Ihr Lieben, Anfang des Jahres wurde ich auf Sonja aufmerksam, die auf dem Instagramkanal der Jugendnotmail als suizidhinterbliebene Mama über ihr Leben nach dem Verlust berichtete. Ihr Sohn Lukas starb vor drei Jahren mit 17. Seitdem sorgt seine Mutter dafür, dass Aufklärung stattfinden kann – und wagt sich mutig zurück in ihr Leben.
Ende Mai haben wir uns in Köln persönlich getroffen und auf Anhieb verstanden, auf ihrem linken Arm hat sich Sonja den letzten Satz von Lukas´ Abschiedsbrief tätowiert – in seiner Handschrift, er war Linkshänder. Daneben sitzt ein Rabe, sein Lieblingsvogel. Lukas war sozial integriert, er hatte Hobbys, einen Freundeskreis und engagierte sich als Kurs- und Klassensprecher, bis sich sein Leben durch mutmaßliches Mobbing radikal veränderte.
Im folgenden Interview erzählt uns Sonja die gemeinsame Geschichte. Bitte überlegt euch gut, wann und in welchem Setting ihr die Geschichte lest und ob es vielleicht jemanden gibt, der bei euch ist, falls euch eure Emotionen überkommen.
Da es im Folgenden um Suizid geht, möchten wir euch an dieser Stelle diese wichtigen Hinweise mitgeben: Wenn ihr euch selbst oder eure Kinder sich in einer akuten Krise befinden, wendet euch bitte an eure behandelnden ÄrztInnen oder PsychotherapeutInnen, die nächste psychiatrische Klinik oder die Rettungsstelle unter 112. Ihr erreicht die Telefonseelsorge rund um die Uhr und kostenfrei unter 0800-111 0 111 oder 0800-111 0 222. Bei der Jugendnotmail können sich Jugendliche in Not kostenlos per Mail beraten lassen. Auch bei der Nummer gegen Kummer können sich Kinder, Jugendliche (Nummer 116 111) und Erwachsene (Nummer 0800 111 0550) kostenlos und anonym beraten lassen.
Zur faktischen Einordnung: Laut Statistischem Bundesamt begehen in Deutschland jährlich über 9.000 Menschen Suizid, 2023 waren es 10.304 Menschen. Bei jungen Menschen zählt Suizid zur zweithäufigsten Todesursache (als Vergleich: Im Straßenverkehr kommen ca. 3.000 Menschen ums Leben). Auf jeden vollendeten Suizid kommen laut Word Health Organization bis zu 20 Suizidversuche. Auch die Familien dieser Menschen sind Betroffene. Wir haben es hier also nicht mit einem Randphänomen zu tun, sondern mit Hunderttausenden pro Jahr, die direkt oder indirekt mit dem Thema in Berührung kommen.
Liebe Sonja, du bist eine suizidhinterbliebene Mama. wie reagieren Menschen darauf, wenn du erzählst, dass dein Sohn Lukas durch Suizid gestorben ist?

Im ersten Moment fühlt es sich meistens so an, als liege da plötzlich so eine ganz komische Stille zwischen den anderen Personen und mir. Wie durch einen Schleier getrennt. Wenige schieben den Schleier beiseite und nehmen mich entweder in den Arm oder sagen, es tut ihnen leid oder „Oh je“, „Oh mein Gott“, „Ich weiß nicht, was ich sagen soll“ Das ist meine Lieblingsvariante, weil sie so ehrlich ist!
Niemand kann und vor allem MAG sich vorstellen, das eigene Kind aufzufinden und es beerdigen zu müssen. Niemand mag sich überhaupt vorstellen, sein Kind zu verlieren. Ich hatte immer Angst davor – komischerweise im Nachhinein betrachtet. Irgendwie, das hört sich jetzt vielleicht spooky an, war mir bewusst, dass mein besonderes Kind ein Geschenk auf Zeit ist. Dass es allerdings nur 17 Jahre sein werden, hatte ich nicht geahnt.
Einige Floskeln taten dir auch sehr weh…
Ja, weil sie das Gefühl vermitteln, dass sich mein Gegenüber gar nicht mit mir und meinem Verlust auseinandersetzen will. Und, noch schlimmer, spielen Floskeln meine Gefühle herunter. Über den Umgang mit Betroffenen aufzuklären und Hemmschwellen abzubauen habe ich mir auch als Aufgabe für mein Leben 2.0 gesetzt.
