Ihr Lieben, unsere Leserin Myriam ist heue 36, hat aber erst mit 21 Jahren die Autismus-Diagnose bekommen. Ihre ganze Kindheit hatte sie sich einfach „anders“ gefühlt, dank der Diagnose konnte sie sich endlich besser verstehen. Hier erzählt sie ihre Geschichte.
Liebe Myriam, kannst du uns mal erzählen, was für ein Kind du warst
Ich hatte eine sehr behütete Kindheit, meine Eltern waren bis zum Tod meines Vaters 2013 (da war ich aber schon 25 und habe nicht mehr zu Hause gewohnt) verheiratet und haben sich und mich sehr geliebt.
Als Kind habe ich sehr gern gemalt, auch Puzzles, die eigentlich zu schwer für mein Alter sein sollten, habe ich sehr gern gemacht. Ich konnte schon sehr früh sehr gut sprechen und mit 4 habe ich mir das Lesen selbst beigebracht (wofür meine Mutter angefeindet wurde, da alle dachten, sie zwinge es mir auf), nur motorisch war ich nicht so gut, weshalb ich auch Therapien benötigte.
Laufen konnte ich erst recht spät, Feinmotorik war praktisch nicht vorhanden, was aber heute zum Glück kein Thema mehr ist, sonst hätte ich weder eine Lehre zur Uhrmacherin machen können, noch könnte ich in meinem heutigen Beruf arbeiten. Freunde hatte ich nie viele, ich war immer die Seltsame, sodass meine Freunde ebenfalls eher zu den Außenseitern gehörten.
Wie warst du als Schülerin?
In Mathematik war ich nur dann gut, wenn mich das Thema interessierte (binomische Formeln, Algebra, Matrizen), in den sprachlichen Fächern war ich recht gut dabei, insgesamt war ich aber immer eher Durchschnitt.
Nun hast du erst Erwachsene die Autismus-Diagnose bekommen. Wann und warum hast du entschlossen, in die Diagnostik zu gehen?
Es wurde mit den Jahren leider nicht besser, dass ich überall aneckte, wenn es um soziale Dinge ging. Manch soziale Konzepte verstand ich nicht, Menschen waren immer schon schwierig zu lesen für mich, an Empathie mangelte es mir jedoch zum Glück nie.
Den Anstoß gab mir jedoch die Erinnerung an einen Exfreund, der mal zu mir meinte: “Na, meine kleine Autistin, musst du wieder alles genau anordnen?“ Nach 1 1/2 Jahren Wartezeit konnte ich dann endlich zur Diagnostik.
Wie war das für dich, als du plötzlich eine Diagnose hattest?
Es war sehr erleichternd, denn nun wusste ich, warum ich die Verhaltensweisen anderer Menschen kopierte, um normaler zu wirken und warum ich jeden Abend immer so erschöpft bin: Masking. (zur Erklärung: Masking im Kontext von Autismus, bezieht sich auf das Verbergen oder Unterdrücken von autistischen Merkmalen, um sich sozial anzupassen und als neurotypisch wahrgenommen zu werden. Es ist eine Strategie, um in einer von Neurotypischen dominierten Welt zu überleben und kann sowohl bewusst als auch unbewusst eingesetzt werden.)
Wie ist dein Umfeld mit der Diagnose umgegangen?
Ich habe nicht vielen davon erzählt, schon gar nicht in meiner Arbeit. Meine Mutter nickte nur und sagte mir, dass sie sich das schon gedacht hätte, aber früher gab es diese Diagnostiken noch nicht. Wenn man so war wie ich, dann „war man eben einfach nicht normal.“
Was meinst du: was hätte dir eine frühere Autismus-Diagnose erspart?
Für meine Mutter wäre es vielleicht leichter mit mir gewesen und ich hätte eine Antwort auf die Frage von anderen Leuten geben können, warum ich manchmal so seltsam bin. Auch hätte ich besser gewusst, wie ich damit umgehen kann. Ich glaube, alles wäre etwas leichter gewesen.
Wie erlebst du deine Mutterschaft als Autistin?
Zuerst: Meine Tochter ist neurotypisch, da bleibt ihr zum Glück etwas erspart, denn Autismus kann auch vererbt werden.
Besonders schwer ist es, wohin gehen zu müssen, wo viele Menschen und Reizquellen vorhanden sind, wie Einkaufszentren, Familienfeste etc., sie weiß dann auch, warum ich mich dann zwischendurch mal einige Minuten abseits stelle, um etwas Ruhe zu haben. Auch wenn ein Tag generell sehr anstrengend war, weiß sie, dass ich ein paar Minuten für mich brauche daheim, denn ich bin alleinerziehend und arbeite Vollzeit.
Ich musste mir auch schon ins Gesicht sagen lassen, dass es wohl besser wäre, wenn das Jugendamt vorbeikäme, denn „solche Leute“ sollten keine Kinder haben und würden das ja nicht hinbekommen, obwohl diese Leute ganz anders zu mir waren, bevor sie von meiner Diagnose wussten.
Was ich jedoch mache, ist, ganz bewusst aus meiner Komfortzone zu gehen, einfach, weil ich es in diesem Fall möchte: Ich bin Klassenelternvertreterin in der Klasse meiner Tochter und Obfrau des Elternvereins.
Was würdest du dir für dich selbst wünschen?
Gute Frage, aber ich weiß es ehrlich gesagt nicht.
Und was wünschst du dir von der Gesellschaft?
Dass Autismus nicht immer mit schreienden, vor sich hin wippenden Kindern und übermenschlich denkenden Erwachsenen in Verbindung gebracht wird, denn die Wenigsten haben Inselbegabungen.
Es ist nun einmal ein Spektrum, von nonverbalen Individuen, die rund um die Uhr Hilfe benötigen bis zu Individuen, die kaum Probleme haben, ist alles dabei. Es gibt nicht umsonst den Spruch: „Kennst du einen Autisten, kennst du genau EINEN Autisten.“
Und dass solche Ausdrücke wie „high functioning“ und „low functioning“ nicht mehr benutzt werden, da dies diskriminierend ist.