händen, der Ring am Finger. Aber man hat ihn eben nicht mehr wirklich gesehen, also kein Gesicht.
Was waren damals deine größten Ängste?
Oh, das waren viele. Wie schaffe ich das finanziell? Was ist mit dem Hausbau, der kurz darauf losgehen sollte. Wie wird das mit Covid weitergehen? Wie werden meine Kinder ohne Vater aufwachsen? Werden sie traumatisiert sein und bleibende Schäden haben? An was muss ich jetzt alles denken? Wen muss ich informieren, was muss ich beantragen/abmelden/ummelden/organisieren? Was ist, wenn mir etwas passiert? Kann ich je wieder arbeiten? Traue ich mich, wieder Auto zu fahren?
Eine große Angst war auch das Alleinsein. Eigentlich völlig abwegig, aber einer der ganz frühen Gedanken war: Wenn ich wieder einen Partner finde, wie wird das dann laufen? Die Vorstellung, den Rest meines Lebens allein zu sein, war extrem beängstigend.
Irgendwann wurde mir dann bewusst: ich suche nicht einen Partner, ich suche meinen Partner und der ist nicht mehr da. Inzwischen bin ich da an einem Punkt: ich suche nicht nach einer Partner-Beziehung, die aus dieser ersten Verzweiflung und der Angst vor dem Alleinsein entsteht, denn die halten in der Regel ohnehin nicht. Wenn mir das Leben nochmal einen Partner schenkt, dann freue ich mich. Wenn nicht, komme ich auch alleine zurecht.
Du hast uns auch erzählt, dass die ganze Bürokratie unfassbar viel Kraft gekostet hat. Was war für dich das Schwerste?
Zu der Zeit gab es wegen Corona natürlich wenig Unterstützung. Man konnte nicht einfach einen Termin bei der Rentenberatung machen. Die Familie von beiden Seiten hat mich zwar wirklich unterstützt, aber vieles musste ich eben selbst machen. Und die Anträge für Renten z.B. sind extrem komplex, man muss echt viel Kram raussuchen und zum Teil weiß man nicht so genau, was die wollen. Das frisst unheimlich viel Zeit und die hatte ich in der Regel erst nach 22 Uhr abends.
Mein Tag begann sehr früh, weil das Baby Hunger hatte, war dann sehr intensiv gefüllt mit Kindern und Terminen. Wenn die Kinder im Bett waren, kam der Haushalt und danach der Schreibtisch. Für mich und meine Bedürfnisse war da kein Raum mehr. In den ersten drei Wochen habe ich kaum Zeit zum Duschen gefunden.
Und das Schlimme ist: Es ist ja nicht vorbei, wenn die Sachen ausgefüllt sind. Es ist auch nicht vorbei, wenn sie bewilligt sind. Jedes Jahr muss ich vor der Rentenkasse finanziell die Hosen runterlassen, arbeiten gehen lohnt sich kaum, weil die Hinzuverdienstgrenze so niedrig ist.
Das Grundstück, auf dem wir bauen wollten, hatte nur meinem Mann gehört – das konnten wir erst nach Klärung des Erbes und mit Zustimmung des Familiengerichts verkaufen, was unheimlich viel Zeit gebraucht hat. Als Folge mussten wir Spekulationssteuer zahlen und durch die Einnahmen wurden mir zwei Drittel meiner Rente gekürzt. Weil wir das Grundstück nicht mehr selbst bebauen konnten und verkaufen mussten, wurden wir also finanziell noch abgestraft.
Das kostet alles Kraft, die man eigentlich nicht hat, richtig?
Ja, jeder Schritt ist unheimlich mühsam, erfordert viel Arbeit und Geduld, kostet oft noch Geld und wenn es um Hilfen geht, kommt immer ein nicht enden wollender Rattenschwanz an Überprüfungen und Papierkram hinterher. Irgendwann kommt man zu dem Schluss, dass man auf Hilfe besser verzichtet, weil die Beantragung mehr Zeit und Nerven kostet, als dir die Hilfe hinterher wieder reinbringt.
Der Unfall ist nun 4 Jahre her – wie geht es den Kindern und dir aktuell?