Floskeln nach Lukas‘ Suizid, die mich sehr verletzten und quasi mundtot machten, waren zum Beispiel Sätze wie „Ach Sonja, er wollte es und da hättest Du eh nichts machen können!“ Ich bin seine Mama, ich kann kurz nach dem Tod meines Kindes doch nicht damit umgehen, dass ich ihn nicht retten konnte. Das kann ich an manchen Tagen noch heute nicht! Ich konnte ihm nicht helfen und zum Retten kam ich auch zu spät; er war tot, als ich heimkam… Diese Gedanken waren nach dieser Floskel beispielweise sehr präsent und die Vorwürfe von mir gegen mich selbst wurden noch lauter.
Oder Sätze wie „Es geht ihm jetzt besser!“ Was bedeutet das? Ging’s ihm bei mir schlecht? Ich weiß jetzt, was wohl gemeint ist damit… Aber sowas kurz nach dem Tod des Kindes zu hören, fühlte sich sehr verletzend an. Den schlimmsten Satz aber fand ich „Dass er Dir das antun konnte, Du tust mir so leid!“ Lukas hat mir nichts angetan, er ist gestorben… Ich liebe ihn und ich habe noch nie und werde nie denken, er habe mir was angetan. Dieser Satz macht meinen Sohn zu einem Schuldigen und das ist er nicht, ganz und gar nicht.
Ganz schlimm und übergriffig empfinde ich auch die Nachfrage – zum Glück von nur wenigen –, wie sich Lukas suizidierte… Es ist vor allem bei Frauen auch so diese Mischung im Blick zwischen Mitleid und Riesenangst, dass das hoffentlich nicht ihnen passiert.
Kannst du noch genauer sagen, was genau dich an der Frage nach dem Wie, also der gewählten Form des Suizids stört?
Es stört mich nicht grundsätzlich. Was ich aber, ja… übergriffig, empfinde ist, wenn ich mit jemandem noch nicht viel über Lukas gesprochen habe bzw. ich auf Instagram angeschrieben werde und die Frage im Erstkontakt schon fällt. Lukas ist durch Suizid gestorben, Suizid ist die Todesursache, das schlimmste und letzte Symptom seiner Erkrankung, der Depression. Wenn Lukas durch einen Autounfall verstorben wäre, käme da die Nachfrage gleich nach dem Wie…? Wenn das die Leute verstehen, werden sie vielleicht sensibler im Umgang. Es ist so ‚intim‘. Wobei: Das ist irgendwie nicht das richtige Wort.
Ich versuch´s nochmal anders: Lukas hat sich seine Gedanken gemacht in einer absoluten Ausnahmesituation, er überließ nichts dem Zufall. Mein Sohn ist so viel mehr als seine Todesart und das verletzt mich dabei. Er hat sich suizidiert und ich habe ihn als Erste gesehen. Ich vergleiche das sogar mit der Geburt. Mein Sohn und ich, er so unschuldig und rein. Und ich möchte irgendwie selbst entscheiden, wann und und ob überhaupt und wem ich das Wie erzähle. Weil die gewählte Methode keinen Unterschied macht für die Situation, in der ich mich befinde…
Wer war Lukas?

Lukas war wunderbar, wunderschön, jemand auf Instagram schrieb mir mal: „Man sieht, er ist schön von außen wie von innen“. Es ist so: Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. So, und überhaupt nicht oberflächlich wurde Lukas erzogen und so war er.
Als Baby war Lukas, wie man sich kein lieberes wünschen kann. Er war ein absolutes Wunschkind und wurde mit Liebe erzogen. Schon im Kindergarten zeigte sich seine große Empathie, er half gern, konnte gut auswendig lernen und war sehr wissbegierig. Große Kindermengen mochte er nicht so gerne, der voll besetzte Kindergarten war ihm zuwider; die Ferien, wenn ganz wenig Kinder dort waren, genoss er.
