Dein Kind, dein Therapeut: Es braucht keine perfekten Eltern, sondern reflektierte

Dein Kind, dein Therapeut

Ihr Lieben, Anna Deutsch ist psychosoziale Beraterin und schreibt grad an einem Buch mit dem Namen „Dein Kind, dein Therapeut“. Nach über 20 Jahren in der Familienbegleitung, weiß sie: Kinder verhalten sich nicht falsch. „Was auf den ersten Blick wie kindliches Fehlverhalten wirkt, ist oft Ausdruck einer Geschichte, die nie erzählt und Gefühle die nie gesehen wurde“, sagt sie.

Sie ist Mutter von zwei Kindern mit 20 Jahren Altersunterschied und hat erlebt, wie sich pädagogische Haltungen und gesellschaftliche Anforderungen ständig verändern. Aus eigener Erfahrung weiß sie außerdem, wie sehr sich ungelöste familiäre Prägungen auf das Leben mit Kindern auswirken können. Manchmal leise, manchmal heftig, immer fordernd.

Liebe Frau Deutsch, Sie sind psychosoziale Beraterin und arbeiten seit vielen Jahren in der aufsuchenden Familienhilfe. Was machen Sie da genau?

Ich begleite Familien, die unter den Spannungen im Alltag leiden. Mein Fokus liegt dabei auf den Beziehungsmustern, die hinter den täglichen Konflikten und Herausforderungen stehen. Es geht nicht nur um Erziehung im klassischen Sinn, sondern um ein tieferes Verstehen: Warum reagieren wir, wie wir reagieren und wie können wir aus alten Mustern aussteigen?

Ich arbeite dort, wo das echte Leben passiert, im Wohnzimmer, auf dem Schulhof, im Gespräch mit Lehrer:innen, Ärzt:innen oder der Kinder- und Jugendhilfe. Denn nur, wenn wir das gesamte Familiensystem im Blick haben, können wir wirklich verstehen, was Kinder brauchen und wie Eltern handlungsfähiger und selbstwirksamer werden können.

Lehrerin
Foto: pixabay

Sie sagen, Ihre Arbeit setzt dort an, wo klassische Hilfesysteme an ihre Grenzen stoßen. Inwiefern?

Mein Ansatz ist systemisch und traumasensibel, denn was Familien im Alltag belastet, reicht oft viel tiefer, als es auf den ersten Blick scheint. Unverarbeitete Erfahrungen, weitergegebene Prägungen und unbewusste Dynamiken spielen eine große Rolle im Miteinander.

Genau hier stoßen klassische Hilfesysteme oft an ihre Grenzen: Weil der Schritt, sich Hilfe zu holen, für viele Familien eine große Hürde darstellt. Weil es in konflikthaften Situationen kaum möglich ist, alle Beteiligten zu einem gemeinsamen Termin zu bringen und Kinder oft gar nicht verstehen, warum sie zu einer Beratung mitkommen sollen. Genau in diesen Alltagssituationen braucht es Unterstützung, die dorthin geht, wo das Leben stattfindet, in die Familien selbst.

Oft verstreichen Wochen bis zu Diagnostikterminen, wertvolle Zeit, in der im direkten Lebensumfeld bereits viel bewegt werden könnte. Gerade alltägliche Konflikte wie Schulverweigerung, Essensstreit oder Wutausbrüche enthalten oft entscheidende Hinweise auf tieferliegende Themen und Chancen auf Veränderung.

Mit meinem Ansatz: „Mein Kind, mein Therapeut“ helfe ich Eltern, die dahinterliegenden Dynamiken zu erkennen und verstehen und begleite sie darin, handlungsfähig und selbstwirksam zu bleiben. So können sie Schritt für Schritt eine unterstützende, stärkende Rolle einnehmen: präsent, klar, verbunden und mit wachsendem Gespür für das, was ihr Kind ihnen mit diesem Verhalten wirklich aufzeigen möchte.

Sie begleiten auch in Adoleszenzkrisen. Was genau ist das?

Wenn Kinder über Jahre hinweg gelernt haben, sich still anzupassen, Konflikten auszuweichen oder sich selbst zurückzunehmen, dann kommt oft in der Adoleszenz der Punkt, an dem das nicht mehr funktioniert. Dann brechen unterdrückte Emotionen oder unbewusste Überforderungen auf, und das zeigt sich in Krisen.

