Rückstellung: „Wir wollten unserem Sohn noch ein Jahr schenken“

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Ihr Lieben, als Eltern wollen wir ja möglichst viel richtig machen und wenn es dann irgendwann um die Einschulung geht, steht bei einigen ja die Frage nach einer möglichen Rückstellung im Raum. Als unsere Zwillinge damals zur Schule mussten, waren sie erst 5.

Ich hätte mich sehr gefreut, sie noch ein Jahr weiter im Kindergarten spielen zu lassen, leider wurde uns diese Möglichkeit verwehrt und eine Rückstellung nicht genehmigt (es gab zur Verlegung des Stichtags in NRW auch eine Petition). Beim Sohn unserer Leserin war das anders, sie hat es geschafft, ihren Sohn zurückstellen zu lassen. Hier erzählt sie wie und warum.

Wir haben schon öfter darüber geschrieben, dass es recht schwierig für Eltern werden kann, wenn sie ihr Kind vor der Einschulung noch ein Jahr zurückstellen wollen – wie war das bei euch? Welche Hürden gab es oder war das ganz einfach?

Die Rückstellung als solche verlief ganz einfach und unkompliziert. Im Vorfeld haben wir als Eltern lange miteinander geredet, die Großeltern befragt und mit Kinderarzt, Neuropädiater, Ergotherapeutin und der Kita gesprochen. Wir waren alle der Meinung, dass unser Sohn noch ein bisschen Zeit bräuchte, bevor er zur Schule gehen sollte.

Nachdem wir uns in unserer Meinung sehr sicher waren, habe ich bei der Grundschule, auf der mein Sohn eingeschult werden sollte, im Frühjahr vor der Einschulung einen Antrag auf Rückstellung gestellt. Dem behandelnden Neuropädiater und der Kita habe ich eine Schweigepflichtentbindung erteilt, damit diese ihre Sicht der Dinge mit der Schule kommunizieren dürfen. Bei der Einschulungsuntersuchung habe ich darauf bestanden, dass die Schulärztin ankreuzt, dass er zurückgestellt werden soll. Der Antrag auf Rückstellung wurde uns dann schriftlich erteilt.

Wie lief diese erste Einschulungsuntersuchung denn?

Diese Untersuchung war die totale Katastrophe. Er hatte großen Durst, das hat die Ärztin ignoriert und ich hatte kein Wasser dabei. Das hat ihn so aus der Fassung gebracht, dass er weite Teile der Untersuchung verweigert hat. Die Ärztin war der Meinung, dass er trotzdem unbedingt eingeschult werden solle, da er ein intelligentes Kind sei, dem ein weiteres Jahr Kita viel zu langweilig sei. Ich habe dann vehement insistiert und darauf bestanden, dass sie „Rückstellung empfohlen“ ankreuzen soll. Das tat sie widerwillig, aber sie tat es.

Zur Rückstellung: Warum genau wolltet ihr, dass euer Sohn noch ein Jahr mehr Zeit kriegt?

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Unser Sohn ist Ende Juni geboren und damit fast ein Kann-Kind (der Stichtag in unserem Bundesland ist der 30.06). Bei der letzten Vorsorge-Untersuchung mit gut 5 Jahren war mein Sohn sehr unruhig und sehr leicht ablenkbar. Im Anschluss an die Untersuchungen habe ich sehr offen mit dem Kinderarzt gesprochen. Ich habe berichtet, dass mich das Leben mit meinem Sohn sehr anstrengt und mich regelmäßig an meine Grenzen bringt.

Er ist nicht nur unruhig und leicht ablenkbar, sondern auch sehr laut, rennt weg, kriegt oft nicht mit, wenn ich ihn anspreche, nässt tagsüber noch oft ein, nachts trägt er noch eine Windel, findet schwer in den Schlaf, kann den Stift nicht richtig halten und verweigert altersentsprechende Handlungen (wie das selbstständige Sockenanziehen).

Andererseits spielt er stundenlang friedlich im Kinderzimmer und mit seiner kleinen Schwester und zeigt, dass er ein blitzgescheites Kerlchen ist. Ebenso habe ich erzählt, dass bei mir als Kind ein ADHS diagnostiziert wurde und ich das Gefühl hätte, dass auch mein Sohn betroffen sein könnte. Der Kinderarzt hörte mir sehr aufmerksam zu und wir verließen die Praxis mit Rezepten für psychomotorisches Turnen, Ergotherapie und einer Überweisung zum Neuropädiater.

Wie ging es dir als Mutter damit?

