Immer und überall die Kontrolle behalten: Jennifer hat eine Zwangserkrankung

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Liebe Jennifer, du bist Mutter von zwei Kindern und zwangserkrankt. 

Ja genau, ich habe zwei Kinder (4 und 1 Jahr alt) und ich leide seit 2005 an Zwangserkrankungen. Ich habe einen starken Kontrollzwang, muss zb. ständig kontrollieren, ob im Haus alle Türen zu sind, mache Lichtschalter ständig an und aus, gucke in alle Räume, ob alles „in Ordnung“ ist. Zudem habe ich einen starken Ordnungs- und Sauberkeitszwang. Handtüchter müssen beispielsweise immer ordentlich hängen, alle Amaturen in Bad und Küche müssen immer blitzeblank sein.

Wann fing das an und gab es einen „Auslöser“?

Ich habe schon als Kind extrem Fingernägel gekaut. Ob das da dazu gehört, ob ich also schon vorbelastet bin/war, kann ich aber gar nicht sagen. Diese Macke habe ich mittlerweile erfolgreich abgelegt.

Als die Zwänge wirklich akut wurden, durchlebte ich gerade eine starke psychische Belastung. Mein damaliger Mann erkrankte an starken Depressionen und Zwangsgedanken und unser Leben bestand nur noch aus Klinik, Verzweiflung und wieder Klinik.

Zuhause war ich mehr Krankenschwester und Blitzableiter als Frau und Geliebte.  In einer guten Phase (ich dachte, es wäre alles ausgestanden) verließ mich mein damaliger Mann dann mitten im Hausbau und ich stand mit einer Riesenmenge an Schulden da. Mein Leben war ein Scherbenhaufen und ich bin daran wohl auch etwas „zerbrochen“. Obwohl das „Verlassen werden“ im Nachhinein ein großes Glück war, hat diese Phase meines Lebens starke Spuren hinterlassen.

Wie heftig schränken dich die Zwänge im Alltag mit den Kindern ein?

Leider muss ich feststellen, dass die Zwänge schlimmer werden, je älter die Kinder werden. Denn sie werden immer mobiler und weniger kontrollierbar. Außerdem bringen sie Freunde mit, die dann herumtoben und alles durcheinander bringen. Mein 4-Jähriger hat durchaus schon mit bekommen, dass ich „die Türen so oft auf und zu mache“ und mich darauf angesprochen. Solange die Kinder im Haus sind, versuche ich mich extrem einzuschränken mit den Zwängen – ganz verhindern kann ich sie aber nicht.

Leider werde ich dann auch schnell ungeduldig und genervt, kann die Momente mit den Kindern auch gar nicht richtig genießen, wenn ich die ganze Zeit die Zwänge unterdrücke. Wenn sie da sind, frage ich mich ständig: „Ist was dreckig? Sind alle Lichter aus?“ Das macht mich so traurig, denn natürlich möchte ich eine unbeschwerte Zeit mit den Kindern. Wenn ich mal wieder ungeduldig mit den Kindern war, habe ich ein schlechtes Gewissen – was die Zwänge wiederum verstärkt. Es ist ein Teufelskreislauf.

Wenn die Kinder außer Haus sind, hole ich all das nach, was ich unterdrückt habe und tobe mich richtig aus. Ich verschwende sehr viel Zeit mit den Zwängen. Ich brauche die Kontrolle, immer und über alles. Das nervt mich so, aber wahrscheinlich ist das ein Resultat aus meiner völlig außer Kontrolle geratenen Lebenssituation in den Jahren 2005-2008. Das hat mich sehr geprägt und meine Urängste geschürt.

Trotz allem versuche ich alles zu machen, was Mamas eben so machen. Und meistens klappt das auch ganz gut.

Hast du dir mal professionelle Hilfe geholt? 

Ich war in der akuten Phase in Therapie. Aber eher in Richtung Depressionen, als Zwangsgedanken. 2012 habe ich es noch einmal mit einer Therapie mit Schwerpunkt Zwangsgedanken versucht, aber diese habe ich abgebrochen. Es hat mir einfach nichts gebracht, vielleicht waren auch die Therapeutin und ich nicht kompatibel.

Was machst du beruflich und wissen deine Kollegen davon?

Ich arbeite in der Verwaltung und habe nette Kollegen. Aber ich sitze im Einzelbüro und arbeite einen Teil im Home Office, da bekommt man relativ wenig voneinander mit. Ansonsten würde es auch wohl auffallen. Keiner meiner Kollegen weiß von meinen Zwängen.

Auch deine Freunde wissen nichts von deiner Krankheit – warum ist es dir so wichtig, das geheim zu halten?

Ich gelte nach außen hin als starke Frau, die sehr empathisch ist und jeder weiß, dass ich immer ein offenes Ohr für die Probleme anderer habe. Ich gebe gerne Ratschläge und Hilfe. Und ich organisiere liebend gerne (Stichwort: Kontrolle!). Ich möchte nicht als schwach gelten. Wenn ich meine Erkrankung öffentlich machen würde, würde mich das angreifbar und verletzlich machen – und das möchte ich nicht. Ich schäme mich für die Zwänge, deshalb verschweige ich sie.