Ich sage oft: Kinder sind wie Füchse. Wachsam, sensibel und äußerst anpassungsfähig. Sie spüren ganz genau, welche Erwartungen, Spannungen oder unausgesprochene Gefühle in ihrer Umgebung herrschen und passen sich daran an. Diese Art der Anpassung ist in früheren Lebensjahren eine Überlebensstrategie, aber niemand sollte dauerhaft im Überlebensmodus bleiben.

Die Adoleszenz ist eine Zeit massiver Veränderungen: körperlich, hormonell und geprägt von sozialen Umbrüchen. Jugendliche sollen ihre Identität entwickeln, sich abgrenzen und in einer Gemeinschaft bestehen. Besonders in der mittleren Phase beginnen sich früh erlernte Verhaltensmuster zu verfestigen, vor allem dann, wenn emotionale Unsicherheiten bestehen, die aus nicht verarbeiteten Themen der Eltern stammen. Daraus entstehen häufig Überforderung, Rückzug, Wut oder andere sogenannte Auffälligkeiten, die die weitere Autonomieentwicklung blockieren können.

Was zeigt sich in eben jenen Krisen?

In solchen Krisen zeigt sich vor allem eines: Es braucht einen geschützten Raum, in dem emotionale Nachreifung möglich wird. Plötzliche Schulangst, unerklärliche Wutausbrüche, Essensverweigerung oder das Gefühl nicht gesehen zu werden, all das sind Signale. Wenn Eltern diese als Hinweise auf tiefere Zusammenhänge verstehen, kann echte Entwicklung stattfinden. Denn: Kinder brauchen keine perfekten Eltern. Sie brauchen Bezugspersonen, die bereit sind hinzusehen, auch in den eigenen Spiegel. 

Es liegt in unserer Hand, Kindern und Jugendlichen ein Umfeld zu schaffen, in dem sie nicht aus Anpassung, sondern aus Authentizität heraus handeln dürfen. Und Vorbilder, die ihnen zeigen, wie man mit Emotionen und Bedürfnissen gesund umgehen kann.

Schwiegermutter
Foto: pixabay

Sie haben Ihre Masterarbeit zum Thema transgenerationale Weitergabe von Traumata im Kontext von Erziehung abgeschlossen. Was war die Quintessenz?

Meine Untersuchung hat gezeigt, dass unverarbeitete Traumata der Eltern weitreichende Auswirkungen auf die Beziehung zu ihren Kindern haben und auf deren psychisches Wohlbefinden.

Ich sage oft: Erziehung findet zwischen den Zeilen statt. Das bedeutet, dass es nicht nur um Regeln, Rituale und Reaktionen geht, sondern um das, was unausgesprochen bleibt. Angst, Schuld, Scham, alte Verletzungen. Kinder spüren all das. Und nicht selten bringen sie ganz unbewusst genau jene Themen bei ihren Eltern in Bewegung, die noch nicht wirklich verarbeitet wurden.

Besonders spannend ist ein Phänomen, das ich immer wieder beobachte: Häufig reagieren Kinder genau dann auffällig, wenn sie in ein Alter kommen, in dem den Eltern damals selbst etwas Verletzendes widerfahren ist. Diese unbewusste Spiegelung kann starke emotionale Reaktionen auslösen. Doch wenn sie erkannt werden, entstehen tiefe Aha-Erlebnisse und genau dort beginnt Veränderung.

Wo finden Sie dieses Theorie-Wissen in der Praxis und wie helfen Sie, alte Muster zu durchbrechen?

Das was ich täglich erlebe, bestätigt die Theorie. Und sie hilft mir, Zusammenhänge zu benennen. In der Praxis beginne ich häufig mit einer sogenannten Standortbestimmung: Wo steht die Familie gerade? Was triggert? Was wiederholt sich?

In meiner Arbeit zeigen sich immer wieder typische Folgen elterlicher Traumatisierung. Gefühle, die oft unbemerkt auf die Kinder übertragen werden. Kinder, die unbewusst eine Rolle übernehmen, die eigentlich nicht zu ihnen gehört. Eltern, die spüren, dass sie immer wieder in dieselben Muster geraten, obwohl sie es anders machen wollen. Dazu kommen körperliche Symptome, Spannungen in der Paarbeziehung und Schwierigkeiten, mit starken Gefühlen umzugehen.