Nach diesem Tag war ich angespannt und erleichtert zugleich. Wir waren also auf einem Weg, der hoffentlich Antworten bringen würde. Die Ergotherapie hat, nach anfänglicher Verweigerung seinerseits für richtig tolle Fortschritte gesorgt. Er hat Strategien erlernt, wie er seine Aufgaben strukturiert abarbeitet, auch wenn er gerade etwas anderes viel spannender findet. Dazu wurden die korrekte Stifthaltung und das Sockenanziehen geübt.

Beim Neuropädiater haben wir recht zügig einen Termin bekommen. Auch hier präsentierte er sich unruhig und leicht ablenkbar, sodass nach einem ausführlichen Gespräch die Diagnose ADHS im Grunde genommen klar war. Im nächsten Schritt wurde eine ausführliche ADHS-Diagnostik durchgeführt und das Ergebnis war dann auch eindeutig. Kurz vor dem 6. Geburtstag haben wir begonnen, ihn medikamentös zu behandeln. Er war auf einmal viel präsenter, direkt ansprechbar und deutlich ruhiger. Das war ein echter Wendepunkt, der unser Familienleben entspannt hat.

Warst du von Anfang an ganz sicher, dass du ihn zurückstellen lassen willst oder gab es auch Zweifel?

Es war ein langer Entscheidungsprozess. Da uns klar war, dass er einerseits intellektuell auf jeden Fall eingeschult werden sollte, andererseits noch Zeit und Förderung bräuchte, um gut in die Schulzeit starten zu können. Bekanntermaßen wächst das Gras ja auch nicht schneller, wenn man daran zieht. Zum Schluss waren mein Mann und ich uns sehr einig, dass das der richtige Weg ist.

Hat die Rückstellung etwas mit seinem Selbstbewusstsein gemacht? Gab es z.B. komische Kommentare von Freunden?

Nein. Das war nie ein Problem. Es wurden drei weitere Kinder aus der Kitagruppe zurückgestellt, die waren dann einfach die Großen.

Und wie seid ihr als Eltern damit umgegangen? Hat es sich angefühlt wie ein Makel oder wie ein „Kampf für das Gute“?

Wir sind sehr offen damit umgegangen. Anfänglich hatte ich Zweifel, ob ich dem Kind etwas Gutes tue, wenn es ein weiteres Jahr in die Kita gehen muss. Diese haben sich dann aber recht schnell gelegt, da wir auch nicht in der unklaren Situation mit Corona einschulen wollten. 

Wie lief dann die zweite Einschulungsuntersuchung?

Die Untersuchung war zügig vorbei und er war sehr kooperativ. Eine Wasserflasche hatte ich für alle Fälle eingepackt 😉

Hast du ihn dann mit einem guten Gefühl in die Schule schicken können?

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Ja. Die oben beschriebenen Probleme haben sich weitestgehend in Wohlgefallen aufgelöst. Er ist zuverlässig trocken, hält den Stift richtig und lässt sich nicht mehr so leicht ablenken.

Heute ist er in der zweiten Klasse und es läuft absolut problemlos. Er ist ein eher unauffälliger und sehr guter Schüler. Zwischendurch war er nochmal einige Monate bei einer Ergotherapeutin, die mit ihm an Stifthaltung und Kraftdosierung beim Schreiben gearbeitet hat.

Wird er mit der ADHS-Diagnose eine(n) IntegrationshelferIn an seiner Seite haben?

Nein, das ist nicht geplant und war auch nie nötig.

Was empfiehlst du anderen Familien in eurer Situation?

Seid offen, horcht in euch rein und sprecht mit qualifizierten Personen darüber.

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2 comments

  1. Bei der Thematik gibt es ja riesige Unterschiede von Bundesland zu Bundesland. Bei uns in Baden-Württemberg ist es eine ganz gängige Praxis und nichts Besonderes. Es sind in der Kiga-Gruppe jedes Jahr mind 1-3 Kinder die schulpflichtig wären aber noch 1 weiteres Jahr im Kindergarten bleiben.
    Zu Corona Zeiten waren es noch mehr.

    Hier reicht ein Schreiben vom Kindi und ein von den Eltern ausgefülltes Formular, welches an der Schulanmeldung statt dieser abgegeben wird.

    Wir haben davon bei einem unserer Kinder auch schon Gebrauch gemacht.
    Ich finde es sehr schade für die Kinder, dass der Elternwille nicht in jedem Bundesland zählt. Manchmal tut es den Kindern einfach gut noch 1 Jahr länger zu spielen auch ohne Diagnose. Die Eltern kennen ihre Kinder am Besten.

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