Ihr Lieben, wir haben hier immer wieder Berichte zum Thema ADHS, weil es so, so wichtig ist, darüber aufzuklären. Noch immer gibt es viele Vorurteile oder Unwissenheit über ADHS, daher hier nochmal die Definition des Bundesgesundheitsministeriums:
„Eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) beginnt im Kindes- und Jugendalter und kann auch im Erwachsenenalter weiter bestehen. Hinter ADHS verbirgt sich eine der häufigsten psychischen Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen. Man nimmt an, dass etwa 2 bis 6 Prozent aller Kinder und Jugendlichen unter krankhaften Störungen der Aufmerksamkeit und an motorischer Unruhe leiden.
Charakteristisch für ADHS sind folgende drei Hauptsymptome: Hyperaktivität (übersteigerter Bewegungsdrang), Unaufmerksamkeit (gestörte Konzentrationsfähigkeit), Impulsivität (unüberlegtes Handeln). Die einzelnen Symptome können jedoch unterschiedlich stark ausgeprägt sein und müssen nicht immer alle gleichzeitig auftreten.„
Doch wie lebt es sich, wenn man selbst ADHS und ein Kind mit ADHS hat? Genau das ist bei unserer Leserin Claudia der Fall und sie erzählt uns sehr berührend aus ihrem Alltag…
Liebe Claudia, Dein Kind hat eine ADHS Diagnose. Kannst du uns mal ein bisschen mehr über dein Kind erzählen?
Mein Sohn ist jetzt 9 Jahre alt und besucht die 3. Klasse der Grundschule in unserem Ort. Zum nächsten Schuljahr wechselt er, weil es hier nicht mehr tragbar war.
Er liebt Geschichten und ist im Lesen immer einer der Klassenbesten gewesen. Er malt und erzählt unglaubliche Geschichten. Sport macht er gern, alles was mit Klettern, Springen und Schwimmen zu tun hat. In unserer Freizeit fahren wir viel mit dem Rad, zur Schule nimmt er den Roller. Er ist tatsächlich schon geklettert, bevor er laufen konnte und hat gesungen, bevor er gesprochen hat.
Nicht so gut klappen Tests, also viele gleiche Aufgaben am Stück unter Zeitdruck. Er kann überhaupt nicht gut konkurrieren, wenn er nicht absolut sicher ist, dass er das Thema sicher kann. Den Druck hält er nicht aus.
Das Schriftbild ist für ihn schwierig und große Gruppen und zu viel Nähe überfordern ihn. Er nimmt viele Dinge persönlich, obwohl er nicht gemeint ist. Das führt sehr häufig zu Streit und Ablehnung. Er hat nur einen Freund und ist leider extrem leichtgläubig, weil er das Gute in den Menschen sieht. Und weil er davon ausgeht, dass alle allen gut gesonnen sind, so wie er.
Wann und warum seid ihr in die Diagnostik gegangen?
Ich habe sehr früh versucht, in die Diagnostik zu gehen. Er hat als Baby schon viel geschrien und war immer anders als andere Kinder; lauter, aktiver, intensiver, empfindlicher – einfach mehr auf jeder Ebene. Wo andere Mütter 20 mal etwas gesagt haben, habe ich es 200 mal gesagt und es ist noch nicht angekommen.
Er ist an Türrahmen hochgeklettert, hat sich ständig gestoßen, war teilweise sehr hektisch und mit dem Kopf in den Wolken. Es waren immer große Gefühle, etwas dazwischen gab es nicht.
Im Kindergarten hatten wir keine Unterstützung, denn „er könne sich ja konzentrieren, wenn er wolle“. Erst, als es im 1. Halbjahr der ersten Klasse einen Lehrerwechsel gab, war er „plötzlich“ auffällig – im Verständnis, Konzentration und im Sozialen. Erzählt hat er Zuhause fast nichts, denn er konnte das Geschehen einfach nicht mehr abrufen.
Eine Arbeitskollegin hatte mich ebenfalls sehr bedrängt, einen Kinderpsychiater aufzusuchen, aber der Vater war immer dagegen. Nach der Trennung vom Kindsvater habe ich mich sofort bemüht und aufgrund der zusätzlich schweren familiären Situation sehr schnell einen Platz bekommen.