Ich wusste damals nichts von Hochsensibilität, leider; hörte selbst von Erzieherinnen oft, dass er sehr sehr schwierig und empfindlich sei. Was ein Blödsinn, dachte ich mir jedes Mal. Er ist halt ein Junge, der nicht zufrieden war, wenn er mit einem Fußball beschäftigt wurde. Ich war froh, als die Kigazeit vorbei war… und Lukas auch. Er freute sich sehr darauf, in der Schule, lernen zu können. Er sprach schon als Kind sehr gut, kannte Kinderbücher schnell auswendig und unser Ritual der Gute Nacht-Geschichte war uns beiden heilig.
Wie gestaltete er seine Freizeit?
Er legte keinen Wert auf ausgedehnte Spielnachmittage mit vielen Kindern zuhause, die Mädchen waren ihm schon immer lieber als Jungs und so spielte er meist stundenlang mit dem Nachbarsmädchen, schon das musste ich manchen Müttern gegenüber rechtfertigen und verteidigen. Dass ich Lukas` Wunsch respektiere und unterstütze war für mich immer klar. Da ich immer berufstätig war, war meine Freizeit Lukas-Zeit, wir machten es uns schön…
Ich bin ein Mensch, der schon immer Momente bewusst wahrnimmt, ich fühle vielleicht manchmal zu viel, aber es ist wie es ist. Lukas war sehr ehrgeizig, in der dritten Klasse sagte er: „Mama, ich will die Empfehlung fürs Gymnasium.“ Ich war mir bzgl. des Gymnasiums gar nicht so sicher… Vielleicht da schon das Bauchgefühl?
Lukas schaffte es (klar ;-)). Er bekam die Empfehlung und ging dann – zusammen mit seinen zukünftigen mutmaßlichen Mobbern – aufs Gymnasium. Anfangs tat er sich schwer, ab der 7. Klasse gehörte er dann aber zu den Klassenbesten, engagierte sich als Klassensprecher, vertrat seine Schule bis 2022 noch bei „Jugend debattiert“. In seiner Freizeit war er seit seinem 6. Lebensjahr begeisterter Judoka, später dann Assistenztrainer und bei Nachwuchs, Trainern und Lehrern gleichermaßen beliebt.

Wie stand es um seinen Freundeskreis?
Er musste nie um Freundschaften kämpfen, sie flogen ihm zu, er wählte schon immer mit Bedacht aus, da er Oberflächlichkeit verabscheute und ihm Qualität wichtiger war als Quantität. Lukas traf dann mit 16 die Entscheidung, dass er seinen damals besten Freund nicht zu Sauftreffen begleiten wollte. Und wir als Eltern versuchten paradoxerweise noch, Lukas dazu zu überreden, doch hinzugehen, weil mir klar war, dass es ihm passieren kann, mit dieser Einstellung, ausgeschlossen zu werden.
Lukas war hier aber auch ganz klar in seinem Standpunkt und zog das durch. Er hatte inzwischen einen anderen kleinen Freundeskreis, dieser bestand aus zwei Jungs und einigen Mädchen. Lukas war 16 – fast 17 –, ein Jugendlicher, wir vertrauten ihm und er uns. Er genoss es, sich mit den beiden Jungs über Gott und die Welt unterhalten zu können (im wahrsten Sinne ;-)) und nicht nach einer Stunde schon nur noch über Mädels, Drogen und Musik zu quatschen.
Lukas wollte Philosophie und Theologie studieren, las Seneca, hatte Albert Einstein als Poster in seinem Zimmer. Er beschäftigte sich mit den Themen, Tod, Leben, Glauben… Fasching 2022 ging er als Kardinal, wie bizarr rückblickend.
Wie fand der ehemalige Freundeskreis das?
Der ehemals beste Freund konnte diesen „Korb“ von Lukas nicht verstehen oder verkraften und fing an, Lukas auszugrenzen. Zuerst bombardierte er Lukas mit Nachrichten, was für ein schlechter Freund er sei. Lukas wunderte sich über so ein kindisches Verhalten und meinte, er habe es doch erklärt.
Zu diesem Zeitpunkt konnte er über diese Handlungen noch lächeln… aber dann wurde es ernster: Der ehemalige Freund entfernte ihn aus allen WhatsApp-Gruppen, in denen sie beide waren und blockierte ihn in allen Chats. Schnell hatte er eine Gruppe um sich versammelt, die Lukas zwar mochte, die aber halt nicht aus dem Wohlwollen des Anderen rausfliegen wollten. So funktioniert das System Mobbing.
