„Acht Wochen nach dem Tod meines ersten Kindes bekam ich wieder ein Baby“ Gastbeitrag von Ines

marla fotor

Mein Name ist Ines und erzähle Euch heute meine Geschichte. 

Am 12.12.2012 wurde meine erste Tochter Marla geboren. Sie war mein absolutes Wunschkind und noch dazu ein sehr friedliches Baby. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie schrie oder sonst in irgendeiner Weise unglücklich war. Marla war ein echtes Traumbaby: mopsig und fidel, allesessend und stets lachend. Wir waren überglücklich. Im November 2013 erfuhr ich dann,  dass ich wieder schwanger bin – was für ein Segen! Marla sollte also große Schwester werden. Doch irgendwie kam alles anders, ganz anders..

Marla verweigerte plötzlich Essen und Trinken, war blass, hatte blaue Flecken und Fieber. 23.12.2013, vier Wochen nachdem ich erfahren hatte, dass mein zweites Kind unterwegs ist, stellten die Ärzte fest, dass Marla Leukämie hat. Von einem Tag auf den anderen gab es unser altes Leben nicht mehr. Langfristige Pläne waren hinfällig, die Ärzte sagten, wir sollten nur noch von Tag zu Tag denken. 

Alles änderte sich – auch die Schwangerschaft. Pötzlich war auch das eigentliche Wunschkind in meinem Bauch fehl am Platz und "überflüssig". Wir dachten sogar über eine Abtreibung nach, um uns voll auf Marla konzentrieren zu können. Ich entschied mich dagegen.  Zum einen hatte das neue Baby hatte genauso ein Recht auf Leben wie Marla und zum anderen sollte Marla doch ihr Geschwisterchen erleben…

Es stellte sich raus, dass Marla eine seltene Form der Leukämie hatte, die auf Chemotherapie nur bedingt bis gar nicht reagiert. Wir waren verzweifelt – und doch erlebten wir in dieser Zeit auch schöne Momente. Wir waren in einem sehr kleinen Krankenhaus mit tollen Ärzten und Schwestern, die sehr bemüht um uns waren. Marla begann auch wieder zu essen und nahm unter der Therapie sogar zu und wuchs.

Marla war so tapfer. Ihr fielen zwar Haare aus, sie erbrach sich von Zeit zu Zeit, aber sie lachte auch. Sie genoss das Leben und wir es mit ihr.

Nach einiger Zeit musste Marla für die Transplantation in eine andere Klinik verlegt werden. Dort verschlechterte sich ihr Zustand rapide. Sie quälte sich, aß nichts mehr, fieberte durchgängig. Ihre Organe versagten Stück für Stück und sie verlor auch ihr Lachen.

Marla hat nie gesprochen, nicht ein Wort. Aber kurz bevor sie starb, saß ich bitterlich weinend an ihrem Bett. Ich schluchzte: "Marla, versprichst du mir, immer auf uns aufzupassen von deiner Wolke? Auf uns und deine Schwester?" Ich war mir sicher, dass sie nicht antworten würde – doch sie sah mich an und sagte. "Ja!"    

Am 24.05.2014 wurde Marla morgens von den ersten ins Zimmer fallenden Sonnenstrahlen abgeholt.

Meine Welt blieb stehen. Und doch musste es weitergehen – in acht Wochen sollte mein zweites Kind zur Welt kommen. Ich fürchtete eine Frühgeburt, aufgrund der Anspannung und der Trauer. Doch das Baby blieb in meinem Bauch.  Es war das erste Mal, dass ich meine zweite Tochter bewusst wahrnahm und mich um sie sorgte. Sie hatte in der ganzen Zeit zuvor keine Rolle gespielt. Ich hatte keine Zeit gehabt, mich um sie zu kümmern. Und plötzlich spürte ich da jemanden in meinem Bauch.

Die folgenden Wochen verliefen wie in einem Zustand, den Drogenabhängige beschreiben. Ich erinnere mich an nichts mehr, fühlte mich so leer. Alles war so ruhig in der Wohnung und keiner war mehr da. Obwohl Marla nie gesprochen hatte, war sie so lebhaft gewesen. Nun war es still und kalt.

