Kinder positiv bestärken: „Ich liebe dich, so wie du bist“

Kinder positiv bestärken

"Ich liebe dich, so wie du bist"

Ihr Lieben, es gibt so so Autoren und Autorinnen, bei denen man jedes Wort aufsaugen möchte. Fabian Grolimund ist so ein Autor (falls ihr sein Buch Erfolgreich lernen mit ADHS und ADS noch nicht habt… schaut bitte mal rein, auch für Nicht-Betroffene einfach augenöfnnend). Nun hat er zusammen mit Stefanie Rietzler ein neues Buch geschrieben, Quintessenz: Kinder positiv bestärken. Es heißt: Ich liebe dich, so wie du bist: Die Gefühle unserer Kinder annehmen, verstehen und liebevoll begleiten. Wir haben die beiden zum Interview gebeten.

Lieber Fabian, liebe Stefanie, „als Eltern dürfen wir lernen, einfühlsam zu bleiben und gleichzeitig unsere Grenzen zu wahren, Nein zu sagen und authentisch zu sein“, schreibt ihr in eurem Buch. Könnt ihr uns mal an einer ganz konkreten Situation beschreiben, wie das gelingen kann?

Vielen Eltern möchten heute gerne auf die Bedürfnisse ihrer Kinder eingehen und Werte wie Gleichwürdigkeit in der Beziehung zu ihrem Kind leben. Aber wenn wir diesen Umgang in unserer eigenen Kindheit nicht erleben durften, fällt uns die Umsetzung schwer. Rasch verwechseln wir dann Einfühlsamkeit mit ständigem Nettsein und hoffen, dass unser Kind schon kooperieren wird, wenn wir ihm alles gut erklären und immer schön ruhig bleiben.

Und wenn das Kind dann trotzdem einen Wutanfall hat, sich die Zähne nicht putzen will oder die Hausaufgaben ständig aufschiebt, reagieren wir frustriert und hilflos, werden plötzlich laut und schimpfen – und fühlen uns danach schrecklich, weil wir gegen unsere Werte verstoßen haben. Den Kindern erscheinen wir Eltern dadurch unberechenbar: Eben hat doch die Mama oder der Papa noch ganz lieb gesäuselt, ob ich mich doch bitte ein wenig beeilen könnte – und jetzt werde ich plötzlich angeschrien!

Und wie kommen wir da raus?

Authentisch zu sein bedeutet für uns, dass wir als Eltern lernen, auch stärker auf unsere eigenen Gefühle und Bedürfnisse zu achten und früh genug registrieren, wenn es uns zu viel wird. Das dürfen wir auch ansprechen und zwar am besten, indem wir bei uns bleiben und von uns sprechen.

Habt ihr da ein Beispiel für uns?

Wir haben beispielsweise vielen Eltern, bei denen die Hausaufgabensituation regelmäßig eskaliert, folgendes empfohlen: Achten Sie auf Ihre Gefühle, wenn Sie Ihr Kind beim Lernen begleiten. Sobald Sie sich zu ärgern beginnen, sagen Sie: «Ich merke, dass ich gerade anfange, mich zu ärgern. Ich möchte nicht, dass wir uns wegen der Hausaufgaben streiten. Ich brauche jetzt eine Pause. Wenn wir uns beide beruhigt haben, machen wir weiter.»

Es ist erstaunlich, bei wie vielen Familien sich die Situation dadurch entspannt hat, weil die Kinder mehr Verantwortung für die Hausaufgaben übernahmen und von sich aus nach ein paar Minuten sagten: «Jetzt können wir weitermachen». Wenn wir unsere Gefühle offen kommunizieren, können unsere Kinder besser einschätzen, was ihr Verhalten in anderen auslöst und auch darauf reagieren.

In Beratungen von Familien ist uns oft aufgefallen, dass gerade Kinder, die oft kritisiert werden und mit denen viel geschimpft wird, mit der Zeit auf Durchzug schalten. Sie blenden die nörgelnden und schimpfenden Eltern und Lehrkräfte einfach aus. Wenn wir deutlich machen, wie wir uns fühlen und was wir brauchen, anstatt dem Kind einfach zu sagen, was es tun oder lassen soll, können wir uns wieder mit ihm verbinden – und werden als Eltern auch eher ernst genommen.

Ihr sagt, „bedingungslose Elternliebe“ würde oft falsch verstanden und missverstanden als laissez-faire. Inwiefern?

