Jana Stevens: „Dr. Winterhoff hat meine Kindheit ruiniert“

Betroffene Winterhoff

Ihr Lieben, die Dokumentation im WDR über den Kinderpsychiater Herrn Dr. Winterhoff hat hohe Wellen geschlagen. Nach der Ausstrahlung hat ein erstes Jugendamt die Zusammenarbeit mit ihm beendet, große Kinder- und Jugendhilfeträger überprüfen ihre Zusammenarbeit und sogar eine Strafanzeige ist gegen ihn eingegangen. Gestern schon ließen wir eine Mutter hier im Blog zu Wort kommen, die ihr Kind auch in seiner Behandlung hatte.

Jana Stevens ist eine der ProtagonistInnen in dem Film. Sie wurde selbst in ihrer Zeit im Kinderheim Patientin von Herrn Dr. Winterhoff und bekam vier Jahre lang das Antipsychotikum Pipamperon, dem der Hersteller „sedative“ Wirkung zuschreibt. Jana bekam es morgens, mittags und abends ohne bis dahin je auffällig geworden zu sein. „Nach den Mahlzeiten gingen wir anfangs mit einem Glas Saft, später mit einem Glas Wasser nach vorn und bekamen unter Aufsicht unsere Tabletten“, erinnert sie sich.

Im Film erzählt sie, wie es ihr damit ergangen ist und dass sie gern klagen würde, wenn sie das Geld dafür hätte. Daraufhin wurde ein Spendenpool für sie und weitere Betroffene eingerichtet. Auch bei ihr steht das Telefon seit der Doku nicht mehr still. Uns hat sie ihr letztes Interview gegeben, bevor sie erst einmal in Ruhe alles für sich sortieren möchte, was in den letzten Tagen geschehen ist. Das hier ist ihre Geschichte.

Jana war sechs, als sie für vier Jahre ins Kinderheim kam

In dem Moment, in dem sie noch einmal vor ihrem Kinderheim stand, war für Jana Stevens (heute 20) plötzlich alles wieder da. Mit sechs Jahren war sie hier gegen ihren Willen eingezogen, weil ihr Vater, bei dem sie lebte, krank wurde. Sie war bis dahin ein unauffälliges, ein ganz gewöhnliches Kind gewesen. Mit der Zeit im Kinderheim änderte sich das.

Sie war nun im Rahmen von Dreharbeiten für die derzeit viel beachtete Dokumentation „Warum Kinder keine Tyrannen sind“ von der Kölner Journalistin Nicole Rosenbach hierher, an diesen Ort zurückgekommen – zum „kleinen Muck“, so hieß das Haus, in dem sie gelebt hatte. Als sie die Kinder hinter den Fenstern sah, sah sie plötzlich auch wieder sich vor sich – sich und ihre Vergangenheit.

Hier hatte man damals die Kinder Dr. Winterhoff pro forma vorgestellt. Sein „Behandlungszimmer“ war in Janas erster Erinnerung der Klavierraum des Hauses. Die Kinder hatten vor der Tür Platz genommen, auf der Treppe, und warteten, bis sie einzeln aufgerufen wurden vom Kinderpsychiater. Auch Jana bat er rein. Fragte sie, wie es ihr gehe, was sie mache und wie es in der Schule laufe. Außerdem untersuchte er sie. Fünf bis zehn Minuten dauerte dieses erste Mal, das Jana den Psychiater sah.

Diagnose: „Erheblich gestörtes Mädchen“

Er stufte Jana im Dezember 2007 laut Doku als „erheblich gestörtes Mädchen“ ein. Warum und wie er darauf kam, wurde nicht festgehalten. Aber sie erhielt Pipamperon, ein Medikament, dass laut anderer im Film zur Sprache kommender Mediziner für den Akutfall eingesetzt werden kann, nicht aber für die Dauer von mehreren Jahren.

