Ihr Lieben, auf einen unserer Beiträge über ADHS meldete sich eine Mutter in einem Kommentar, die von einem wahnsinnig wertvollen Elternkurs im SPZ (Sozialpädiatrischen Zentrum) erzählte. Dazu wollten wir gern mehr wissen und Andrea war so lieb, zusammen mit ihrem Sohn, unsere Fragen zu beantworten.
Liebe Andrea, dein Sohn war durch sein ADHS dreimal stationär im Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ), wie kam es dazu?
Drei Wochen, nachdem Matteo eingeschult wurde, hatte ich ein persönliches Gespräch mit der Lehrerin, die mir sagte, dass Matteo die 1. Klasse wiederholen müsse, wenn das so weitergeht. Da bin ich fast vom Stuhl gefallen. Matteo sei immer unkonzentriert, komme nicht mit, die Arbeitsaufträge, einfaches Zahlen- und Buchstaben nachfahren, schaffe er nicht.
Mir war schon aufgefallen, dass er sich schwer tut mit den Hausaufgaben, für mein Gefühl sehr lange braucht und man ihn immer wieder „ermahnen“ muss, weiterzumachen. Aber gleichzeitig war er auch mein 1. Kind und ich wusste nicht, ob das normal ist oder nicht. Ich hatte keine Erfahrungswerte, wie es bei anderen ist.
Die Lehrerin hat mir geraten, mit dem Kinderarzt zu sprechen, eventuell könne er Ergotherapie machen. Das hat unser Kinderarzt sofort verschrieben, aber die Ergotherapeutin konnte überhaupt keine Konzentrationsprobleme erkennen. Im Nachhinein kann ich darüber lachen, weil sie recht hatte. ADHSler können sich extrem gut fokussieren, wenn sie etwas interessiert. Das Werken in der Therapie hat Matteo leidenschaftlich gern gemacht, da gab es keine Probleme.
Dann hat die Lehrerin das Thema ADHS angesprochen. Ich habe damals als Schulsekretärin in einer weiterführenden Schule gearbeitet mit meiner Schulleiterin darüber besprochen. Sie hat mich über das SPZ informiert und mir die Telefonnummer der Ärztin gegeben, mit der sie selbst schon Kontakt hatte wegen eines Schülers an der Schule.
Ich habe bei der Ärztin angerufen und einen Termin vereinbart. Zuerst musste Matteo ein Blutbild machen lassen, um eine Schilddrüsenunterfunktion auszuschließen, die oft ähnliche Symptome zeigt. Dann hatten wir den ersten Termin mit einem Psychologen, der durch verschiedene Testungen und Gespräche die Diagnose ADHS gestellt hat.
Wie waren die Zeiten dort für ihn? Was war herausfordernd, was hat geholfen? Wie gestalteten sich seine Tage dort?

Mit 8 Jahren war er zum ersten Mal stationär für drei Wochen im SPZ, kurz nach der Diagnose. Das war anfangs schwer, weil er natürlich Heimweh hatte und es noch nicht verstand, warum er dortbleiben soll. Aber er hat sich schnell wohlgefühlt und die festen Strukturen gaben ihm Sicherheit. Wir konnten jeden Tag telefonieren, 2x in der Woche konnten wir ihn besuchen und am Wochenende mit nach Hause holen.
Herausfordernd war für ihn, die tägliche Routine einzuhalten. Es gibt strikte Abläufe, wie z.B. das Bett machen, Schlafanzug wird unters Kopfkissen gelegt, vor dem Essen halten wir 30 Sekunden Ruhe ein am Tisch etc.. Gleichzeitig war das alles hilfreich, weil er sich an etwas orientieren konnte. Zu sehen, dass er nicht allein mit seinen Problemen ist, war ebenso hilfreich: Es gibt auch andere Kinder, die Schwierigkeiten haben, sich zu „zügeln“, zu konzentrieren etc. Letztendlich war er sehr gerne dort und erinnert sich heute noch gerne und positiv an die Zeit im SPZ.
Und wie waren diese Zeiten für euch als Eltern?
