Gastbeitrag: Wie ich nach einer Vergewaltigung zurück ins Leben fand

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Ihr Lieben, unsere Leserin hat vor vielen Jahren etwas erlebt, das bis heute zu ihrem Leben dazu gehört. Sie erzählt hier in einem mutmachenden Brief an ihr 21-jähriges Ich vom Leben danach. Davon, dass dieses einmalige, erniedrigende und verstörende Ereignis zwar immer noch zu ihrem Leben dazugehört, sie aber trotzdem heute ein glückliches Leben führt – mit Ehemann,  erfüllendem Job und tollen Kindern. Trotzdem möchten wir an dieser Stelle eine Trigger-Warnung aussprechen: Falls ihr selbst sexualisierte Gewalt erlebt habt, könnte dieser Text alte Wunden aufbrechen.

Wir danken unserer Leserin für Ihr Vertrauen. Es ist ihr wichtig, mit diesem Text zu zeigen, dass es nach einer solchen Tat nie nur ein Opfer gibt, sondern dass auch das gesamte Umfeld der Person betroffen ist. Es ist ihr wichtig, zu zeigen, welch gravierende Folgen ein solches Verbrechen nach sich trägt, wie es einen fast aus der Bahn wirft. Dabei ist es ihr aber besonders wichtig, zu zeigen, dass der Weg zwar lang, aber nicht unbeschreitbar ist. Mit diesem ergreifenden Brief an ihr 21-jähriges Ich möchte sie sich und anderen Betroffenen Mut machen.

Mein liebes 21-jähriges Ich,

das Allerwichtigste muss ich gleich vorweg schicken, bevor ich ziemlich in die Tiefe gehe, konkret werde und dich konfrontiere: Du trägst keine Schuld. Für nichts von all dem was vor ziemlich genau 20 Jahren passiert ist. Du trägst keine Schuld.

Du. Trägst. Keine. Schuld. Kein bisschen.

20 Jahre, das ist eine lange Zeit und doch manchmal so, als wäre es erst gestern gewesen.

Ich verurteile dich nicht und mache dir keine Vorwürfe. Das war nicht immer so, doch heute habe ich mehr Abstand und bin so viel stärker als noch vor ein paar Jahren.

Du wolltest damals bei ihm nur deine Sachen holen. Ein paar Bücher. CDs.

Du konntest nichts tun, warst überrumpelt und zugleich wie gelähmt, in einer extrem bedrohlichen und ausweglosen Situation, als er völlig unvermittelt seine Finger in deinen dünnen Arm bohrte, dich ins Schlafzimmer zog und er dir mit verzerrtem Gesicht und voller Gewalt deine Hose herunterriss, dich auf sein Bett drückte und sich mit seinem ganzen Gewicht auf dich warf. Du hattest deinen linken braunen Stiefel noch an, der andere lag irgendwo, von ihm nach hinten weggeschmissen, das Bild an der Wand, das du gekauft hattest, hing noch immer leicht schief, in der Musikanlage lief wie eine Inszenierung die CD von Heinz Rudolf Kunze, darunter auch das Lied „Ich brauch dich jetzt“, es kam dir wahnsinnig laut vor, es brüllte sich regelrecht in deinen Ohren fest und wird dich auch künftig nie wieder loslassen.

Es interessierte ihn in keinem einzigen Augenblick, dass du nichts als weg wolltest. Du hast mit aller Kraft gekämpft, wolltest dieser Lage entfliehen, doch deine verzweifelten Versuche, dich zu wehren, schienen ihn nur noch stärker und stärker zu machen. Dein mehrfaches Nein verhallte im Nirgendwo. Seine Hand fand schließlich deinen Hals. Diese Hand, die du früher oft zärtlich gestreichelt hattest, diese Hand, die die deine früher sanft umschloss beim gemeinsamen Spaziergang, drückte dir immer wieder die Kehle zu, du rangst nach Luft, warst in unbeschreiblicher Panik. Zu nichts mehr imstande. Wehrlos. Konntest keinen klaren Gedanken mehr fassen. Hast dich in dem Moment in der Tat schon aufgegeben. Denn der Begriff Todesangst wurde für dich plötzlich tödlich lebendig, so präsent, so wirklich, so nah.

Er verfolgte ein Ziel. Und dabei war es ihm in diesem Moment vollkommen egal, was mit dir ist und wie es dir damit geht. Er wollte dich mit aller Macht und um jeden Preis, er wollte dir zeigen, dass er dich nicht einfach gehen lassen wird. Ohne Rücksicht auf dich.

Du hattest ihn ein halbes Jahr zuvor verlassen, weil er dich betrogen hatte. Mit deiner Schwester. Diese Trennung und Zurückweisung konnte und wollte er nicht akzeptieren oder gar verstehen.