Im Alter von sieben Jahren hinterfragt Jana das noch nicht. Natürlich nicht. Sie ist ein Kind. Eines, das gern wieder nach Hause will. Mit neun Jahren telefoniert sie einmal weinend mit ihrer Tante, dass sie zurückwill. Der Telefonhörer wird ihr schließlich von einer Betreuerin aus der Hand genommen.

Es gab einige unschöne Begebenheiten im Heim, Strenge. Aber es gab auch schöne Momente, erinnert sich Jana: „Wenn wir ans Meer fuhren, nach Holland oder Rügen, das war schön.“ Trotzdem: Ihr Ziel ist es, wieder mit ihrer Familie in ihrer gewohnten Umgebung zusammenzuwohnen.

Endlich zurück nach Hause… alles anders als gedacht

Nach vier Jahren Heim, als Jana zehn ist, ist es endlich so weit. Ihr Vater ist wieder so gesund, dass sie zu ihm zurückkann. Und obwohl es heißt, ein Medikament wie Pipamperon müsse ganz langsam entwöhnt und „ausgeschlichen“ werden, bekommt Jana von einem auf den anderen Tag keine Tabletten mehr. „Ich war wirklich auf kaltem Entzug, nicht mehr ich selbst“, erinnert sich Jana.

Ihr Vater hatte sich das Wiedersehen so schön vorgestellt, Jana auch. Aber sie wird geplagt von Wutanfällen und Aggressionen. So stark, dass ihr Papa bald aufgibt – und Jana zurück ins Heim kommt. Heute ist sie sicher, dass es ohne die Medikamentengabe von Dr. Winterhoff nicht dazu gekommen wäre.

Erst in ihrer Jugend wird ihr klar, was der Kinderpsychiater ihr angetan hat. Ein Therapeut, bei dem sie sich im Alter von 16 Jahren Hilfe geholt hatte, begab sich mit ihr nochmal auf eine Reise in ihre Kindheit. Er stellte Fragen. Auch zu diesem Medikament, das man ihr offenbar ohne Indikation einfach so verabreicht hatte. Hatte ihr Winterhoff etwa diese Jahre ihrer Kindheit genommen? Indem er sie wie ein müder Roboter ohne Gegenwehr durch die Welt schickte?

Die Wut muss raus: Jana geht an die Öffentlichkeit

Vor zwei Jahren, da war sie grad volljährig, machte Jana ihrer Wut darüber öffentlich Luft. Unter ihrem vollen und echten Namen schrieb sie eine Google-Bewertung zu Herrn Dr. Winterhoff, um andere zu warnen, dass da ihrer Meinung nach etwas nicht mit rechten Dingen zugeht: „Ich gebe Ihnen einen Rat, besuchen sie diesen „Herrn Dr“ nicht. Er hat meine Kindheit ruiniert. Ich lebte in einem Heim, er hat uns allen ohne uns zu kennen Tabletten aufgeschrieben die uns ruhigstellen sollten!! Die nicht einmal für Kinder geeignet waren. Und egal ob sie glauben oder nicht, das macht er noch immer“.

Doch Winterhoff saß weiter in Talkshows, hielt Vorträge, behandelte Kinder und verkaufte Bücher. Machtlos hat sich Jana da gefühlt. Wütend. Dann meldete sich die Journalistin Nicole Rosenbach bei ihr, sie plane eine Dokumentation über die Machenschaften des Herrn Dr. W und sie habe Janas Statement gelesen. Und so kam eins zum anderen.

Häufige Diagnose: Entwicklungsretardierung. Fixierung im kindlichen Narzissmus

Jana erfuhr, dass nicht nur sie, sondern so gut wie alle ProtagonistInnen aus der Dokumentation die quasi gleiche Diagnose und Medikation erhielten. Entwicklungsretardierung. Fixierung im kindlichen Narzissmus. Bei der Krankenkasse habe er zum Teil Anderes abgerechnet, heißt es im Film. Über seine Anwälte lässt Winterhoff schließlich für einen Fall mitteilen, manchmal vertippe man sich auch bei der Eingabe der Diagnosen im Computer.  

