Ablehnung überwinden: Was, wenn mir mein Kind fremd ist?

Ablehnung Kind

Ihr Lieben, hattet ihr das schon mal, dass ihr euer Kind angesehen habt und euch gefragt habt, woher es diese oder jene Eigenschaft wohl hat? Oder dass euer Kind auf eine Weise auf etwas reagiert, die für euch unvorstellbar wäre? Habt ihr da vielleicht sogar Ablehnung verspürt? Man denkt ja, dass allen am eigenen Kind vertraut sein müsste – aber dem ist nicht so. Und wenn Eltern feststellen, dass ihnen das eigene Kind manchmal fremd vorkommt, dann gesellen sich ganz schnell Schuldgefühle dazu. Dr. Oliver Dierssen ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und hat nun das Buch „Wenn dir dein eigenes Kind fremd ist (und es deinem Kind mit dir genauso geht“ veröffentlicht. Wir haben mit ihm über unbedingte Liebe und falsche Vorstellungen gesprochen.

Lieber Dr. Dierssen, woher kommt eigentlich die Vorstellung, dass das Baby auf die Welt kommt und die Eltern es sofort lieben – ohne Wenn und Aber?

Vielleicht daher, dass in jedem Menschen diese Sehnsucht angelegt ist: vorbehaltlos und ohne Wenn und Aber geliebt zu werden. Diese Sehnsucht nach einer so großen und intensiven Liebe berührt natürlich auch die Beziehung zu unseren Kindern. Darum ist die Erwartung an die Liebe zwischen Eltern und Kindern eben so gewaltig groß.

Dass diese uneingeschränkte Liebe manchmal eben aber nicht da ist, ist ein riesiges Tabu und kaum einer spricht darüber – vor was fürchten sich Eltern am meisten, wenn sie das äußern?

Vorweg gesagt: uneingeschränkt zu lieben, das ist ja eine Wunschvorstellung. Auch in Menschen, die ich von ganzem Herzen liebe, gibt es Seite, verborgene Eigenschaften, vielleicht auch Fantasien oder Sehnsüchte, von denen ich nichts ahne. Auch wenn viele sich eine so uneingeschränkte Liebe erhoffen, kennen wir von den anderen Menschen ja immer nur einen Teil.

Mehr noch: auch von uns selbst kennen wir nur einen Teil. Es ist ja schon schwierig, sich selbst, mit allen Eigenheiten, „uneingeschränkt“ zu lieben. Einen anderen Menschen „uneingeschränkt“ kennenzulernen und dann alle diese Seiten auch von ganzem Herzen zu lieben, das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Unterschiede und auch Konflikte gehören zu allen Beziehungen dazu.

Beziehungen so genau unter die Lupe zu nehmen, das kostet natürlich Zeit, und auch den Mut, sich den zwischenmenschlichen Unterschieden zu stellen. Darum glaube ich, mögen viele über Konflikte und Unterschiede nur ungern reden. Sie fürchten eine Verurteilung: „Wenn du andere nicht vorbehaltlos lieben kannst, stimmt mir dir und deiner Liebesfähigkeit etwas nicht.“ Das ist natürlich überhaupt nicht wahr.

„Wenn dir dein Kind fremd ist“ – geht es da aus Ihrer Erfahrung heraus eher um die Elternschaft im Allgemeinen oder wirklich auch um einzelne Charakterzüge eines Kindes?

Sichtbar wird dies oft an Charakterzügen oder auch einfach an den Konflikten des Alltages: Das Kind will sich zum Beispiel ausruhen, die Eltern wünschen sich mehr Leistungsbereitschaft. Dahinter steckt nach meiner Einschätzung, dass uns das Fremde im Anderen oft Angst macht. Das „Fremde“ bedeutet ja nicht nur, dass ich in meinem Kind Wesenszüge erkenne, die ich nicht nachempfinden kann. Es bedeutet auch: Mein Kind wendet sich manchmal ab von mir. Und das kann an Verlustängste und Verlusterfahrungen rühren, die wir früher im Leben gemacht haben. Und da wird es oft belastend. 

Gibt es da eine Geschichte, die Sie ganz besonders berührt?