Zudem habe ich aktuell eigentlich keine richtig enge Freundin, also keine Person, die alles über mich weiß. Auch da bin ich sehr kontrolliert und gebe nur das preis, was ich preisgeben möchte. Dafür habe ich viele tolle Bekannte und auch Freundinnen! Aber eben keine Menschen, die mir extrem nahe stehen. Damit bin ich auch zufrieden. Ich bin seit der schweren Zeit ab 2005 sehr vorsichtig und eher verschlossen.

Wie geht dein Partner mit den Zwängen um und hat sich eure Partnerschaft dadurch verändert?

Mein Partner weiß davon, aber er ist ein Realist durch und durch. Für ihn ist es kein Thema, so lange es im Alltag nicht hinderlich ist. Er kann sich da schlecht reinversetzen, für ihn sind psychische Erkrankungen nicht greifbar und er weiß auch damit nicht so richtig umzugehen. Daher mache ich viel mit mir aus. Manches Mal kocht das Thema hoch und er ist genervt von meinem „Kontrollwahn“, wie er ihn nennt. Aber das ist nicht oft und er nimmt es meistens recht gelassen hin und achtet zum Beispiel auch darauf, dass er alle Türen zu macht.

Was wünscht du dir für die Zukunft?

Ich wünsche mir, dass ich eine geeignete Mutter-Kind-Kurklinik finde, die sich auf Zwangserkrankungen spezialisiert hat. Und dass ich Hilfe bekomme, meine Zwänge auch ohne meine Tricks in den Griff bekomme bzw. in normalere Bahnen lenken kann. Ich habe nämlich große Angst, dass sie sich verstärken oder verlagern könnten. Zur Zeit kontrolliere ich sozusagen meine Zwänge bzw. ich versuche es. Ich „erlaube“ mir nur noch 2 mal am Tag das Obergeschoss zu kontrollieren oder putze nur noch einmal am Tag alle Armaturen. Ich habe allerdings Angst, dass ich dadurch neue Zwänge entwickle, sozusagen als Ausweichzwang… daher glaube ich, dass ich mir über kurz oder lang professionelle Hilfe holen muss.

Foto: Pixabay

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3 comments

  1. Was du hier schreibst könnte
    Was du hier schreibst könnte meine Geschichte sein. Ich leide schon seit frühester Kindheit unter einem Ordnungs-, Putz und teilweise Waschzwang. Darunter leide ich ca. seit ich 12 bin. Jetzt bin ich Mitte Dreißig. Fingernägel kauen gehörte ich meinte Kindheit auch dazu, dies konnte ich mir mit ca. 15 abgewöhnen.

    Diese Zwänge bestimmen auch viele Punkte meines Alltags und ich kann z.B. Nicht abschalten, wenn ich weiß das gewisse Dinge unerledigt sind. Ich ertrage es nicht wenn Sachen herumliegen. Spielbesuche wie von dir beschrieben verlangen mir viel ab. Währenddessen kann ich meine Reflexe sehr unterbinden, aber sobald der Besuch weg ist wird aufgeräumt und gesaugt. Ich ertrage keine Krümmel auf dem Boden.

    Letztes Jahr hatten wir Flöhe im Schlafzimmer wie auch immer das passiert ist, da wir keine Haustiere haben. Es dauerte Monate sie loszuwerden, da ich es zunächst ohne Chemie versuchte. Ich bin verzweifelt und an meine Grenzen gekommen. Seitdem sind sie Zwänge noch schlimmer. Sobald wir von draußen kommen und z.B. Kontakt mit den Nachbarhund hatten oder durch eine Wiese gelaufen sind muss alles ausgezogen werden und ich wasche es. Ich habe verschiedene Kleidung für draußen und drinnen. Mein Partner ist genervt davon und mein Sohn mit 4 bekommt es auch mit.
    Auch bei Besuch wo ich weiß, dass diese zu Hause Tiere haben werde ich nervös und möchte diesen am liebsten nicht rein lassen. Solche Angst habe ich davor, wieder solches Viehzeug im Haus zu bekommen. Es ist eine permanente psychische Belastung für mich.

  2. Erst einmal Hut ab, dass du
    Erst einmal Hut ab, dass du dein Leben trotz dieser schwerwiegenden Erkrankung so gut meisterst. Ich denke auch, dass du für dich und insbesondere deine Kinder unbedingt eine Therapie machen solltest. Gerade bei Therapeuten ist es wichtig, miteinander ‚zu können‘, da muss man schon mal einige durchprobieren. Eine Mutter-Kind-Kur dient ja nicht der Behandlung von Krankheiten ( schon gar nicht schwerer Krankheiten und die Kur geht auch maximal 4 Wochen, diese Zeit genügt nicht, um eine psychische Krankheit zu behandeln ), sondern der Vorbeugung. Ich war selbst bei einer Kur und kann sagen, dass es zwar Gesprächsangebote gibt, aber keine Therapie. Alles Gute!

  3. Professioknelle Hilfe
    Der Eindruck in dieser Situation professionelle Hilfe zu benötigen ist goldrichtig. Wenn es nur der einen Therapeutin nicht geklappt hat, dann einfach nochmal 2-3 andere Therapeuten ausprobieren. Wenn sie gut gemacht ist, hilft Therapie dagegen. Mutter Kind Kur gegen eine so akute Erkrankung halte ich persönlich eher für kontraindiziert. Aber das ist meine persönliche Grundhaltung.

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