Körperliche Spätfolgen hat Jana nicht, aber psychische. Ihr geht das alles sehr nah, durch die Dreharbeiten wurde natürlich nochmal vieles in ihr hochgespült. Lang hat sie sich hilflos und traurig gefühlt. Dann kam sie durch die Doku in Kontakt mit anderen Betroffenen – und trotzdem: Mit diesem riesigen Medien-Echo hat sie nicht gerechnet.

Großer Dank an Jana Stevens für ihren Mut

Hunderte Mails und Nachrichten haben sie nach der Ausstrahlung erreicht. Viele danken ihr für ihren Mut, viele Mütter sind dabei, die ihre Kinder selbst dort in Behandlung haben oder hatten und nun nicht wissen, was sie tun sollen. Jana versucht, so vielen wie möglich zu antworten. Zu helfen.

Weil sie die Hilflosigkeit ja selbst kennt. Wie lang hatte sie sich nicht mehr zum Arzt getraut! Hatte sie Probleme, wieder Vertrauen in andere zu fassen. Hinterfragte viel zu vieles, weil sie eben immer erstmal checken wollte, ob ihr Gegenüber es auch wirklich gut mit ihr meint.

Ihr Antrieb, da jetzt nochmal so intensiv durchzugehen, ist es, andere Kinder davor zu bewahren. Sie will selbst später mal in der Kinder- und Jugendhilfe arbeiten, sie möchte unbedingt, dass nie mehr ein Kind einem System so ausgeliefert ist, wie sie das damals war.

„Bei mir haben sich Betroffene gemeldet, die in den 90ern bereits bei ihm in Behandlung waren“, erzählt Jana, „da war ich noch nicht mal geboren!“ Ihr Leid hätte verhindert werden können, wenn früher mal jemand etwas gesagt hätte… Gar nicht so leicht, das auszuhalten.

„Verzeihen werd ich das nicht können, aber meinen Frieden damit finden“

Wenn ihr heute nochmal alles zu viel wird, hat sie ihre Freundin an der Seite, mit der sie auch in einer WG wohnt. Außerdem ihre engen Freunde, die sie mal in den Arm nehmen. Und außerdem macht es sie trotz der schwachen Momente ab und zu schon auch glücklich, mit ihrem Gang an die Öffentlichkeit vielleicht andere schützen zu können.

Ob sie Winterhoff verzeihen kann? Wohl eher nicht, meint sie. Denn dafür müsste er ja zugeben, was er getan hat, sich Fehler eingestehen, sich entschuldigen. „Das schließe ich bei ihm eigentlich aus“, sagt Jana. Aber ihren Frieden, den wird sie damit schon machen können, hat sie das Gefühl. Indem sie anderen hilft. Indem sie es schafft, dass so etwas nicht wieder passiert. Sie weiß, wie anstrengend das nochmal werden wird, wenn es einen Prozess gegen ihn geben wird. Aber sie tut es für die Kinder, die sie in ihrem alten Heim am Fenster stehen sah. Und ein ganz bisschen auch für die kleine Jana, die sie selbst einmal war.

Wenn ihr Fragen zum Fall habt, selbst betroffen seid, Presse-Artikel zum Thema sucht oder auch spenden mögt: Devi Sabine Krebs, die Mutter von Samuel aus der Reportage und Inke Hummel aus dem Vorstand vom Netzwerk Bindungsträume haben eigens dafür eine Website ins Leben gerufen: https://kindersindkeinetyrannen.de/

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3 comments

  1. Ich bin nach der Doku auch vollkommen geschockt!!
    Vor 15 Jahren war Winterhoff an der Bonner Uni im Pädagogik-Studium bereits Thema. Ich fand ihn immer zu populistisch und null wissenschaftlich, aber dieses Ausmaß ist wirklich unfassbar.