Lukas sah sich also einer großen Gruppe gegenüber, die mutmaßlich gegen ihn war. Die ersten Wochen konnte er das für sich handlen, er sprach viel mit uns und fand das Verhalten der anderen charakterlos und schäbig. Er meinte aber zu mir: „Weißt Du, Mama, ich weiß ja jetzt, was das für welche sind, kindisch, dumm und oberflächlich…“

Wie veränderte sich die Situation dann?
Nach einigen weiteren Wochen zog er sich öfter zurück; es war ein schwieriger Spagat zwischen „Ist das Pubertät?“, „Ist Lukas krank?“ Er schottete sich nie komplett von mir ab, wir fingen an, viel spazieren zu gehen oder mit dem Auto zu fahren; das waren immer die Zeiten, in denen Lukas viel erzählte. Das Verhalten der anderen, vor allem das seines ehemals besten Freundes, spielte er immer etwas runter. Ich spürte aber und wusste, es werden gerade Grenzen überschritten. Ich glaube, Lukas war so enttäuscht darüber, dass er es nicht wahrhaben wollte.
Ende November kam er dann zu mir und meinte, er würde gerne mit einem anderen Erwachsenen außer mir reden, mit unserem Hausarzt. Zuvor hatte er mit der „Nummer gegen Kummer“ Kontakt, was gut war, weil das erstmal nicht „von Angesicht zu Angesicht“ stattfand. Daraus zog er, so glaube ich, auch die Zuversicht, dass er von Erwachsenen verstanden werden könnte.
Von da an ging alles recht schnell – zum Glück: Eine mittelschwere depressive Episode war schnell diagnostiziert; Lukas ging zu diesem Zeitpunkt auch noch in die Schule. Das erste Gespräch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie war im Februar 2022. Lukas war „froh“, eine Diagnose zu haben; es war ihm so bedeutend, nicht als faul zu gelten, nicht verdächtigt zu werden, zu simulieren. Und sehr bedeutend für Lukas war auch, der Schule gegenüber offen über seine Diagnose reden zu können.
Wie ging es ab da weiter?
Was seine LehrerInnen von ihm dachten, war Lukas dabei besonders wichtig und daher war er froh, dass ich ein Gespräch mit dem Schulleiter und seinem Tutor vereinbarte, um über Lukas` Gesundheit zu reden. Ich war natürlich traurig, dass mein lebensfrohes, empathisches, intelligentes, wunderschönes Kind psychisch krank war; das passierte doch nur anderen. Aber nein, nun erfuhr ich, dass es jeden treffen kann.
Ich versuchte, Lukas dabei zu unterstützen, dass er seinen Lebensplan dennoch hinbekommt, auch wenn es ein oder zwei Jahre länger dauern würde. Für mich war das Abitur sowas von zweit- oder drittrangig, für meinen Sohn aber nicht; über eine Kursstufenwiederholung nachzudenken war für ihn ein Schock.
Sprach er über Suizidgedanken?
Wir sprachen über Suizid. Nicht über seinen, sondern über den anderer Menschen. Lukas zeigte immer Verständnis für die Suizidierenden, ich fand das nicht befremdlich oder besorgniserregend. Er fand einfach, dass man den Menschen verstehen müsse, der diesen schweren Schritt wählte und ihn nicht noch zusätzlich für etwas beschuldigen sollte, was er nicht mehr ertragen hat… typisch angehender Philosoph eben.
Auf dem Fragebogen der Psychiatrie gibt es die Frage: Hatten Sie schon mal Suizidgedanken? Lukas fand diese Frage blöd, denn „Das kann mir doch keiner sagen, dass es jemanden gibt, der noch nie daran gedacht hat, wie es wäre, nicht mehr zu leben.“ „Klar – dachte ich da auch schon mal dran“, war seine Antwort!
Wie ging es weiter mit der Psychiatrie?
Ab Mitte Februar 2022 war Lukas in wöchentlicher Betreuung und manchmal an zwei Tagen in der Psychiatrischen Ambulanz. Der Therapeut bestätigte die Diagnose Depression und schlug vor, Lukas erstmal in der Schule zu entschuldigen, da dies der belastende Ort für ihn sei. Lukas wollte das anfangs nicht; die Schule, sein Abitur, seine ganze Zukunft… das alles war ihm so wichtig.
