Mein Sohn galt als unbeschulbar – so geht es uns zwei Jahre später

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Liebe Sandra, vor zwei Jahren haben wir schon mal ein Interview mit Dir geführt. Es ging um deinen Sohn, der als unbeschulbar galt, obwohl er noch nicht mal eingeschult war. Kannst du nochmal kurz zusammenfassen, was damals das „Problem“ war?

Unser Sohn hatte in neuen/unbekannten Situationen einfach so große Angst, dass er sich zum Teil komplett verweigert hat, um so schnell wie möglich (und vor allen Dingen „unbeschadet“) wieder da rauszukommen. Wenn sich auch nur Kleinigkeiten in gewohnten Abläufen verändert hatten, hat ihn das ebenfalls so durcheinandergebracht, dass am Ende gar nichts mehr ging.

Um eingeschult zu werden, musste er jedoch an der Grundschule einen sogenannten Einschulungsparcours mitmachen und z. B. seinen Namen schreiben, Reimwörter finden oder auf einem Seil am Boden balancieren. An dem Einschulungsparcours nehmen immer mehrere Kinder gleichzeitig teil – bzw. die nächsten Kinder warten die schon auf dem Flur – dementsprechend laut und wuselig ist es dann.

Unser Sohn hat sich nahezu komplett verweigert, saß die ganze Zeit auf meinem Schoß, schaute niemanden an und sprach kaum ein Wort. Die Rektorin bot uns dann einen neuen Termin zusammen mit der zuständigen Sozialpädagogin an, aber auch hier hat unser Sohn einen Großteil der Aufgaben verweigert. Letztlich waren sich die Rektorin und Sozialpädagogin einig, dass sie unseren Sohn auf Grund seiner „Verweigerungshaltung“ nicht in der Schule sehen und er in einer Klasse mit knapp 30 Kindern wohl auch untergehen würde. Eventuell würde es mit einem Integrationshelfer klappen, aber um einen entsprechenden Antrag zu stellen, hätten wir auch eine Diagnose gebraucht. Kurzgesagt hieß das also, dass unser Sohn als „unbeschulbar“ galt. Daher hatten wir uns alternativ zur Grundschule hier im Ort auch eine Montessori-Schule angesehen.

Und nun die Frage: In welcher Schule ist euer Sohn und wie macht er sich?

Unser Sohn geht in die 2. Klasse einer „normalen“ Grundschule; pro Jahrgang gibt es zwei Klassen mit jeweils ca. 30 Kindern. Er wurde 2020 – also im ersten Corona-Jahr – eingeschult. Mein Mann und ich haben uns im Vorfeld viele Sorgen gemacht, wie unser Sohn damit umgehen und ob es ihm dadurch schwerer fallen würde, in der Schule bzw. im Schulalltag anzukommen. Diese Sorge war völlig unbegründet.

Er hat die Situation einfach so genommen, wie sie war. In den wenigen Situationen, in denen er sich doch verweigert hat, haben seine Klassenkameraden ihn bestärkt, dass es doch besser ist, eben schnell diese oder jene Aufgabe zu erledigen als „Theater“ zu machen. Es läuft also!

Was klappt besonders gut und wo braucht er Unterstützung? 

Unser Sohn kann sehr konzentriert arbeiten und lässt sich nicht so leicht von seiner Aufgabe ablenken. Allerdings möchte er dann auch alles komplett richtig machen. Sobald er einen kleinen Fehler macht oder irgendetwas nicht so klappt, wie er es gerne möchte, frustriert ihn das und es fällt ihm schwer, Hilfe anzunehmen bzw. nach Hilfe zu fragen.

Zu Hause bestärken wir ihn und sagen, dass es absolut nicht „schlimm“ ist, wenn etwas nicht zu 100% klappt und er uns jederzeit um Hilfe fragen kann und auch soll. In der Schule klappt das Hilfe annehmen/nach Hilfe fragen auch schon besser, von daher sind wir da auf einem guten Weg.

Wie seid ihr mit den Lehren im Kontakt, welche Rückmeldungen bekommt ihr?

Wir sehen unsere Klassenlehrerin immer an den Elternsprechtagen und haben von ihr bzw. den KollegInnen bisher ein sehr positives Feedback bekommen. Ansonsten sind wir per Mail/telefonisch in Kontakt, falls kurzfristig Dinge besprochen werden müssen. 

Bekommt ihr professionelle Hilfe?

Nein, aktuell nicht.

Wie zufrieden bist du mit den letzten zwei Jahren?

Zufrieden trifft es nicht ganz, aber ich weiß, was du meinst 🙂 Dass unser Sohn unbeschulbar ist, hat sich glücklicherweise nicht bestätigt. Wenn ich ihn mir heute anschaue, bin ich einfach wahnsinnig stolz auf ihn und wie er sich verändert hat. Vor zwei Jahren war es für unseren Sohn z. B. unmöglich, in der Eisdiele selbst ein Eis zu bestellen. Er hat dann immer wieder zu mir/meinem Mann gesagt „Du sollst das machen!“ und war einfach verzweifelt, wenn wir verneint haben (stattdessen haben wir ihn bestärkt, dass er das schafft).

Wenn unser Sohn gemerkt hat, dass wir ihm nicht „helfen“, hat er zwar selbst bestellt, aber ohne Blickkontakt und dabei so leise und gepresst gesprochen, dass natürlich Nachfragen kamen. Aber es nochmal lauter zu sagen, was er für ein Eis möchte, war für ihn in dem Moment unmöglich. Heute macht er das mit einer Selbstverständlichkeit, die wir ihm vor zwei Jahren nicht zugetraut hätten: Er hält den Blickkontakt und sagt ganz genau, was er möchte und was nicht  Das mag für manch andere Eltern eine Kleinigkeit sein, aber für uns bzw. unseren Sohn ist das ein wahnsinnig großer Schritt!