Meine Gefühle dem Baby gegenüber waren gemischt. Lange Zeit schaffte ich es nicht einmal, mir einen Namen zu überlegen. Ich haderte mit dem Schicksal. Warum wurde mein größter Wunsch nicht erfüllt, dass die Mädchen sich noch kennen lernen konnten? 

Ich habe die Natur verflucht. Sie nahm mir mein Kind, mein geliebtes, immer lachendes, wunderschönes Kind und dachte, mich überlisten zu können, indem sie mir ein Neues gibt? Ich verfluchte das Kind in mir, wollte meine Marla zurück und kein "neues".

Als ich dann beim Frauenarzt saß und die Kleine auf dem Ultraschall sah, änderte sich das. Ich bemerkte, dass ich doch Gefühle für das Baby hatte. Erstmals hatte ich wieder Hoffnung.

Am 25.7.2014 kam Thia per Kaiserschnitt auf die Welt. Sie wurde mir für einen kurzen Moment auf die Brust gelegt und sah mich direkt an. Ihre Augen und ihr Blick holten mich zurück ins Leben. Dieser kleine Wurm schrie bereits in den ersten 24 Stunden ihres Lebens mehr als Marla es je getan hatte. Thia war kerngesund, 3480 Gramm schwer, 51 cm groß und unfassbar zappelig. Sie hatte überhaupt keine Ähnlichkeit zu Marla, weder äußerlich noch vom Charakter. Heute weiß ich, dass das genau richtig für mich war.

Anfangs hatten ich viele Ängste. Darf ich Thia lieben? Genau so sehr lieben wie Marla? Oder setze ich Marla dann zurück, lasse sie nicht mehr an meinem Leben teilhaben?

Viele Wochen habe ich mit mir gehadert. Nach und nach erst habe ich verstanden, dass Thia Marla nicht ersetzt und nicht ersetzen kann. Sie ist meine zweite Tochter, die kleine Schwester, der Wildfang – mein Kind. Heute ist Thia 2,5 Jahre alt und nach wie vor hat sie keine Ähnlichkeit zu Marla, aber eine enge Beziehung zu ihr. Jeden Tag reden wir über Marla, manchmal nimmt Thia einen Keks und bringt ihn zu einem Bild von Marla im Wohnzimmer und "schenkt" ihn ihr.

Vom Vater meiner Töchter trennte ich mich vor 1,5 Jahren. Auch dieser Schritt war wichtig für mich, meine Kinder und meiner Trauerarbeit.

Thia ist der Grund, weshalb ich mir nach Marlas Tod nicht das Leben genommen habe. Marla wusste vielleicht, dass nur eine Schwangerschaft mich davon abhalten würde und schickte deshalb Thia. Denn dieses kleine Mädchen setzte mein Herz Stück für Stück wieder zusammen. Thia ist das mutigste und frechste Mädchen, welches ich kenne. Sie hat in ihrem kurzen Leben schon viel erleben müssen. Nichts davon habe ich ihr gewünscht, aber es zeichnet sie aus.

Ihre überstürmische, freche, stets zappelige, laute und mäkelige Art ist vielleicht auch der Tribut für die Schwangerschaft und erste gemeinsame Zeit. Thia und ich – wir mussten beide kämpfen, aber wir haben es geschafft!

Heute stehen wir mitten im Leben, erobern jeden Tag ein Stückchen Erde mehr und genießen jede Minute zusammen. Sie ist mein Kind, meine Tochter, mein Mädchen und ich liebe sie. Genauso wie ich Marla liebe.