Ganz im Gegenteil: Er nahm sich das, was ihm aus seiner Sicht zustand, was ihm gehörte. Er behandelte dich wie einen beliebigen Gegenstand, ein Stück Dreck, völlig wertlos. So brutal erniedrigend. Brutal. Erniedrigend. Und entwürdigend. Er tat dir weh, so unheimlich weh und zeigte dir, wie unvorstellbar schlimm und widerlich Zweisamkeit sein kann und brachte in diesen wenigen Minuten deine Grundmauern zum Einstürzen. Er erschütterte deine Persönlichkeit. Dich. Nichts war mehr so wie zuvor.

Wenige Minuten, die dir bis heute wie eine gefühlte Ewigkeit vorkommen, haben dein ganzes bisheriges Leben, deine Werte und deine Fröhlichkeit, die so bezeichnend für dich war, in einen einzigen Scherbenhaufen verwandelt. Du wolltest nicht mehr berührt werden, zucktest in den ersten Monaten schon bei den kleinsten, unerwarteten Berührungen erschrocken zusammen.

Er hat dein Ich gebrochen.

Du trägst keine Schuld. Vergiss das nie.

Bis heute hast du keinerlei Erinnerung daran, wie du danach nach Hause gekommen bist. Du musst mit deinem Auto gefahren sein. Du hast funktioniert, irgendwie. Erst daheim wird dir schlagartig bewusst, was dir passiert ist und du kannst die wahre Tragweite dieser Tat doch noch lange nicht erfassen. Du hast dich verkrochen, unter die Bettdecke und fortan auch ganz in dir selbst, hast dich in die Badewanne gelegt und einige Male an diesem Tag geduscht. Bis deine Haut rot brannte. Erfolglos. Die Schmach und die Spuren sollten weg, doch sie sind eingemeißelt in deine Seele, in dein Herz. Äußerlich zunächst noch sichtbar in Form von rotblauen Würgemalen, die du versteckt hast unter einem dicken Schal und vorgegebenen Halsschmerzen. Um nicht reden zu müssen, aber vor allem um deine Lieben zu schützen und sie nicht zu quälen und zu belasten.

Nach Tagen im Bett heilten die sichtbaren Wunden nach und nach ab. Doch der  Schmerz blieb. Und blieb. Und blieb. Unerbittlich. Deine Angst, durch diese Vergewaltigung schwanger geworden sein zu können, raubte dir die letzten deiner doch noch vorhandenen Kräfte. Du hattest Glück. Wie irrsinnig und zugleich einleuchtend das in diesem Zusammenhang klingt, ist unbeschreiblich.

Lange Jahre hast du mit niemandem über das geredet, was er mit dir gemacht hat. Der Tat Worte zu verleihen, sie zu benennen, all deinen Schmerzen eine Stimme zu geben, es auszusprechen und somit dies alles in Form von Worten zu hören, hätte das ganze erneut so wahnsinnig real gemacht. Du hast die Vergewaltigung ganz weit weg geschoben, und gehofft, dass sie irgendwann für immer aus deinem Leben, aus deiner Erinnerung verschwinden wird. Tat sie aber nicht. Hast dir sogar eingeredet und vorgeworfen, mit Schuld zu sein. Wärest du doch bloß nicht zu ihm gefahren. Wegen dieser paar Bücher und CDs.

Doch: Du trägst keine Schuld, hörst du? Egal, wie sehr er sich durch deine Trennung gekränkt oder in seiner Ehre verletzt sah. Es gibt keine Rechtfertigung für eine Vergewaltigung. Keine einzige. Keine. Niemals. Versuche nicht, ihn bzw. seine Beweggründe zu verstehen. Auch wenn das Warum dein ganzes Leben lang in Großbuchstaben in deine Seele eingebrannt bleiben wird. Du wirst keine Antwort erhalten, die dir das Erlebte erklären oder gar erleichtern könnte.

Die kommenden Jahre waren schwer. Die körperlichen Wunden heilten. Doch dein Vertrauen in Menschen hattest du komplett verloren. Der Mensch, der deine erste große Liebe war, mit dem du drei Jahre lang eine innige und schöne Beziehung geführt und mit dem du Zukunftspläne geschmiedet hattest, hat dich so unbeschreiblich enttäuscht, hat dein starkes Fundament zerstört. Aber noch viel, viel schlimmer und am allerschlimmsten überhaupt war, dass du dir selber fortan nicht mehr vertraut hast. Du hast dich mit Fragen und Selbstzweifeln gequält. Hast rückblickend wiederkehrend nach Anzeichen und Hinweisen für eine solche Tat gesucht, aber keine gefunden, denn Gewalt gab es zuvor nie. Hast dir Vorwürfe gemacht, weil du dir wieder und wieder eingeredet hast, doch irgendwie und irgendwann irgendetwas im Vorfeld bemerkt haben zu müssen. Wie solltest du dich zukünftig auf dich selber verlassen und in dich selbst vertrauen, an dich glauben, wenn du dich doch so sehr in einem Menschen, dem du so nahe standest, auf so grausame Weise getäuscht hast?