Wie war das für euch, als ihr die Diagnose hattet?
Die Diagnose war eine Erleichterung, denn zu dem Zeitpunkt war schon klar, dass er einfach anders war. Der Vater und die Schule stempelten ihn als dumm und als Förderschüler ab. Aber die Diagnose zeigte unter anderem ADHS und eine Dissoziierte Intelligenz: Er brauchte einfach länger, um Inhalte zu verstehen und hatte ein langsames Arbeitstempo. Verbale Inhalte, die mehr als Subjekt-Prädikat-Objekt beinhalten, haben keine Chance. Das auditive Verständnis funktioniert isoliert sehr schlecht. Hinzu kam, dass es immer wieder Verständnisprobleme bei den Aufgaben gab. Manche Aufgabenstellungen haben zuviele Fragen ausgelöst und ihn dann handlungsfähig gemacht.
Endlich hatte ich es greifbar, warum mein Kind nicht zurechtkam, obwohl es zu Hause doch nach Erklärungen alles konnte. Wir fingen mit der Ergotherapie bereits vor der Diagnose an, danach gab es begleitende Gespräche bei der Therapeutin und Medikamente, außerdem habe ich beim Jugendamt eine Familienhilfe und einen Integrationshelfer beantragt.
Da der Vater dies nicht unterschreiben wollte, musste ich mir die Unterschriften vor Gericht erkämpfen. Das hat die Behandlung um 5 Monate verzögert. Konzentrationskurse (nach Marburger Modell), Gruppen beim Kinderschutzbund und Selbstbehauptungskurse – wir haben alles gemacht, was es gab.
Der Integrationshelfer wurde jedoch von der Schule blockiert und erst jetzt, nach 16 Monaten, bewilligt. Zwischenzeitlich bin ich sogar bis zur Schulaufsichtsbehörde gegangen und es gab zahlreiche Gespräche. Beinahe wäre der Integrationshelfer am Schulwechsel gescheitert, aber wir hatten Glück.
Die Familienhilfe ist nach 4 Monaten wieder abgezogen worden, weil wir keine Hilfe bräuchten. Vorher half sie jedoch dabei, einen Pflegegrad zu beantragen. Die Entlastungsleistungen der Krankenkasse helfen sehr, da wöchentlich eine Hilfe kommt und aufräumt, saugt und wischt.
Was hat sich seit der Diagnose für euch verändert?
Seit der Diagnose hat sich einiges verändert. Ich habe mehr Anhaltspunkte, mit meinem Kind umzugehen. Durch Fachbücher (die hilfreichen gibt es fast nur auf Englisch) habe ich einige Kniffe lernen können und die Therapeutin ist Gold wert mit ihren Tipps. Mein Kind lässt sich als annähernd ausgeglichen beschreiben und es gibt fast keine Schlägereien mehr.
Der Knoten in Mathe ist geplatzt und aus dem „der muss auf die Förderschule“ Kind ist ein durchschnittlicher Junge geworden, der gerade ganz viel aufholt. Aber die Belastung durch die vielen negativen Erlebnisse merke ich heute noch. Daran werden wir noch lange arbeiten.
Aber es wird besser, es fliegen kaum noch die Gartenmöbel bei Wutanfällen und er lässt viel eher zu, mit ihm in Verbindung zu kommen. Mir fällt es auch leichter, Dinge zu erklären, wie z.B. dass es teilweise unmöglich ist, Dinge anzufangen. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen ist bei uns die selbsterfüllende Prophezeiung zu Chaos und Wutausbrüchen.
Und dann hattest du das Gefühl, es wäre gut, wenn du auch in die Testung gehst. Warum?
Tatsächlich hatte ich das bereits von mehreren Müttern mit ADHS-Erfahrung gehört, dass ich das machen soll. Aber erstmal hatte ich nur die Kapazität für das Kind. Meine Freundin, die ich 08/2023 zu Beginn meiner neuen Ausbildung kennengelernt habe, hat selbst die ADHS und nun auch ASS Diagnose. Sie hat mich schließlich von der Testung überzeugt.