Ihr wart ja auch mal in einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychologie. Wie war das da und was habt ihr daraus mitgenommen?

Genau, insgesamt waren wir acht Wochen dort. In der ersten Woche durften wir erst einmal ankommen und uns in den Klinikalltag einfinden; zeitgleich wurden wir von den Therapeut*innen/Pädagog*innen „beobachtet“, d. h. wie agieren wir im Umgang miteinander, aber auch mit den anderen Kindern und Eltern sowie den Therapeut*innen/Pädagog*innen. 

In der zweiten Woche ging es dann „richtig“ los mit verschiedenen Therapien (u. a. Ergo- und Reittherapie), an denen unser Sohn zum Teil allein, zum Teil mit einem von uns teilgenommen hat. Außerdem gab es Einzelgespräche mit uns als Eltern sowie die Elterngruppe.

Wir als Eltern haben zusammen mit den Therapeut*innen ein einen Fahrplan festgelegt bzw. besprochen, wo wir hinwollen, und gemeinsam mit unserem Sohn für jede Woche ein kleines Wochenziel festgelegt. Der Weg dorthin war nicht immer einfach, wir hatten mal gute, mal schlechte Tage… Daher war es ein großes Glück, dass unser Sohn sich mit den anderen Kindern (bzw. wir mit den anderen Eltern) sehr gut verstanden hat; so konnten die Kinder zwischen den Therapien oder am Abend zusammen spielen und wir als Eltern konnten uns über den Klinikalltag austauschen, aber manchmal auch einfach zusammensitzen und lachen.

Unser Ziel war/ist, unserem Sohn die Angst vor neuen/unbekannten Situationen zu nehmen und mehr (Selbst-) Sicherheit zu geben; daher sind/waren relativ enge Grenzen sehr wichtig für ihn. Sprich, auf eine Aktion von ihm, folgt eine entsprechende Reaktion von uns bzw. wir benennen ganz klar die Konsequenzen, die sein Verhalten hat.

Letztendlich ist unser Sohn dann derjenige, der entscheidet, ob er so weitermachen möchte und die entsprechende Konsequenz trägt oder ob er damit aufhört. D. h. er kann durch sein Verhalten das Geschehen aktiv beeinflussen und in eine bestimmte Richtung „lenken“, muss dabei aber Grenzen einhalten bzw. mit entsprechenden Konsequenzen rechnen, wenn er diese Grenzen eben nicht einhält.

Was möchtest du anderen Eltern in ähnlichen Situationen raten? 

Lasst Euch nicht entmutigen, egal, welche Prognose Euer Kind hat und wie aussichtslos die Situation scheint. Auch wenn es schwerfällt, scheut Euch nicht, Hilfe zu suchen und anzunehmen – oftmals hat jemand von außen einen ganz anderen Blick auf die Situation als man selbst und kann einen Anstoß geben, etwas zu verändern oder etwas anderes zu versuchen.

Das ist nicht immer einfach, es wird Momente geben, in denen Ihr denkt „Ich habe so viel falsch gemacht! Warum habe ich das nicht eher (ein)gesehen?!“, aber genau diese Momente braucht es, um die alten Gewohnheiten abzulegen und sich auf neue einzulassen. Die Situation wird sich zwar nicht von heute auf morgen ändern, aber jeder noch so kleine (Fort-) Schritt ist ein Erfolg – egal wie weit der Weg noch ist.

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2 comments

  1. Schön, dass euer Kind in der Schule glücklich angekommen ist nach dem holprigen Start.

    Aus eigener Erfahrung mit einem sehr ähnlichen Kind, verfolge ich tatsächlich einen ganz anderen Ansatz – ich finde das System grundverkehrt.

    In meinen Augen ist es völlig in Ordnung, wenn ein 6jähriger sich nicht alleine in der Eisdiele eine Kugel Eis bestellt. Ein Großteil der Kinder mag das ohne Probleme machen – aber ich finde es eben nicht pathologisch, wenn ein Kind so zurückhaltend ist.

    Bei meinem inzwischen 9jährigen Sohn ist das ähnlich, Eis bestellen geht inzwischen, beim Bäcker ist er noch aufgeschmissen, da traut er sich noch nicht.
    Wenn ich mir aber vorstelle, auf Knien vor der hohen Bäckertheke zu stehen, mit dem Lärm der Kassenbänder des Supermarkts im Hintergrund und ner langen Schlange hinter sich, kann ich das völlig nachvollziehen.

    Ein Schulspiel als Aufnahmekriterium zu machen für die Grundschule, finde ich vom System völlig daneben. Erziehung geht über Beziehung und warum soll ein 5jähriger wildfremden Menschen vertrauen?

    Mein jüngerer Sohn, deutlich „offener“ als der große Bruder, ist beim Einschulungsgespräch auch „durchgefallen“ (ich las den Begriff dazu tatsächlich mal in einem Forum, ich nutze ihn hier satirisch!). Beim nächsten Gespräch sagte die Rektorin, ich hätte ja ein ganz anderes Kind dabei.
    Das Setting im ersten Versuch war einfach Mist, spät, müde…..

    Ich bin selber Lehrerin, weiß, dass viele viele Kinder keinerlei Probleme damit haben – aber es ist eben nicht jedes Kind „alle“.

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