Der Psychiater sagte deutlich, es sollte jetzt nichts an weiteren Mobbingattacken oder sonstigen Verletzungen dazukommen. Lukas ging es zunehmend schlechter, er aß wenig, war traurig, brauchte oft viel Nähe. Ich war viel zuhause, konnte im Homeoffice arbeiten. Mir war ab da noch wichtiger, dass Lukas nicht alleine ist.

Es kam dann doch noch eine weitere Verletzung hinzu…
Genau, dann passierte das Furchtbare: Ein Meme auf Instagram, gepostet am 7. März 2022. Lukas war von Lehrerpersonen darum gebeten worden, ein Vorstellungsvideo der Schule zu machen, zusammen mit einer Mitschülerin. Dieses Video bekam großes Lob; das war offenbar zu viel für die Neider.
Anfang März 2022 wurde ein Meme veröffentlicht, das einen Komikmenschen zeigte, der in einen Hundehaufen tritt. Darauf stand: „Ew, I stepped in shit…“ Und unter diesem „Shit“ war der Link zur Schulhomepage und zum Video von Lukas und der Mitschülerin hinterlegt. Der Account existiert noch heute. Das war der letzte Tropfen für Lukas: Nervenzusammenbruch, Ohnmacht, Hilflosigkeit, Einsamfühlen, Selbstwert gebrochen….
Die Schulleitung wurde sofort informiert, es gab dann auch einen allgemeinen Vortrag in der Schule zum Umgang miteinander in den sozialen Medien. Konsequenzen für die Kursstufe folgten nicht. Lukas ging noch ein paar Tage zur Schule, er hatte Vertrauen und Hoffnung, dass das alles aufhört, weil das Unrecht gesehen wird. Doch das geschah nicht; Lukas erlebte Schweigen und Täterschutz. Er konnte nicht mehr zur Schule, war zu schwach. Das alles geschah im Zeitraum September 2021 bis Mai 2022.
Magst du uns mit in den Mai nehmen, zumindest andeutungsweise?
Lukas starb am 11. Mai 2022. Ein sonniger, warmer Mittwoch, ich war vormittags im Büro und wir schrieben uns kurz vor 10 Uhr noch eine WhatsApp, ob wir mittags vielleicht Eis essen gehen wollen. Er schrieb, dass er das eher nicht möchte und ich verstand ihn. Rausgehen bei Hitze mit Depression, mit Mutter und dann auch noch wissend, dass andere zusammen am See Spaß haben…
Ich verstand ihn und arbeitete weiter. Die Erinnerungen an diesen Tag sind mir alle präsent, oft habe ich auch noch Lukas‘ Geruch in der Nase. Ich machte um 12.30 Uhr Schluss, fuhr heim und fand meinen Sohn auf. Ich wählte den Notruf, gefühlt waren alle sofort da: Polizei, Notarzt, Kripo… Ich habe mit Hilfe des Notfallseelsorgers, der direkt vor Ort war (ich glaube, zusammen mit der Polizei), alle wichtigen Anrufe getätigt und auch die Schule informiert. Der stellvertretende Schulleiter musste das Gespräch abbrechen, da er nicht mehr reden konnte; alle waren fassungslos.
Zu diesem Zeitpunkt war ich „im Film“, ich konnte nicht weinen, streichelte und küsste meinen Sohn; als der Bestatter kam, sprudelte der Text für die Traueranzeige aus mir heraus, gefühlt habe ich gar nicht nachdenken müssen. Lukas‘ Worte, die nun auch auf meinem linken Arm stehen, zitierte ich auch in der Traueranzeige.
Wie ging es dann weiter?
Einige Tage nach Lukas` Tod habe ich das Gespräch mit der Schule gesucht, in dem Glauben, dass diese sich dafür einsetzt, die mutmaßlichen Mobber zu bestrafen bzw. Konsequenzen spüren zu lassen und auch, dass Mobbing- und Suizidprävention implementiert werden. Auf mich wirkte es aber, als liege die Priorität darin, Ruhe in der Schule zu haben.