Ich denke an ein Elternpaar, die sich über Jahre abgemüht haben, dass ihr Kind nicht nur zu ihnen und ihren Vorstellungen vom Familienleben passte, sondern auch noch zum Schulsystem. Das Kind war sehr schlau, aber dort klappte es eben auch nicht. Ich durfte diese Eltern eine ganze Weile begleiten und habe an ihrem Entdeckungsprozess teilhaben dürfen. Sie haben ihr Kind entdeckt und kennenlernen dürfen, wie man eine wunderbare, aber unbekannte Stadt entdeckt – möglichst ohne zu werten. Am Ende fand das Kind nicht nur einen guten Platz in der Familie, sondern auch an einer neuen Schule. Als es dann vor mir saß und plötzlich gar nicht aufhören konnte von dem zu berichten, was in seinem Leben plötzlich alles „passte“, da sind mir fast die Tränen gekommen. 

Was können Eltern machen, die feststellen, dass ihr Kind ihnen fremd ist?

Vor allem: die Ruhe bewahren. Entwicklung gehört zum Menschen dazu, und wenn wir Erwachsenen es richtig anstellen, entwickeln wir uns ein Leben lang beständig weiter. Es mag sein, dass mein Kind gerade in einer Phase ist, in der es Eigenschaften entwickelt, die nicht gut zur mir oder zu unserer Familie passen. Das ist nicht schlimm. Es bedeutet auch: die „Beziehungskompatibilität“ meines Kindes passt vielleicht gerade besser zu anderen: zur besten Freundin, zum Flötenlehrer, zur Lieblings-Patentante. Wenn wir erwachsen sind, wundert sich niemand, dass wir unser Leben mit anderen Menschen als den eigenen Eltern füllen, mit Menschen, die prima zu uns passen. Manche Kinder fangen eben früher damit an als andere.

Was macht das eigentlich mit Kindern, wenn sie spüren, dass ihre Eltern „fremdeln„?

Im besten Fall merken Kinder: „Meine Eltern sind anders als ich, aber sie lieben mich dadurch nicht weniger.“ Diese Kinder lernen, dass auch ihre nicht ganz passenden Eigenschaften einen Platz in der Familie finden. Gelingt das nicht, versuchen viele Kinder sich zu verbiegen, um doch irgendwie „hineinzupassen“. Diese Überanpassung ist sehr anstrengend, und im ungünstigsten Fall führt sie dazu, dass Kinder den Kontakt zu sich selbst, zu ihrem innersten Wesen und ihren eigensten Bedürfnissen verlieren. 

Gibt es den umgekehrten Fall eigentlich auch? Also, dass Kinder ihre Eltern schon früh ablehnen?

Kindern gelingt es auf meisterliche Weise, sich an ihre Eltern anzupassen und auch jene Eltern zu lieben, die große Schwierigkeiten damit haben, ihr Kind liebevoll anzunehmen. „Bindung passiert“, schreibt die tolle Autorin Nora Imlau. „Kinder können gar nicht anders, als zu binden.“ Natürlich treten Kinder naturgemäß in einigen Lebensphasen in gesunde Opposition zu ihren Eltern. Das ist aber in der Regel keine Ablehnung der Beziehung, sondern ganz im Gegenteil eine sehr intensive Beziehung, in der Wünsche nach Nähe und nach Autonomie in engem Wechsel auftreten. 

Was möchten Sie den Eltern sagen, die sich gerade mit Ablehnungs-Gefühlen quälen? 

Dass viele Eltern diese Gefühle haben – und dass es Wege gibt, wie man mit Verlustängsten, dem Gefühl von Isolation und Ablehnung umgehen lernt, und dem seelischen Schmerz, den diese oft hervorrufen. Das war auch ein Anliegen für mein Buch: Eltern zu stärken, um genau diese Gefühle besser auszuhalten. Und ein Gefühl dafür zu entwickeln, wo solche Gefühle wurzeln, zum Beispiel in Erfahrungen von Verlust und Zurückweisung, die wir früh im Leben gemacht haben. Solche schmerzenden seelischen Stellen zu spüren und auch zu heilen, dabei möchte ich Eltern unterstützen. 

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