    Wie ein einzelner Mensch so viele, gerade schutzbedürftige (kleine) Kinder und Jugendliche für seine Machtspiele (seinen Narzißmus!!) missbrauchen kann, treibt mir die Tränen in die Augen und macht mich unfassbar wütend!!

    Schade, dass wir nicht das amerikanische Rechtssystem haben, dann würde ihm der finanzielle Ruin drohen und alle Ämter, die dieses Vorgehen über Jahre bzw. Jahrzehnte mitgetragen haben, ebenfalls massiv regresspflichtig.

    Wie ist es möglich, dass Dr. Winterhoff gegen das Einholen einer Zweitmeinung klagen kann und diese Absurdität auch noch gerichtlich gedeckelt wird? Spätestens da hätte doch jedem Laien bewusst werden müssen, dass etwas vertuscht werden soll!!??

    Liebe Jana,
    ich finde es großartig, dass Du durch Deine Stimme den Stein ins Rollen gebracht hast! Ich wünsche Dir ganz viel Kraft alles, was nun vermutlich auch noch auf Dich zukommt, durchzustehen! Du bist eine bewundernswerte, mutige junge Frau!!
    Ich hoffe sehr, dass Herr Winterhoff nicht mehr praktizieren darf!! Traurig, dass so viele Heime und Wohngruppen ihre Schützlinge als Belastung ansehen und diese Machenschaften einsetzen. Ich hatte die stille Hoffnung diese Zeiten seien vorbei.:-(

  2. Als ich die besagte Doku gesehen habe, ist es mir kalt den Rücken runter gelaufen.

    Ich war selbst mit 5 Jahren auf Anraten der Erzieherin im Kindergarten mit meinen Eltern zum Erstgespräch bei Dr. Winterhoff.

    Es verlief genauso wie Jana es hier im Artikel beschrieben hat. Er bat mich allein in sein Behandlungszimmer. Sprach vielleicht 5 Minuten mit mir. Danach bat er meine Eltern herein und ich sollte draußen warte.

    Seine Diagnose nach diesen 5 Minuten Gespräch: schwere narzistische Störung. Ich würde meine Eltern manipulieren und müsste dringend 3 Wochen stationär zu ihm in die Behandlung.

    Ich bin meinem Vater so dankbar, dass er nach dieser Aussage sofort aufstand und seine Sachen packte und wir nie wieder dorthin gegangen sind.

    Um ein Haar bin ich einem Schicksal wie dem von Jana hier entkommen.

    Es tut mir in der Seele weh zu lesen, was dieser Mann Menschen wie Jana genommen hat. Ich habe allergrößte Achtung vor ihrem Mut und ihrer Stärke mit ihrer Geschichte nach draußen zu gehen und sich nicht einschüchtern zu lassen.

    Es ist mir sowieso ein Rätsel wie ein Mensch, der eine so kinder- und menschenfeindliche Ideologie nach draußen trägt, so erfolgreich sein kann.

    Hoffentlich wird diesem „Arzt“ damit endlich das Handwerk gelegt.

    1. Als Krankenschwester erlebe ich gerade die Hölle auf Erden. Mein behinderter Sohn Tilman,durfte wegen des drei Jahre lang nicht bearbeiteten Antrag auf Schulassistenz nicht zur Schule.Alternativen gab es keine. Am 3.12.2020 wurde er per Gerichtsbeschluss ohne Anhörung vom Jugendamt und Polizei abgeholt und in die geschlossene Psychatrie nach Bremen Ost verbracht. Die nunmehr vorliegenden Unterlagen belegen,das er fixiert und zwangsmedikamentisiert wurde und die Beschlüsse auf Zuschliessen der Zimmertür nicht rechtens(rechtswidrig) sind bzw. gar nicht vorhanden. Aktuell weiss ich als mUtter nicht wo Tilman lebt oder ob er noch lebt.https://www.facebook.com/profile.php?id=100015043208325

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