Das Gespräch mit den mutmaßlichen Mobbern (es gab kein Urteil, deswegen müssen wir von „mutmaßlichen Mobbern“ sprechen) habe ich nicht gesucht, ich sah sie bei der Gedenkfeier für Lukas in der Schule und sie traten mir so selbstsicher gegenüber, da fehlte mir die Kraft. Zwei davon leben ganz in der Nähe. Weder von den Eltern noch von den jungen Erwachsenen kam ein Wort der Entschuldigung, der Einsicht oder überhaupt des Bewusstseins.
Als der Jahrgang 2023 Abi feierte, war es für mich ganz furchtbar; Lukas wäre doch auch dabei gewesen, wir bekamen keine Einladung zum Abiball (ganz unabhängig davon, dass wir nicht hingegangen wären), so waren wir aber halt einfach ausgeschlossen. Es lag nicht mal eine Blume oder ein Gebinde auf Lukas‘ Grab… er existierte halt einfach nicht mehr. So fühlt sich das an. Und ich bin mir ziemlich sicher, wäre Lukas durch Unfall oder Krankheit gestorben, wäre anders mit seinem Tod und seinem Andenken umgegangen worden.
Wie hat sich dein Alltag verändert, wie füllst du deine Tage derzeit?
Mein Alltag hat sich komplett verändert, von einer Sekunde auf die andere. Ich kann meinen Beruf derzeit nicht mehr ausüben. Etwa sieben Monate nach Lukas‘ Tod war ich wieder arbeiten und froh, tolle KollegInnen zu haben. Ich fühlte mich wieder so ein Stückchen ’normal‘, in einem normalen Alltag, für mich war es aber der falsche Weg, ich brach nach ca. 17 Monaten erschöpft zusammen.
Ich verdrängte Lukas nicht und ging auch weiterhin zur Therapie, dennoch fühlte ich, wie sehr ich mich während der Arbeitszeit anstrengen musste und auch wollte. Heute weiß ich, es ging um Kontrolle, ich wollte Kontrolle, zumindest über mich. Ich wollte eine normale Frau und Mama sein, die arbeitet. Es hat niemand von mir verlangt, außer ich selbst. Ich konnte dann aber irgendwann nicht mehr schlafen, war total erschöpft und ich konnte nicht mehr ins Büro, soziale Kontakte waren zu viel. Seither bin ich arbeitsunfähig.
In meiner späteren Reha hab ich gelernt, zu akzeptieren, dass ich im Moment eben nicht berufstätig sein kann. Das war (und ist an manchen Tagen noch immer) eine Riesenhürde für mich. Vielleicht ist das wieder das Kontrollthema…
Wo gibt es noch Einschränkungen?
Lange konnte ich nicht mal mehr spazieren gehen, geschweige denn Sport treiben. Die Reha gab hierfür wieder den Startschuss und der positive Effekt der Bewegung ist ja unumstritten. Mittlerweile bin ich wieder regelmäßig draußen unterwegs, mache Yoga und Pilates. Nach Lukas` Tod wusste ich auch schlicht gar nicht mehr so wirklich, was meine Bedürfnisse eigentlich sind, was mir gut tut, was mir hilft, was ich mir überhaupt ‚erlauben‘ soll und darf. Wie auch?
Ich wusste nicht mal mehr, wer ich bin und was ich eigentlich hier in diesem Leben soll. Es darf immer um einen selbst gehen, das ist eines der wichtigsten Learnings der letzten Jahre und Monate. Meine Tage sind jetzt wieder anders gefüllt mit Dingen, die mir helfen und gut tun. Ich brauche gleichzeitig auch oft und viel Ruhe, da ich schnell überreizt bin, genieße aber, wenn es geht, Gesellschaft, neue Menschen, alte Freunde, Kunst, Austausch über alles Mögliche und über Lukas zu reden ist sowieso immer schön.
Der Bedarf an Kraft, den ich für manche Dinge brauche, ist höher geworden. Manches schaffe ich derzeit auch noch gar nicht; ich habe schon viel gelernt und lerne noch, das anzunehmen und ich möchte Mut machen, dass wir das hinkriegen können.
Kommt die Trauer in Wellen oder ist es eher eine schwere Decke?