——- Das Foto oben ist etwas ganz besonderes: Es ist das Einzige, was Ines mit beiden Mädchen zeigt – Marla an der Hand und Thia im Bauch… Mehr über Marla könnt Ihr auf DIESER Facebook-Seite lesen

—-ZUM WEITERLESEN

"Kommt Papa gleich wieder?" Eine Kinderbuch-Empfehlung zum Thema Trauer

Gastbeitrag von Aylin: Wie ich von Johanna Aschied nahm

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15 comments

  1. Zurück ins Leben
    Liebe Ines, lieben Dank für deine Geschichte.
    Ich kenne die Leere, den Kampf und die ersten Schritte zurück. Ich habe vor 1,5 Jahren meine jüngste Tochter Elli durch einen tödlichen Unfall gehen lassen müssen. Hätte es nicht die beiden „großen“ gegeben, wäre ich ihr wohl gefolgt. Dieser tägliche Kampf mit dem Schmerz und dem Weg zurück ins Leben ist ein auf und ab. Der Wunsch den anderen beiden gerecht zu werden ohne den Tod zu ignorieren. Den Tod von Elli und ihre Geschichte in unserem Leben aufzunehmen ist mein Ziel. Nur durch Ehrlichkeit und Offenheit wird dies funktionieren…Danke für Deine Geschichte.

  2. Tief betroffen
    Mein Beileid für Ines ich bin wirklich tief betroffen. Als ich 5 war und meine kleine Schwester verlor war ich irgendwie ab dem Moment unsichtbar für meine Eltern- heute natürlich total verständlich aber damals nicht und es hat mich gezeichnet. Demnach kann ich mich gut in Thia reinversetzen aber ich bewundere auch Ines für Ihre Kraft und ihren Mut, ihr 2. Kind zu behalten und zu lieben. Sein Kind zu verlieren ist glaube ich das Allerschlimmste, was man als Mutter bzw. Eltern erleben kann. Ich hoffe das ich das nie durchleben muss. Mein Bruder hat auch immer noch schwer damit zu kämpfen, das es ihn wohl nicht geben würde, wäre meine kleine Schwester nicht gestorben. Der Tod hat Auswirkungen auf alle Beteiligten und oft mehr als man sieht oder denkt.
    Alles alles Gute für Ines und auch Marlas Papa und Thia.

  3. Überwältigt
    Ich sitze hier und weine… der Bericht hat mich tief berührt. Das Foto mit den Zweien ist nur eine Momentaufnahme. Ich glaube an die Liebe, die wir hin und wieder verlieren, die uns aber trotzdem immer begleitet und umgibt mit Wärme. Marla begleitet euch und ich glaube an einen wunderschönen Ort wo sie mit anderen geliebten Menschen zusammentrifft. Wer weiss vielleicht lässt sie meine Oma über einen Zaun klettern wie ich es früher mit rund 2 Jahren getan habe wenn ich zum Nachbarjungen gehen wollte (meine Mutter erzählt oft davon *schmunzel*). Vielleicht sitzt sie aber auch bei meiner Freundin auf dem Schoß und lässt sich Geschichten erzählten. Diese Gedanken sind es die mir meinen Verlust erträglicher machen. Ich wünsche dir und Thia alles alles Gute und Liebe. Vor allem viel Freude und ein glückliches Leben. Marla grüß unsere Lieben und drück sie mal kräftig und lass weiterhin die Sonne in unser Herz.

  4. liebe ines
    Ich lese hier gerade meine lebensgeschichte fast identisch,nur ich bin in meiner geschichte,was thia in deiner ist…meine schwester starb kurz vor meiner geburt an leukämie und das hat mein leben stark geprägt.lässt mich mein leben von anbeginn an als ein geschenk betrachten,als geliehenes glück,welches erfüllt werden möchte…vieles,was du schreibst lässt in mir den glauben zurück,dass alles einen sinn macht,wenn man ihn zulässt.geht weiter miteinander euren weg,vertraut dem leben immer wieder und lasst auf eure fragen,antworten folgen.