Wir sind umgezogen in die Nähe meiner Familie und haben auch meinen Mann hierhergeholt. Die Kinder sind gut angekommen, haben Freunde und Hobbys. Ich bin auch sehr stolz auf sie, denn trotz allem sind sie fröhlich und nicht von Ängsten gesteuert. Sie gehen ohne Probleme oder Trennungsängste auf Pfadfinderaktionen und Klassenfahrten, sind gut in der Schule.
Ich sehe natürlich aber auch die Sachen, die ich ihnen nicht bieten kann – schon deshalb, weil die Zeit und meine Kapazitäten nicht ausreichen oder weil es Sachen sind, die ich nicht gut kann oder wo man zwei Erwachsene bräuchte.
Für mich persönlich bleibt natürlich wenig Zeit. Kinderfreie Zeit, Me-Time, das sind Wörter, die ich schon fast vergessen habe. Hobbys, Sport, das ist für mich eigentlich unmöglich, auch weil die beiden Jungs medizinische Besonderheiten und dadurch viele Termine haben.
Aber ich arbeite wieder in Teilzeit, was mir viel Spaß macht und nur geht, weil ich eine flexible, verständnisvolle Chefin habe. Wenn man mich fragt, ob ich mit meinem Leben zufrieden bin, dann würde ich sagen: „Noch nicht, aber ich arbeite daran.“
Wann fehlt dir dein Mann am meisten und wie präsent ist er noch in eurem Alltag?
Er fehlt so oft. Wenn wir schöne Dinge erleben, muss ich immer daran denken, was wir alles noch vorhatten. Vieles haben wir verschoben und dann immer gesagt: Wir haben ja noch Zeit.
Er fehlt mir als Partner, mit dem ich mich austauschen kann, mit dem ich Probleme besprechen kann, mit dem ich lachen kann. Er fehlt mir als Handwerker, der mal fix Dinge reparieren kann, der einfach mit anpackt. Mir fehlt dieser offene und vorurteilsfreie Mensch, der immer schnell Kontakte geknüpft hat und immer gut für spontane Aktionen war.
Stefan ist immer ein Thema hier. Es hängen Bilder von ihm hier, wir gehen zum Grab, wir sprechen über Erinnerungen. Ich finde das ganz wichtig, denn die beiden Großen haben nur wenige Erinnerungen, der Kleine kennt ihn nur aus unseren Erzählungen und von Bildern.
Was wünscht du dir für die Zukunft?
Natürlich die Dinge, die sich jede Mutter wünscht. Dass die Kinder zu Menschen heranwachsen, die gut im Leben stehen und zurechtkommen. Ich hoffe, dass sie durch Stefans Tod keinen Schaden davongetragen haben, sondern gelernt haben, dass sie trotz Schwierigkeiten und Tiefschlägen ein gutes Leben führen können und es weitergeht, auch wenn etwas schiefgeht oder man Schlimmes erlebt.
Ich wünsche mir, dass wir als Familie auch in Zukunft so zusammenhalten und dass wir noch viele tolle Abenteuer gemeinsam erleben. Ich möchte später meine Enkel sehen können und ihnen von Opa erzählen.
Für mich wünsche ich mir, dass ich irgendwann auch wieder Zeit habe, mehr auf mich selbst zu achten, Hobbys zu haben und einfach mal nichts zu tun. Ob mit oder ohne Partner – ich habe vor, mein Leben in vollen Zügen zu leben. Und Stefan ist immer mit dabei, er wird immer dazu gehören.
2 comments
Liebe Anne,
Neben allem Herzzerreißenden regt mich die Bürokratie auf. Spekulationssteuer ist ja wohl für Spekulanten und nicht für Witwen mit kleinen Kindern gedacht. Ich wette, die echten Spekulanten finden Wege, wie sie steuerfrei fahren. 😡 Wenn jemandem das Geld voll und ganz zusteht, dann Dir und Deinen Kindern.
Liebe Grüße!
Liebe Anne, was für ein unfassbares Schicksal. Der plötzliche Tod deines Mannes tut mir sehr leid. Ich wünsche dir und euren Kindern auch weiterhin viel Kraft und liebe Menschen in eurem Leben, die für euch da sind. Meine aufrichtige Anteilnahme. Wie mutig von dir, dieses Interview zu geben.