Ja. Manche Eltern verstehen bedingungslose Liebe fälschlicherweise so, dass man alles akzeptieren oder gutheißen würde, was das Kind tut – dass es also keine Grenzen und Regeln mehr gibt. Aber das kann und darf nicht unser Ziel sein. Stattdessen versuchen wir, unser Kind auch in schwierigen Situationen anzunehmen, indem wir zugewandt zu bleiben. Wir bleiben mit unserem Kind verbunden und wollen mit ihm ergründen, weshalb es beispielsweise gelogen oder gestohlen hat.

Dazu ein Beispiel: Ein neunjähriges Kind wurde erwischt, wie es in einem Supermarkt eine Superheldenfigur gestohlen hatte. Der Elternteil könnte nun mit dem Kind schimpfen und es mit Hausarrest bestrafen, um ihm zu zeigen, dass es das nie mehr tun darf. Die Mutter dieses Jungen hat aber anders reagiert: Sie setzte sich mit ihrem Sohn aufs Bett und sagte: «Du weißt, dass Stehlen falsch und verboten ist. Ich möchte wissen, warum du es trotzdem getan hast.»

Der Sohn erzählte unter Tränen, dass es sich um eine Mutprobe unter Jungs gehandelt hatte und er sich darauf eingelassen hatte, weil er endlich auch mal Freunde wollte. Die Mutter konnte das sehr gut nachvollziehen, da ihr Sohn bisher kaum Anschluss hatte und sehr darunter litt. Die beiden konnten sich darüber austauschen, wie wichtig es dem Sohn ist, Freunde zu finden – und dass andere das manchmal ausnutzen. Gemeinsam überlegten sie, wie ihr Sohn seine Tat wiedergutmachen könnte und wie er das nächste Mal reagieren könnte, wenn andere ihn unter Druck setzen.

Wir sollten also in Kommunikation bleiben?

Wenn wir ein Kind nur bestrafen, erfahren wir nichts über seine Beweggründe. Wir hoffen dann einfach, dass die Angst vor der Strafe ausreicht, damit das Kind in Zukunft anders handelt. Vielleicht ist der Gruppendruck aber stärker und das Kind wird lediglich geschickter darin, solche Aktionen zu verheimlichen? Auf jeden Fall hat es nicht das Gefühl, dass es in einer Notlage zu uns kommen kann.

Um es ganz deutlich zu sagen: Es geht nicht darum, dem Kind seine Schuldgefühle zu nehmen oder sein Handeln leichtfertig zu entschuldigen. Es ist wichtig, dass wir ihm zeigen: Ja, du fühlst dich schuldig, weil du etwas Unrechtes getan hast. Du kannst das aber wieder gutmachen und ich bin an deiner Seite und helfe dir dabei. Und wenn du das nächste Mal in solch einer Zwickmühle steckst, dann kannst zu mir kommen und findest ein offenes Ohr.

In Familien knallt es schon mal, da kann es beizeiten richtig heiß hergehen. Wie können wir unsere Kinder gut durch ihre Wut begleiten?

Damit Kinder lernen können, mit ihrer Wut konstruktiv umzugehen, brauchen sie Bezugspersonen, die sich in sie einfühlen, diese Emotion mit ihnen gemeinsam aushalten und mit ihnen Wege finden, um sich zu beruhigen. Das ist für die meisten Eltern aber unheimlich schwierig und wird uns nicht immer gelingen. Viel zu schnell lässt man sich von den Gefühlsstürmen der Kinder mitreißen, wird selbst laut oder patzig oder fühlt sich schlichtweg mit der Situation überfordert, weil man das Kind nicht «beruhigen» kann.

Das liegt einerseits daran, dass die Energietanks vieler Eltern aufgrund der vielfältigen Anforderungen in Familie, Haushalt und Beruf heute chronisch leer sind und ihnen oftmals die Kraft fehlt, um in hitzigen Situationen ruhig und zugewandt zu bleiben.

Auf der anderen Seite haben die wenigsten Menschen in ihrer eigenen Kindheit erfahren dürfen, wie man einen gesunden Umgang mit Wut findet! Unsere heutige Elterngeneration hat früher vielfach erlebt, dass Wut unterdrückt werden musste: «Jetzt ist Schluss! Hör auf mit diesem Theater! Du gehst jetzt auf dein Zimmer, bis du zur Vernunft gekommen bist! Das ist kein Grund, gleich wütend zu werden! Bist du eigentlich noch ein kleines Baby, dass du so tust?»

Diese Prägung führt dazu, dass wir Trotz, Zorn und Ärger unserer eigenen Kinder nur schwer aushalten können. Schließlich hätten wir uns selbst früher nie getraut, uns so zu zeigen! Dazu kommt, dass den meisten Menschen gute Vorbilder fehlen: vielleicht erlebte man den eigenen Vater als cholerisch und verbindet Wut daher mit Bedrohung. In diesem Fall kommen die alten Gefühle von Panik oder Ohnmacht plötzlich wieder hoch, wenn das eigene Kind ausrastet.