Bei mir sind es Wellen, mal ganz sanft… mal haut sie mich um, würde ich sagen. So wie zuletzt im Mai. Lukas‘ Todestag fiel dieses Jahr auf den Muttertag, in der Woche drauf war mein Namenstag und zwei Tage später war die Erstkommunion meiner Patentochter, Lukas‘ Cousine. Er liebte sie sehr!
Danach war ich ausgeknockt. Körperlich ging außer Atmen nicht mehr viel. Ich weiß zwischenzeitlich, besser damit umzugehen, ich wehre mich nicht dagegen (macht eh keinen Sinn), ich fühle, weine, lese (wenn das geht) oder schreibe auf Instagram. Mein Account und die Verbundenheit helfen mir sehr…
Ich kann Vertrauen wieder zulassen, das konnte ich lange Zeit nicht. Ich verlor die Kontrolle komplett, das ist, glaube ich, eine der schwierigsten Lebenssituationen, die ein Mensch meistern kann (hoffentlich); ich lerne noch. Die Trauer von Suizidhinterbliebenen ist eine andere, zu uns kann man nicht kommen und Floskeln loslassen. Es stehen Fragen wie Schuld, Warum und der ständige Versuch im Raum, überhaupt den plötzlichen Tod zu verstehen.
Verändert sich deine Trauer mit der Zeit?
Ja, der Weg der Trauer ist in einem stetigen Wandel. Ich war wie gesagt Anfang 2025 in einer fünfwöchigen Reha in Bad Kissingen, die hat mir sehr gut getan. Ich traf dort Menschen, die teils nach Verlusten psychisch erkrankten, teils aus beruflichen Situationen. Oder auch junge Menschen, die Mobbing erleben mussten. Der Wert dieses Austausches, auch außerhalb der Therapiezeiten, ist enorm wichtig für mich gewesen.
Was dort neben meiner Psychologin das Wichtigste für mich war, waren meine „Rehamenschen“, meine Gruppe. Uns alle einte tiefe Ehrlichkeit, ehrliche Empathie, es waren und sind einfach ganz tolle Menschen und der Austausch war so wertvoll. Wir haben weiterhin Kontakt und ich hoffe, dass ein zeitnahes Treffen klappt.
Für mich war diese Erfahrung enorm wichtig, da ich durch das Verhalten von Schulverantwortlichen, ElternvertreterInnen, anderen Eltern so viel Selbstvertrauen verloren hatte. Hinzu kommt, dass ich schon auch noch immer die Stigmatisierung wahrnahm, ich bin ich ja die, deren Sohn sich suizidierte…
Da haben sich die Menschen Gedanken zu gemacht?
Viele Menschen wussten ganz schnell, was bei uns zuhause nicht stimmen konnte, dass Lukas diesen Tod starb. Es war echt heftig teilweise, wie mit mir umgegangen wurde. Respektlos und für mich total unerwartet. Das sollte niemand erleben müssen. Ab der Rehazeit war es anders: Ich erfuhr, Menschen mögen mich, Menschen legen wieder Wert auf meine Meinung. Wir redeten über Lukas, ganz selbstverständlich.
Mein Instagramaccount hilft mir ebenfalls und seit der Reha hat sich hier auch was getan: Ich trauere sozusagen öffentlich und ich finde, das ist unbedingt notwendig. Wir müssen über Trauer nach Suizid offen reden; es ist eine Art zu sterben – nicht mehr und nicht weniger – ich zeige mich offen, verletzlich, aber auch mal stark und einfach nahbar. Ich bin eine ganz normale Frau, die auch immer dachte, dass so etwas nur anderen passiert. Nur wenn wir über Tod, Trauer, psychische Krankheiten, Mobbing reden, können wir Wiederholungen reduzieren. Lukas ist kein Einzelfall – es passiert, aber wir können vorbeugen.
Du hast dich verändert.
Ja, total, ich war sofort eine andere Sonja nach Lukas‘ Tod; jetzt fängt es langsam an, dass ich dieses Entwickeln, dieses Wachsen gut finden kann. Lukas lenkt, glaube ich, manchmal komische Sachen, die ich erstmal nicht verstehe, aber ich glaube bzw. hoffe, ich habe hier in diesem Leben noch etwas zu tun… und das soll in Lukas` Sinn sein.