In meinem großen Kind sehe ich sehr viel von mir wieder. Ich war selbst immer ein sehr verträumtes Kind und phasenweise unglaublich verwirrt. Irgendwie ist das aber nie jemandem aufgefallen, da meine Schulnoten immer sehr gut bis gut waren. Ansonsten war/bin ich das wandelnde Chaos, sehr impulsiv, die verrücktesten Ideen, unglaublich viel Energie und einen Gerechtigkeitssinn, mit dem ich durch jede Wand gehe. Oder in die Luft. Und dann breche ich zusammen, keine Energie für nichts. Es gibt Tage, da wäre ich ohne meine Kinder nicht aus dem Bett gekommen.
Lange war ich mit Depressionen diagnostiziert und die ganze Verhaltenstherapie hat nichts gebracht. Letzte Woche hat mein Neurologe die Diagnose eingetragen: ADHS ohne Tendenz zur Depression. Das war unglaublich befreiend.
Was hat die Diagnose für dich selbst verändert?
Die Diagnose hat mein Wertgefühl berichtigt, denn ich habe mich immer anders gefühlt, immer falsch oder kaputt. Ich habe oft nicht verstanden, dass ich oft mehr wahrnehme als andere und gleichzeitig die einfachsten Aufgaben nicht erledigen kann. Das ist heute noch so, phasenweise sieht es aus… ohne die Haushaltshilfe wäre ich nicht aus dem Chaos rausgekommen.
Für mich ändert die Diagnose auch die Selbstwahrnehmung enorm. Ich kann viel nachsichtiger mit mir sein und habe viel mehr Anhaltspunkte, mit schweren Phasen umzugehen. Die Erkenntnis, dass es für mich nicht so funktioniert wie für neurotypische Menschen gibt mir die Freiheit, neue Wege und Möglichkeiten zu finden, die für den Alltag funktionieren. Für mich und für meine Kinder, vor allem aber für das Große.
Mein Leben besteht aus „side quests“ und Flüchtigkeitsfehlern. Das kann ich jetzt besser annehmen und mit Humor nehmen, anstatt ein Willen- oder Charakterproblem zu sehen. Je mehr ich lerne, was andere nicht können und mir leichtfällt, umso eher erkenne ich die „ADHS Superkraft“, wie ich es auch meinem Kind immer erzähle.
Das klingt alles total toll. Aber zu 60% der Zeit empfinde ich mich und mein Hirn als total anstrengend. Es ist halt nie ruhig im Kopf und jedes Wort hat 4 Querverweise mit weiteren 4 Querverweisen pro Wort.
Als ich das erste Mal das Medikament genommen habe, war mein Kopf so leer, dass ich geweint habe. Ich konnte denken was ich wollte und dachte nur „so hätte ich studieren können“. Außerdem sind die Gedankenspiralen sehr reduziert dadurch und viele Ängste weniger groß und belastend.
Kannst du mal erklären, was für dich und dein Kind wichtig ist, damit der Alltag gut funktionieren kann?
Uns helfen Strukturen in den kleinen Dingen und dass alles an seinem Platz ist. Wenn ich über die Abläufe nicht nachdenken muss, kann ich nicht durcheinanderkommen. Außerdem habe ich sämtliche Erinnerungen im Handy. Und ich mache Dinge soweit es geht sofort, sonst sind sie nämlich weg. Wie meine Antwort an euch 🙂
In meinem Schrank gibt es so ein Bermudadreieck, das alles schluckt. Auf ewig. Genauso wie die Dinge, die nicht im Blick sind. Dinge im Keller lagern für die Ewigkeit. Und neulich habe ich mein Kind zur falschen Kirche zum Gottesdienst geschickt und war in Hausschuhen im Büro.
Außerdem muss ich bewusst rechnen, wieviel Zeit etwas braucht und hole mir da auch Hilfe/Meinungen. Denn das ADHS-Hirn sagt „das geht ganz schnell“ und acht Stunden später ist das kleine Projekt dann fertig. Oder halb fertig. So bleibt es dann auch meist die nächsten drei Jahre, bis eine andere Aufgabe prokrastiniert wird und das Projekt dann auf einmal mehr Dopamin bringt. Ständig in Deadlines arbeiten, das ist anstrengend.
Wie hat euer Alltag auf eure Diagnosen reagiert?