Es war erstmal schwer, dass noch kleine Kind loszulassen und auch die Kontrolle abzugeben. Gleichzeitig muss ich zugeben, dass es auch eine stückweite Erleichterung für die Familie war. Matteo hat noch einen 2 Jahre jüngeren Bruder, der schon manchmal viel aushalten musste. Wir konnten alle einmal durchatmen, Matteo genauso. Und die Erfolge, die sich relativ schnell abzeichneten, gaben uns dann allen wieder Aufwind.
Ihr habt dann einen Triple P Elternkurs im SPZ gemacht, der euch wahnsinnig geholfen hat. Worum ging es dort?
In Alltagsbeispielen lernt man, das Verhalten eines Kindes zu verstehen und sieht gleichzeitig (leider) wie falsch man häufig reagiert. Man lernt einfach, wie man es richtig macht. In dem Kurs geht es nicht um die Erziehung von ADHS-Kindern, sondern Kindern im Allgemeinen.
Es sind Kleinigkeiten, z.B. Aufforderungen oder Anweisungen nicht zuzurufen und sich dann ärgern, wenn das Kind den Fernseher nicht wie verlangt ausschaltet. Es hat die Aufforderung gar nicht mitbekommen, weil es vertieft ins Fernsehprogramm war. Das können wir dem Kind nicht übelnehmen, uns geht es doch manchmal genauso.
Wichtig ist, sicherzustellen, dass das Kind mir zuhört. Also muss ich mir kurz die Mühe machen, ins Wohnzimmer zu gehen, die Aufmerksamkeit des Kindes zu sichern, in dem ich z.B. Pause drücke oder Ton aus und vor den Fernseher gehe und dem Kind klar sage, was ich möchte. „Ich möchte, dass du in 10 Minuten den Fernseher ausschaltest, weil es dann Abendessen gibt“. Und das funktioniert, zumindest bei uns.
Nicht hingehen und den Fernseher sofort ausschalten, sondern das Kind darauf vorbereiten, dass es z.B. in 10 Minuten soweit ist. Heute hat so ziemlich jeder Haushalt eine Alexa, man kann den Timer stellen. Oder man schaut, wie lange die Sendung noch geht und sagt dann, dass danach ausgemacht wird.
Was ebenso wichtig ist, nicht immer nur am Kind rummäkeln. Klitze kleine Kleinigkeiten loben, damit das Kind merkt, es wird gesehen, wenn es etwas gut macht. Z.B. „Ich finde es toll, dass du heute von ganz allein die Hände vor dem Abendessen gewaschen hast, ohne dass ich dich erinnern musste“. Oder „Mir ist aufgefallen, wie schön du heute mit deinem Bruder gespielt hast, darüber habe ich mich sehr gefreut“.
Was waren die Gamechanger, die ihr dann auch zu Hause gut anwenden konntet?

Das mit dem Loben hat uns allen vor Augen geführt, wieviel unsere Söhne richtig oder gut machen. Und es hat die Jungs bestärkt, weiter zu machen. Ich hatte früher immer Probleme, sie abends vom Garten reinzurufen, weil sie natürlich unendlich draußen spielen wollten. Da wir in der Nachbarschaft eine Kirche haben, die viertelstündlich läutet, habe ich das genutzt und zu den Jungs gesagt „wenn die Kirche nächstes Mal läutet, kommt ihr bitte rein“. Das hat sehr gut funktioniert. Auch klare Ansagen zu machen wie z.B. „Kommt bitte zum Essen“, es kann so einfach sein. Vorher habe ich immer gerufen „Essen ist fertig“. Ja, schön, und nu?
Nicht mit Konsequenzen drohen, die man nicht einhalten kann. Eine Freundin von mir hat oft zu ihren Kindern gesagt „wenn ihr jetzt nicht aufhört, setz ich euch ins Auto und dort müsst ihr dann warten, bis wir heut Abend heimfahren“. Totaler Quatsch. Wussten die Kinder auch. Hat nicht geklappt. Wenn Konsequenz, dann muss sie unmittelbar sein und mit dem Geschehenen in Verbindung stehen. Was soll das Kind lernen, wenn du sagst „dafür darfst du morgen kein Fernsehen schauen“ oder so? Bis morgen hat das Kind alles vergessen und es wird morgen wieder eine große Reiberei deswegen geben.
