ADHS Diagnose als Erwachsene: Ich war das „schwierige“ Kind

ADHS Diagnose

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Ihr Lieben, unsere Leserin galt immer als „das schwierige Kind“, dachte im Grunde immer, mit ihr stimme was nicht – bis sie im Erwachsenenalter die ADHS Diagnose erhielt und endlich wusste, warum sie so war wie sie war. Was für eine Erleichterung! Auch im Umgang mit ihren Eltern… und ihrem eigenen Sohn, der ebenfalls betroffen ist. Eine wunderbare Geschichte: Vom Problemkind zu Frau Doktor!

Deine Eltern sind toll, mussten sich aber zeitlebens Vorwürfe anhören, dass du so bist, wie du bist. Wieso?

Ich war immer das „schwierige“ Kind. Da lag es für Außenstehende nahe, dass es an Erziehungsfehlern liegen musste. Zudem bin ich eine Spätlese – mit Ende 30 galten meine Eltern in den Achtzigern tatsächlich als alt, als ich zur Welt kam. Somit war ich schnell das verwöhnte Nesthäkchen, das von den Eltern keine Erziehung bekommt.

Wie warst du denn als Kind?

Irgendwie „anders“. In der Schule unbeliebt, ich hatte so gut wie keine Freunde. Dazu kamen sehr eruptive Wutausbrüche zu Hause, während ich in der Schule eher still war, aber immer gute Noten hatte. Also war es abgemachte Sache: Dumm bin ich nicht, ich könnte also brav sein, wenn ich nur wollte.

Auch meine Interessen waren vergleichsweise seltsam. Ich mochte nichts mit Toben oder auch nur draußen spielen. Lieber drinnen sitzen und lesen. Fremdsprachen fand ich schon im Kindergartenalter faszinierend, aber leider gab es damals noch keine Frühenglisch-Kurse o. ä.

Kinderturnen, überhaupt Sport, musikalische Früherziehung – fand ich alles schrecklich. Obendrein wurden meine Interessen im Kindergarten schnell gedeckelt, damit ich mich später in der Schule nicht langweile. Lesen lernen war somit erstmal für mich schlichtweg verboten. Aber das hat mich nicht weiter interessiert: Ich hatte ein Tier-ABC zu Hause, das habe ich sogar immer noch, und konnte damit die Verbindung von Lauten und Buchstaben austüfteln. Dadurch hatte ich bald raus, wie Wörter funktionieren. Also konnte ich dann eben doch schon mit 4 oder 5 Jahren verbotenerweise lesen.

Ich weiß noch: Das Erste, was ich flüssig lesen konnte, war ein Warnaufkleber in unserem Auto. Den hab ich während einer Fahrt laut vorgelesen und mein Vater wäre vor Schreck fast in den Graben gefahren 😉 Aber alles, was mit sozialer Interaktion zu tun hatte, war für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Und Emotionen sowieso. Vormittags war ich also brav und hab mich zusammengerissen, um keinen Ärger zu bekommen, aber nachmittags kam die Anspannung dann in Form von Aggressionen umso heftiger hervor.

Was bekamen deine Eltern da zum Teil zu hören – und von wem?

Als in den Achtzigern langsam der Begriff des „Zappelphilipp-Syndroms“ in unserem Umfeld auftauchte, wollte meine Mutter dem nachgehen. Der Kinderarzt meinte aber recht lapidar, dass das Kind eben eine „starke Hand“ braucht, was immer darunter zu verstehen sei. Die Grundschullehrerin sprach von „mehr Erziehung“, und ausgerechnet von meiner Großmutter, die ich selbst nur als ein absolutes Herzchen kenne, kam: „Jetzt verhau ihr halt mal den Hintern, dann hört sie schon.“

Und wenn sich deine Mutter gegen die Vorwürfe wehrte, wollte ihr keiner zuhören? Es hieß immer, sie mache halt was falsch?