  5. Liebe Ines
    beim Lesen Deines Textes laufen mir die Tränen und es läuft mir eiskalt den Rücken herunter! Unglaublich, was Deine kleine Familie durchmachen musste!!! Zumal meine Kinder fast zeitgleich geboren sind, wie Deine. Mein Sohn kam wenige Tage vor Deiner Marla. Der 12.12.12 wäre sein errechneter Geburtstermin gewesen. meine Tochter ist genau einen Monat später als Deine Thia geboren. Die Vorstellung, dass es meinen Sohn nicht mehr geben würde und das in der gleichen Situation erfahren zu müssen, zerreißt mir fast das Herz!
    Ich wünsche euch weiterhin ganz viel Kraft und vor allem ein gesundes, schönes Leben – mit einer Tochter an deiner Seite und einer in Eurem Herzen!

  6. Liebe Ines,

    Liebe Ines,
    Ich wünsche dir ganz viel Kraft und Freude beim Erobern der Erde!

    Fühle dich ganz lieb gedrückt!
    Eva

  7. Liebe Ines, ich kann mir
    Liebe Ines, ich kann mir nicht ansatzweise vorstellen, was Du durchgemacht hast, sogar die Beziehung zu Deinem Mann ist daran zerbrochen und doch hast Du es durch Deine zweite Tochter geschafft, wieder Freude am Leben zu finden. Ich wünsche Euch beiden alles Gute.

  8. Nicht in Worte zu fassen
    Liebe Ines,

    es ist nicht in Worte zu fassen, wie mich Deine Geschichte berührt hat. Ich sitze hier mit Tränen in den Augen und bewundere Deine Stärke und wie offen Du mit Deiner Geschichte und Deinen Gefühlen umgehst. Besonders schön finde ich es, wie Thia ihre Schwester in euren Alltag einbezieht, wie wenn sie einfach neben euch sitzen würde. Marla hat so immer einen Platz in eurem Herzen.
    Ich wünsche Dir und Thia alles Liebe und Gute und viele glückliche Momente voller Sonnenschein.

    Anna-Maria

  9. Liebe Ines,

    Liebe Ines,
    danke für deine Offenheit und die Ehrlichkeit dein Gefühlschoas hier mit uns zu teilen. Es ist unvorstellbar, was ihr erleben habt und bereits beim Lesen, strömen hier die Tränen nur so. Ich wünsch euch alles, alles LIebe.

    Danke Katharina und Lisa, das ihr diese Familiengeschichte auf eurem Blog einen Platz gegeben habt.

  10. Absolut unfassbar…
    …dass es so etwas gibt. Während ich das lese schläft meine Kleine neben mir seelenruhig und ich muss weinen. Was du erlebt hast,wünsche ich niemandem. Und dann fest zustellen,dass die Welt sich weiter dreht,ist ungeheuerlich. Durch so etwas durch zu gehen,dafür gibt es keine Worte. Ich sende dir meinen allergrößten Respekt und mein vollstes Mitgefühl. Und ich muss sagen,dass es wunderbar ist,dass dir dieser Kleine quirlige Mensch geschenkt wurde,der nun an deiner Seite ist. Nein,ersetzen kann und soll sie niemanden. Sie ist einfach sie selbst. Und sie ist da. Ich finde es schön,dass du Marla mit ihr thematisiert und ihr gemeinsam an sie denkt.
    Leben ist etwas unberechenbares, etwas wundervolles und grausames. Und man kann nur annehmen,was ist. Widerstand ist zwecklos.
    Liebe Ines,ich wünsche dir alles Gute,Kraft,Lachen,Stärke und Mut,um weiter zu gehen,mit deiner Kleinen an der Hand und doch immer zu wissen,dass Marla dich geliebt hat.

  11. Alles Liebe
    Liebe Ines, vielen Dank für deine sehr berührende Geschichte! Mir kamen die Tränen beim Lesen…
    Ich bewundere deinen Mut und deine Kraft! Ich wünsche euch Dreien weiterhin viel Kraft, Freude und viele glückliche Stunden! Macht weiter so!

  12. Danke
    Vielen Dank für diese mutige und berührend Geschichte! Weiterhin viel Kraft und alles Gute für dich und deine Tochter. Allein der Gedanke an so eine Situation lässt mir die Tränen kommen. Den allergrößten Respekt für dein Power als Mutter!