Du sagst, eigentlich sollten alle Eltern einen solchen Kurs besuchen – warum?
Ich sehe so oft, wie sich Eltern falsch verhalten, z. B. im Wartezimmer oder beim Einkaufen. Mir tun die Kinder dann leid. Ich habe so viel in diesem Kurs gelernt und höre tatsächlich häufig, wie gut meine Jungs erzogen sind, wie freundlich und hilfsbereit sie sind. Das macht mich natürlich stolz.
Und ich glaube, es wäre nicht so gekommen, wenn wir diesen Kurs nicht gemacht hätten. Und ganz ehrlich – Wie viele gehen mit ihrem Hund in die Hundeschule? Und warum? Ich will natürlich nicht unsere Kinder mit Hunden vergleichen, aber anscheinend ist unserer Gesellschaft die Erziehung von Hunden wichtig, warum nicht auch die von Kindern?
War euer Sohn immer schon anders als andere Kinder oder wann habt ihr gemerkt, dass er in bestimmten Situationen besonders tickt?
Matteo ist unser erstes Kind, und auch in unserem Freundeskreis und in der Familie waren wir die ersten, die Eltern wurden. Es gab also keine Vergleiche. Deswegen ist mir nichts aufgefallen. Meine Mutter sagte immer „was für ein Wildfang“ und als ich mit dem zweiten Kind schwanger wurde, kam von manchen sowas wie „puh, dass ich euch das nochmal zutraut“.
Ja, im Nachhinein sehe ich, dass er extrem wild war im Sinne von hyperaktiv, und dass es mich sehr angestrengt hat. Das habe ich damals gar nicht so wahrgenommen, ich habe lange Zeit einfach funktioniert und reagiert. Tatsache ist aber auch, dass er schon sehr aggressiv war, aber nicht unbedingt anderen Kindern gegenüber, sondern uns Eltern und Gegenständen. Er schrie und schlug viel um sich und auf Dinge ein. Aber nur zu Hause, im Kindergarten nicht.
Im Kindergarten sagte die Erzieherin oft, Matteo höre zwar, wenn sie im etwas sagt, aber sie hatte das Gefühl, es kam nicht richtig an. Als ob die Information vom Ohr nicht ins Gehirn weitergeleitet würden. Wir haben ihn daraufhin auf Auditive Wahrnehmungsstörung testen lassen, das war aber nicht der Fall.
Wie geht es euch heute als Familie – und wie geht es eurem Sohn?
Es geht uns sehr gut. Matteo ist heute 15, weiß genau was er will und ist bereit, dafür zu arbeiten. Wie viele ADHS Kinder ist er sehr intelligent, kreativ und ein echter Gewinn. Das wird in unserer Gesellschaft leider oft übersehen, wie schlau und kreativ diese Kinder sind.
Ja, wir haben im SPZ einige verschiedene Medikamente probiert, aber er hatte bei allen Nebenwirkungen, depressive Verstimmung, sodass wir ihn ohne Medikamente durchs Leben begleiten. Vor einigen Wochen haben wir nochmal darüber geredet, weil einer seiner Freunde Medikamente nimmt. Heute ist er ja älter und kann sich besser dazu äußern. Aber er möchte es nicht nochmal probieren. Ich glaube, ich würde es auch nicht wollen.
Was möchtest du gern noch anderen Eltern mit auf den Weg geben, die Ähnliches erleben?
Schaut nach einem SPZ in eurer Nähe, wagt die Therapie dort. Macht diesen Triple P Elternkurs, ihr könnt nur gewinnen! Und ganz wichtig – es gibt einen Unterschied zwischen „nicht wollen“ und „nicht in der Lage sein“, z.B. die Hausaufgaben zu machen. Viele sind einfach nicht in der Lage, sie zu machen. Dann ist das so. Es hilft keinem, das Kind stundenlang am Tisch zu halten.
Und ganz wichtig: Seht die schönen Dinge in euren Kindern! Es wird auch wieder leichter werden!