Als sog. Spätgebärende machte sie in den Augen der anderen sowieso so gut wie alles falsch. Ebenso mein Vater, der ja nichts anderes zu tun hatte, als sein kleines Prinzesschen zu umsorgen. Ich war zu verwöhnt, zu verhätschelt, bekam nicht genug Kontakt zu anderen Kindern. Und vor allem müsste ich mal raus an die frische Luft und Sport machen. Meine Eltern hätten mir kein Benehmen beigebracht, seien zu nachgiebig und sowieso zu alt, um ein Kind zu erziehen. Das klingt heute total absurd, weil Ende 30 wirklich kein außergewöhnliches Alter zum Kinderkriegen ist.

Deine Schule verlangte, du mögest dich anpassen (was ist denn da z.B. vorgefallen?), auch dort wurde deinen Eltern Vorwürfe gemacht…

Irgendwann hatten meine Mitschüler raus, dass ich nicht zu ihnen passte, und ließen mich das sehr deutlich spüren. Jahrelanges Mobbing folgte, bei dem die Schule nicht auf meiner Seite war. Man gab in erster Linie mir die Schuld, dass ich die Angriffe zu ernstnehme, dass ich mich nicht anpassen will und dass ich halt Anschluss an die Klasse finden muss.

Und meinen Eltern wurde vorgeworfen, dass sie mich zu „weich“ erzogen haben, dass sie dafür sorgen müssen, dass ich ein dickeres Fell bekomme und mich nicht so verzärteln dürfen. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Meine Mitschüler machten mir das Leben zur Hölle, und daran waren meine Eltern schuld …

Sie sahen das verständlicherweise etwas anders und beharrten darauf, dass ich ein Recht darauf habe, zumindest in Ruhe gelassen zu werden. Da ging es wieder los mit dem überbehüteten Kind, das zu Hause wohl keine Grenzen gesetzt bekommt, weil Mama und Papa überall alles regeln. Am Schluss waren wir alle so zermürbt, dass ich die Schule verlassen habe. Es war eben einfacher, das Problemkind zu entfernen. Im Rückblick würden meine Eltern allerdings eins anders machen, nämlich nicht mehr so lange diskutieren, sondern handeln und viel schneller einen Schulwechsel veranlassen.

ADHS Diagnose
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Mein sehr ordentlicher Vater hat damals übrigens die ganzen Mobbing-Vorfälle in der Schule protokolliert und diese Auflistung zu den Elterngesprächen mitgenommen. Die Schulleitung hat gar nicht darauf geachtet und ließ sich nicht darauf ein. Dennoch hat mein Vater diese Notizen fein säuberlich in den Ordner mit meinen Schulzeugnissen geheftet, wo sie heute noch sind. Damals wusste er aber noch nicht, dass seine Notizen Jahrzehnte später ein wichtiges Dokument für meine Diagnostik sein würden.

Ich kann gar nicht dankbar genug sein, dass er es damals alles aufgeschrieben hat, das hat heute so viel erleichtert und ist auch emotional für mich sehr wertvoll. Das hab ich mir abgeschaut und mache selbst gemeinsam mit meinem Sohn Notizen über seine Stolpersteine, damit wir im Falle des Falles darauf zurückgreifen können.

Deine Eltern haben aber trotz des Gegenwindes immer zu dir gehalten? Wussten, dass du kein „böses“ Kind warst, verloren nie den Glauben bzw. das Bauchgefühl, dass du vom Grunde deines Herzens her eine Gute bist?

In dem Zusammenhang ging es vor allem um meine Probleme, mit Emotionen umzugehen, vor allem mit hochkochender Wut. Meine Mutter sagte einmal ganz schlicht: „Ich hab es an deinen Augen gesehen, dass du das alles doch nicht wolltest.“

Hatten deine Eltern trotzdem manchmal auch insgeheim Versagensängste im Umgang mit dir?