Du erhebst mittlerweile auch öffentlich deine Stimme, hast eine Botschaft…
Durch meine Öffentlichkeit auf Instagram bekomme ich viel Zuspruch und das tut mir unheimlich gut; es zeigt mir auch, wie viele Kinder, Jugendliche, Familien leiden – Mobbing ist ein Problem, das nicht totgeschwiegen werden darf. Ich fühle mich richtig mit dem, was ich tue und ich bin mir sicher, es ist in Lukas` Sinn. Er fühlte sich so oft alleine, in der Schule war niemand, mit dem er reden konnte.
Lukas hatte in der Schule keine geeignete Ansprechperson; er konnte und wollte sich dort nicht öffnen. Ich habe in meinem direkten Umfeld keine Möglichkeit, auf Mobbing, Verantwortung, Suizidprävention aufmerksam zu machen; auch die Schule reagierte verneinend auf entsprechende Vorschläge. Es herrscht hier eher noch die Mentalität, das gibt’s nicht; alle haben alles im Griff und Kinder, die über Kränkungen und Gefühle reden, sind „halt zu empfindlich“. Daher gehe ich eben diesen Weg, in der Hoffnung und in der Absicht, wachzurütteln.
Mein Account ist kein Account des blinden Anklagens, ich mag aufmerksam machen auf Gefahren und jede Person, die ich zum Nachdenken bringen kann, ist für mich wertvoll. Ich möchte auf die Folgen von Mobbing aufmerksam zu machen, den Kindern und Jugendlichen zu zeigen, sie können immer reden und wir Erwachsenen hören zu und müssen laut sein; das habe ich mir zum Ziel gesetzt.
Mein Account soll sowohl eine Stütze für Suizidhinterbliebene sein, als auch über Mobbing und dessen Auswirkungen aufklären, ebenso die Hemmschwelle reduzieren, die andere oft im Umgang mit Suizidhinterbliebenen haben. Und wenn ich dann vielleicht noch schaffe, die Hemmschwelle zu reduzieren, die andere oft im Umgang mit Suizidhinterbliebenen haben. Dann wäre das ein großer Schatz, ich glaube, wenn wir Betroffenen den anderen die Sorge nehmen, wird die Welt ein bisschen besser. Ich bin eine ganz normale Frau, Mama, die Mama von Lukas – that’s it!
Du findest, Mobbing wird zu oft heruntergespielt…
Kein Kind wird als Mobber geboren; Eltern, Lehrkräfte, Tanten, Onkel, wir alle müssen hinschauen und Werte vermitteln. Das geht schon bei den Kleinsten los, es ist nicht lustig, wenn sich der „kleine Rabauke“ durch die Kita boxt und deswegen das „Sensibelchen“ Angst vor jedem Kitatag hat. Lehrer, Trainer haben Vorbildfunktion, nicht ausschließlich die Lehrfunktion. Mobbing wird leider zu oft heruntergespielt und das kann Leben kosten. Ich weiß, Lehrkräfte stehen oft auch selbst so sehr unter Druck, dass sie zwar wissen, was moralisch richtig wäre, aber das nicht umsetzen können, aus Angst vor Repressalien.
Das sollte sich durch Schulreformen auch unbedingt ändern. Unsere Kinder sind toll! Wir sind diejenigen, die sie zu dem machen, was sie sind. Nicht nur unsere Kinder und Jugendlichen haben Verantwortung, auch ihre Eltern. Dessen müssen sich alle bewusst sein. Wir legen die Grundfeste, wir geben ihnen Werte mit.
Es gibt nicht DEN Mobber, ebenso wie es nicht DAS typische Mobbingopfer gibt. Lukas war groß gewachsen, schlank, sportlich, intelligent, charakterstark, höflich, gutaussehend. Ich hätte niemals gedacht, dass es einer kleinen Gruppe Jugendlicher gelingt, innerhalb weniger Wochen das Selbstbewusstsein meines wundervollen Sohnes zu brechen. Auch nicht, dass mein Sohn, der voller Liebe aufgewachsen ist, psychisch erkrankt. Und auch nicht, dass mein Sohn durch Suizid stirbt. Aber genau so ist es gekommen. Und ich gebe alles, damit das nicht mehr so vielen weiteren Menschen passieren muss.