Die zentrale Erkenntnis ist, nur wenn Eltern sich ihrer eigenen Geschichte bewusst werden, können sie mit ihren Kindern in eine wirklich echte Verbindung treten und die Konflikte bzw. Herausforderungen verstehen und bewältigen.

Sie helfen auch bei Schulverweigerung, Anstrengungsverweigerung oder Rückzug. Wie genau?

Ich sage immer gerne: rückwärts verstehen, um vorwärts gehen zu können. Es geht nicht darum, Schuldige zu finden, sondern zu verstehen, warum eine Situation überhaupt entstanden ist.

Eltern dürfen zuerst innehalten, reflektieren und fühlen, bevor sie handeln. Dieses bewusste Erkennen verhindert, dass es in einem ständigem Kampf- oder Fluchtmodus reagieren. Stattdessen entsteht ein Raum für Verbindung, in dem eine neue Vertrauensbasis zwischen Eltern und Kind wachsen kann.

Gerade bei Themen wie Schulverweigerung, Rückzug oder Anstrengungsverweigerung ist es wichtig, nicht nur auf das Verhalten zu schauen, sondern auf das, was darunter liegt. Ich begleite Eltern dabei, die Dynamik hinter dem Verhalten ihres Kindes zu erkennen und zu verstehen – nicht gegen das Kind zu arbeiten, sondern mit ihm gemeinsam auf Augenhöhe. Dabei verstehe ich mich als Sprachrohr für Groß und Klein. Es geht um Verständnis, statt Verurteilen. Und wenn dieses tiefe Verstehen einsetzt, entsteht Handlungsspielraum. „So bin ich eben, so möchte ich es künftig gestalten“.

Ein weiterer Schlüssel ist die enge Zusammenarbeit mit Schulen und bereits eingebundenen Helfersystemen. Nur durch transparente Kommunikation und ein gemeinsames Verständnis lässt sich eine tragfähige Unterstützung für das Kind oder den Jugendlichen aufbauen, um einen echten Wandel ermöglichen. 

Vererbtes Glück
Foto: pixabay

Sie finden, Politik und Gesellschaft übersehen die Krisen in unseren Familien?

Ja! ich finde, sie schauen zu wenig genau hin. Die psychische Gesundheit vieler Kinder und Jugendlicher ist massiv belastet. Angststörungen, Depressionen, Schulverweigerung, Sucht- Selbstverletzendes und destruktives Verhalten nehmen zu. Wir brauchen endlich mehr als nur Symptombehandlung.

Ich erlebe und beobachte, dass Kindern oft vorschnell Diagnosen gestellt werden, ohne den emotionalen oder familiären Kontext wirklich zu hinterfragen. Dabei liegt, gerade in der Beziehungsebene und im Verstehen der kindlichen Signale der Schlüssel zu echter Veränderung.

Ich betone stets: Es gibt keine perfekten Eltern, keine ideale Erziehung und kein normgerechtes Kind. Erziehung geschieht im Spannungsfeld von Geschichte, Beziehung und Gesellschaft. Wer das anerkennt, kann Eltern stärken, statt sie zu beschämen.

Die transgenerationale Weitergabe von Traumata muss gesellschaftlich sichtbarer werden, denn die Konflikte von heute wurzeln oft in den Verletzungen von gestern. Wenn wir das Begreifen, können wir Kinder besser schützen und Eltern in ihrer Rolle wirklich unterstützen.

Wie würde also Ihr Abschlussstatement im Sinne von „Dein Kind, dein Therapeut“ lauten?

Kinder brauchen keine perfekten Eltern. Sie brauchen Eltern, die bereit sind, hinzusehen, auch in ihr eigenes Spiegelbild.

Solange wir aber nur Symptome behandeln, und gleichzeitig die Wurzeln ignorieren, wird sich nichts Ändern. Veränderung beginnt da, wo wir den Mut haben, ehrlich zu uns selbst zu sein.

Ich wünsche mir, dass wir alle anfangen, – wieder mehr zuzuhören – Eltern, Fachkräfte, Gesellschaft. Das bedeutet: Uns selbst, unseren Kindern, einander. Nur so kann aus Anpassung echte Verbindung entstehen.

Aktuell arbeite ich an meinem ersten Buch mit dem Titel „Dein Kind, dein Therapeut“. Ich möchte allen Mensch Mut machen, die Selbstwirksamkeit und Kraft, die in dieser Thematik verborgen liegt, zu erkunden.

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