Unser Alltag reagiert unterschiedlich. In Richtung Kind eher verständnisvoll, aber eben auch nur solange es keine Probleme gibt. Es wird häufig nach der Medikamentengabe gefragt und überrascht reagiert, weil damit ja längst nicht alle Hürden aus dem Weg sind.
Mir wurde von fachlicher Stelle auch nahegelegt, dass ich das ADHS weg therapieren lassen soll. Und mein Erziehungsstil und meine „Nachgiebigkeit“ nach außen werden häufig kritisiert. Aber es steckt keiner drin in meinem Leben und ich weiß, wann zu viel Druck mein Kind über die Kante schubst und gar nichts mehr geht. Solche Wutsituationen sind auch für das Kind dann tagelang erschöpfend. Da begegnet mir sehr viel Unverständnis.
Mir selbst wurde schon gesagt, dass es mit den Tabletten dann ja gehen sollte. Dass ich es auch so geschafft hätte. Das macht mich wütend, denn ich frage mich, was ich noch alles hätte schaffen können, hätte mein Hirn mir nicht im Weg gestanden. Und im beruflichen Kontext wurde mir gesagt, dass ich mich nicht auf der Diagnose ausruhen solle.
Ich brauche nun mal länger, brauche mehr Kontrollmechanismen und das kostet natürlich Zeit. Die Leistungsphasen sind unbeständig und das wirkt unzuverlässig. Nach außen sieht es aus wie Unachtsamkeit. Das macht mich oft wütend.
Durch meinen Gerechtigkeitssinn gerate ich auch in schwierigere Situationen als diejenigen, die es einfach gut sein lassen können. Das kann ich nur sehr schwer und das kostet Zeit, Energie, und ich ecke natürlich überall an. Eine Freundin hat mich mal als Sommer-Naturgewalt bezeichnet. Den Winter würde ich am liebsten verschlafen.
Was wünschst du dir für Menschen mit ADHS-Diagnose?
Ich wünsche mir für die Menschen einen leichteren Zugang zu Informationen und Diagnosemöglichkeiten. Und viel, viel mehr Aufklärung in der Bevölkerung und Aufgeschlossenheit gegenüber neurodiversen Hirnen und Menschen.
Wir hatten Glück. Über das SPZ hätte ich dieses Jahr erst die Diagnose mit meinem Sohn starten können. Die meisten Informationen und Alltagslösungen habe ich von Instagram und Tiktok, von Betroffenen, die ihre Symptome und Lösungen beschreiben und aufs Korn nehmen.
Es gibt so viele Menschen, die gar nicht verstehen, was ADHS eigentlich ist. Es gibt keine Verbindlichkeiten, dass Kindergärtner:innen und Lehrer:innen sich mit den Diagnosen auskennen.
Wenige dieser Berufsgruppen, mit denen ich Kontakt habe, wissen, was RSD (rejection sensitivity disphoria: die Angst vor Zurückweisung) ist und was das macht. Dass ADHS halt mehr ist als Zappeligkeit und Konzentrationsschwierigkeiten. Dass normale Tipps wie „mach es einfach“, „erst das schwere, dann das leichte“ und „das kannst du doch eigentlich“ nicht nur nicht helfen, sondern auch ordentlich das Selbstbewusstsein nachhaltig dämpfen.
Oder dass es bei Mädchen vollkommen anders auftritt und deshalb weit seltener diagnostiziert wird. Oder dass es bei Frauen häufig als Depression oder Anspannung fehldiagnostiziert wird. So viele Menschen laufen mit einem Hirn herum, das ist wie ein V8 Motor mit Fahrradbremse. Das heißt volle Power und keine Möglichkeit, diese zu lenken. Und anstatt Hilfe zu bekommen, gelten sie als faul, unmotiviert oder dumm. Oder willensschwach.
Es gibt Studien, die zeigen, dass Menschen mit undiagnostiziertem ADHS weitaus anfälliger sind für Abhängigkeiten und Suizide.
Ich würde mir wünschen, dass jedes Kind mehr Chancen bekommt auf eine frühe Testung, damit es gesund zu seinem vollen Potenzial aufsteigen kann. Dass kein Mensch mehr – ob Mann, Frau oder jemand anderes–, das Gefühl hat, nicht gut genug zu sein, nur weil das Hirn nicht in denselben Mustern denkt wie die Menschen, die wir als „neurotypisch“ bezeichnen.