Wut
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Eher in dem Sinne, dass sie ratlos waren, wie sie mir helfen konnten. Sie haben so vieles ausprobiert und sind zig guten Ratschlägen nachgegangen. Genug Bewegung an der frischen Luft, also stundenlange Waldspaziergänge mit dem Hund. Fand ich super, ich hab sehr gern mit meinem Hund rumgepusselt, aber geholfen hat es nicht. Hilfsmittel wie ein kleiner Ball, den ich kneten sollte, wenn ich die Wut nicht in den Griff bekomme. Atemübungen, autogenes Training … Aber da gab es nichts, was mir guttun konnte. Das führte zu einer großen Ratlosigkeit.

Wie hat deine Mama reagiert, als du mit 40 Jahren die ADHS Diagnose bekamst?

Auf jeden Fall mit einer großen Erleichterung und auch Genugtuung, dass sie von Anfang recht hatte und dass ich nicht das Produkt ihrer ganzen Erziehungsfehler bin. Gleichzeitig machte sie sich auch Vorwürfe, dass sie nicht hartnäckig geblieben ist. Sonst hätte sie mir tatsächlich helfen können. Oder auch nicht – wir wissen ja nicht, wie gut oder passend damals die Therapieangeboten waren. Zumindest waren sie da noch nicht so differenziert wie heute.

Erst folgte auf die Erleichterung also eine lange Gedankenkette mit „Hätte-wäre-könnte nicht alles anders laufen können?“ Aber schon bald waren wir uns einig, dass diese Überlegungen müßig sind. Es ist, wie es ist, und das ist heute auch okay so.

Eine Generation später wiederholt sich alles. Inwiefern ist dein Sohn ein Abziehbild von dir?

Er sieht nicht nur aus wie ich, er denkt auch wie ich. Wir merken einfach, dass unsere Gehirne gleich programmiert sind, obwohl wir sehr unterschiedliche Verhaltensweisen und Interessen haben. Ich war immer zappelig, unter Dampf und aggressiv. Er ist ruhig, verträumt und freundlich. Ich mit meinem Faible für Sprachen und Literatur, er für Technik und Naturwissenschaften. Deswegen kann man es an sachlichen Gegebenheiten nicht festmachen. Aber es fühlt sich an, als würden wir die gleiche Sprache sprechen, als kämen wir vom gleichen Planeten.

Auch wenn mich sein aktuelles Lieblingsthema nicht interessiert, ich unterstütze ihn dabei, ebenso mein Mann, weil ich weiß, wie wichtig es ist, sich nicht allein in seiner Welt zu fühlen. Wir suchen nach Fachliteratur und Videodokumentationen, gehen in entsprechende Museen, stellen ihm Fragen und lassen uns von ihm was beibringen. Und bei Themen, die uns verbinden, können wir herrlich fachsimpeln, da kommt niemand sonst mit. Er steht nämlich wie seine Mutter auf Lego, Star Wars und den Herrn der Ringe 😉

Hast auch du das Gefühl, die Leute denken, du machst was falsch?

Da mein Sohn wesentlich unauffälliger ist, als ich es früher war, ist es nicht so offensichtlich für Außenstehende. Aber wenn das Gespräch auf ADHS bzw. Autismus (was aktuell im Raum steht) kommt, gibt es oft die gleichen Reaktionen wie früher: Das ist eine Modediagnose. Einfach mal eine runterhauen, dann gibt sich das (ja, auch heute kommen solche Sprüche noch). Autismus kommt daher, dass die Mutter nicht zugewandt genug ist. ADHS kommt daher, dass die Mutter zu viel verwöhnt hat. Tja, was denn nun? Mach ich zu viel oder zu wenig? Und wieso eigentlich immer nur die Mutter? Es gibt zufällig auch noch einen Vater.

Er muss alle möglichen Themen bis ins Kleinste ausdiskutieren, bevor er einverstanden ist und mitmacht. Da komm ich mit Autorität und „Das machst du jetzt aber“ einfach nicht weiter, also diskutieren, erklären, Für und Wider, bis wir ein Ergebnis gefunden haben, das für alle okay ist. Das wird mir natürlich gern ausgelegt als „zu nachgiebig, lässt sich auf der Nase rumtanzen, kann sich nicht durchsetzen“.