Es war dir nicht mehr möglich zu vertrauen, lange Zeit. Hast dich ständig in Frage gestellt, dich klein gemacht, deine wundervollen Talente als völlig wertlos angesehen und meterhohe, massive Schutzwälle um dich gebaut. Du hast um dein Vertrauen, deine Unbeschwertheit und deine Fröhlichkeit so unheimlich getrauert, unzählige Tränen geweint, so sehr, dass es Momente gab, in welchen du keine Tränen mehr hattest. Du fühltest dich leer, orientierungslos, verloren. Schwach. Alleine.

Du hast ihn nicht angezeigt, hast dich lange gefragt, ob du das vielleicht hättest tun sollen. Doch ich weiß, er hat dich unter Druck gesetzt, und du hättest das alleine nicht durchgehalten damals. Das ist mir heute klarer denn je, deswegen werfe ich dir deine Entscheidung auch nicht vor, nicht mehr. Im Gegenteil. Das war für dich das einzig richtige und mögliche. Du hast nichts falsch gemacht.

Und nun, 20 Jahre danach, möchte ich dir etwas ganz wichtiges sagen: Sieh dich an. Du hast es geschafft, dir ein wunderschönes Leben aufzubauen. Hast eine wundervolle Familie und liebenswerte Freunde, bist in deinem Traumberuf recht erfolgreich, hast tolle Hobbys. Du hast dir dein herzliches Lachen durch diese ganzen Qualen hindurch bewahrt. Trotz alledem, nein, auch wegen unter anderem alledem bist du zu dem geworden, was du heute bist: So stark. So mutig. So feinfühlig. So empathisch.

Doch stets sehr achtsam.

Er hat dich traumatisiert, doch er hat es nicht geschafft, dich letztlich ganz zu zerstören, weil du wieder aufgestanden bist und gekämpft hast.

Du hast in ganz kleinen, anstrengenden und mühevollen Schritten wieder gelernt, nach vorne zu sehen, ganz wenigen, ausgewählten Menschen Vertrauen zu schenken. Deiner Mama. Deinen Kindern.

Deinem Mann, dem du gleich zu Beginn eurer Beziehung gesagt hast, was damals war. Und deiner  besten Freundin, mit der du darüber geredet hast, als sie in dein Leben trat und der du alles und deine Geschichte wieder und wieder erzählen darfst und kannst und der du genau in diesem Moment diesen Brief vorliest.

Du schleppst deine Steine nun nicht mehr ganz alleine durch die Welt, sondern da sind liebevoll starke Schultern, die dir helfen, die Last zu tragen. Du spürst, dass es leichter wird, ein ganz, ganz kleines Bisschen, immer dann, wenn du davon erzählen kannst und du dabei aufgefangen wirst.

Du wirst dennoch nie aufhören, dir so sehr zu wünschen, dass das damals anders gekommen wäre, wirst dich immer wieder fragen, wie dein Leben verlaufen wäre, wenn du am Tag X nicht zu ihm gefahren wärst. Wir kennen die Antwort nicht.

Deshalb frag dich bzw. mich doch lieber, ob ich stolz auf dich bin, stolz auf dich und uns und darauf, mit welch unbändiger Stärke wir das durchgestanden haben…

Weißt du was? Ja, das bin ich in der Tat und du ahnst nicht mal annähernd, wie sehr.

Foto: pixabay

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3 comments

  1. Gänsehaut und Hochachtung
    Was kann ein Mensch alles tragen… Ich bin überwältigt und habe deinen Brief mehrfach gelesen. Ich denke unbekannterweise an dich und Danke dir dafür, dass du anderen mit deiner Geschichte ganz arg viel Mut machst. Aufgeben ist keine Option. Danke vielmals.

  2. Starker Text!
    Ganz toll geschrieben, ich bin sehr berührt und beeindruckt. Wahnsinn, dass du so stark bist, ich habe großen Respekt! Ich wünsche dir alles Gute für die Zukunft!

  3. Ich muss weinen
    Denn deine letzten Worte sind so schön. Ich freue mich für dich, dass du Menschen hast, die dich auffangen können und dich wertschätzen.
    Ich finde es toll, wie du deinem früheren Ich sagst, dass es keine Schuld trägt, denn das ist wahrscheinlich der Knackpunkt, warum viele sich nicht offenbaren und versuchen zu vergessen und es wird den Opfern ja auch immer eingeredet. Es wäre toll, wenn Anwälte und Richter solche Worte kesen würden, denn so wie du schreibst, kann man sehr gut nachvollziehen, warum du zu niemandem etwas gesagt hast und keine Anzeige erstattet hast.
    Ich wünsche dir weiterhin die Kraft, die du zu haben scheinst

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