Außerdem halten sich hartnäckig die ganzen Märchen von früher, wie man ADHS kurieren kann: Ich biete ihm zu wenig Bewegung an der frischen Luft, gebe ihm zu viele Süßigkeiten und parke ihn zu oft vor dem Bildschirm. Wenn ich diese ganzen Fehler nicht machen würde, gäbe es kein Problem. Funfact: Er ist ein ziemlich guter Langstreckenläufer, das kommt nicht daher, dass er nur am Handy hängt 😉

Sieht auch deine Mutter dich in deinem Jungen? Haben die beiden ein besonderes Verhältnis?

Schon etwas, weil ich damals so wissbegierig war wie er heute. Wenn er anfängt, einem Löcher in den Bauch zu fragen oder zu einem ewig langen Vortrag über sein aktuelles Lieblingsthema ausholt – momentan Schrödingers Katze, die Urknalltheorie oder die Busfahrpläne der Region. So war ich bei „meinen“ Themen früher auch, und zwar zugegeben auf eine recht nervige und besserwisserische Art. Aber grundsätzlich hat die beste Oma der Welt einfach ein ganz, ganz großes Herz für alle ihre Enkelkinder, die sie jedes für sich innig liebt und ganz besonders findet.

Wächst durch deinen Sohn auch nochmal deine Bewunderung für deine Mama, die dich trotz des Aneckens so liebevoll durch deine Kindheit und Jugend gebracht hat?

Absolut. Ich bin meinen Eltern ewig dankbar für ihre übermenschliche Nervenstärke und ihren unerschütterlichen Glauben an mich. Meine Eltern sind nie einem Kampf aus dem Weg gegangen, damit ich mich nicht verbiegen muss und trotzdem meinen Platz im Leben finden kann. Und das gegen so viele Widerstände – das bewundere ich unendlich! Ich spüre bis heute ihren Stolz auf mich und das, was ich geschafft habe. Das tut sehr gut! Vom Problemkind zu Frau Doktor 🙂

Aber wir sind uns außerdem auf einer gewissen Ebene sehr nahe, weil wir von uns gegenseitig wissen, was wir stemmen und bewegen. Meine Eltern kennen selbst noch den alltäglichen Struggle um Normalität und geben uns heute noch viel Rückenwind, indem sie würdigen und wertschätzen, wie wir unseren Alltag meistern.

Wenn ich mich bei anderen Betroffenen umhöre, sind es oft die älteren Generationen, die nichts von ADHS und Co. hören wollen und alles wegkritisieren. Das ist bei uns Gott sei Dank sehr anders! Wenn die ganze Welt mäkelt, was wir alles falsch machen, gibt es nach wie vor meine Eltern, die uns zu verstehen geben: „Ich seid genau richtig, wie ihr seid, und ihr macht das alles super!“

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2 comments

  1. Danke für den Bericht! Als Mutter von einem „Problemkind“ mit ADHS & Autismus (& Hochbegabung) und ähnlichen Problematiken (Wutausbrüche) zeigt mir das, dass ich ihn immer wieder bestärken soll. Zwar auch von ihm ein Mindestmaß an Anpassung einfordern, aber ihm auch die Freiräume erkämpfen, die er braucht.

    Frage an die Mutter: Habt ihr auch jeweils eine Hochbegabungsdiagnostik gemacht?

    1. Hallo, danke für dein schönes Feedback! Nein, wir haben (bisher) nichts in Richtung Hochbegabung untersuchen lassen. Er kommt super in der Schule klar und die guten Noten kommen fast von allein. Er ist wirklich sehr schlau und wir haben uns schon oft gefragt, ob da „mehr“ hintersteckt. Aber es besteht kein Leidensdruck und es würde letztlich nichts ändern. Außerdem ist die Autismus-Diagnose noch sehr frisch und wir möchten als Familie nun erst mal eine Atempause von der ganzen Diagnostiksache. Daher schließen wir es auch nicht aus, später noch mal Richtung Hochbegabung zu schauen.
      Liebe Grüße!

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