Oder man hatte eine Mutter, die jeglichen Frust in sich hineinfraß und einen mit Liebesentzug strafte, anstatt offen zu kommunizieren, was sie störte. Dann hat man gelernt, dass man geliebte Menschen möglichst schnell wieder besänftigen und zufriedenstellen muss, um ihre Zuwendung nicht zu verlieren. Die Wut des eigenen Kindes kann dieses Muster wieder aktivieren. Wenn wir aber möchten, dass Kinder ihre Wut aushalten können und langfristig so mit dem Gefühl umgehen können, dass sie sich selbst und anderen nicht schaden, dann müssen wir selbst lernen, diese Emotion auszuhalten und zu halten.

In eurem Buch gibt es sogar eine Liebeserklärung an die Wut…

Ja – weil Wut zu Unrecht als ein verpöntes und negatives Gefühl angesehen wird. Das Problematische an der Wut ist nicht das Gefühl an sich, sondern wenn sie destruktiv ausgedrückt wird: In Aggressionen gegen andere oder gegen sich selbst. Wut ist aber ein wichtiges Signal unserer Psyche und essentiell für unser Wohlbefinden. Sie zeigt an, wenn eigene Bedürfnisse übergangen und Grenzen verletzt werden, uns jemand schaden oder an einem wichtigen Ziel hindern möchte. Sie aktiviert uns und treibt und zu Veränderungen an!

Wer aber lernen musste, dieses Gefühl zu unterdrücken, bleibt auf der Strecke: weiß selbst irgendwann nicht mehr, was er will oder braucht, bleibt zu lange in toxischen Liebesbeziehungen oder Arbeitsumfeldern stecken, traut sich nicht, Nein zu sagen und für sich einzustehen, ist anfälliger für viele Krankheiten und stirbt im Durchschnitt sogar früher.

Kinder, denen man beispielsweise durch Liebesentzug «abtrainiert hat», ihre Wut zu äußern, wirken nach außen hin oft sehr nett, angepasst und wohlerzogen. Welchen Preis die Kinder dafür zahlen müssen, wird erst später deutlich. Viele Erwachsene benötigen eine Psychotherapie, um überhaupt wieder in Kontakt mit den eigenen Gefühlen zu kommen und sich selbst und ihre Bedürfnisse ernstzunehmen.

Wie schaffen wir es als Eltern selbst, nicht laut oder patzig zu werden, wenn wir uns hilflos und verletzt fühlen? Provokant gefragt: Ist es da nicht sogar authentisch, auch mal wütend zu sein?

Wenn wir unseren Kindern ihre Wut zugestehen, dürfen wir sie uns auch selbst zugestehen. Dann gilt für alle in der Familie das Gleiche: Wir wollen lernen, dieses Gefühl so auszudrücken, dass es anderen nicht schadet. Die Kinder dürfen lernen, nicht zu schlagen oder zu beißen, die Eltern, ihre Kinder nicht einzuschüchtern und auf Schreien oder Schlagen zu verzichten.

Was, wenn meine Eltern mich selbst nicht gut durch Wut-Phasen begleitet haben? Wie kann ich Muster durchbrechen und lernen, bei meinen eigenen Kindern besser damit umgehen zu können?

In unserem Buch stellen wir verschiedene Wege vor, um uns selbst besser zu regulieren: Zum einen fragen wir uns, wie wir im Alltag besser für uns selbst und unsere Bedürfnisse sorgen können, damit wir nicht permanent in den roten Bereich rutschen. Vor allem aber richten wir den Blick auf unsere eigenen Gefühle und Prägungen. So kann man beispielsweise eine Situation, in der man wütend wurde, im Nachhinein unter der Lupe betrachten: Was ist genau passiert? Was habe ich gefühlt? Was ging mir durch den Kopf?

Dabei merkt man vielleicht, dass bestimmte Gedanken immer wieder aufploppen: «Mein Kind hat keinen Respekt vor mir und hört überhaupt nicht!», «Du kannst dir das nicht gefallen lassen!», «Meine Kinder sind so undankbar…», «Ich opfere mich hier auf und das ist jetzt der Dank?!», «Macht sie das mit Absicht?!». Solche Gedanken können wir auf Herz und Nieren prüfen und stellen dabei oft fest, dass sie nicht der Realität entsprechen. Wenn es uns gelingt, neue Überzeugungen aufzubauen und Situationen aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, können wir gelassener bleiben.

Wie können wir das bei einem öffentlichen Wutanfall zum Beispiel?

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Wirft sich ein zweijähriges Kind im Einkaufszentrum auf den Boden, weil es unbedingt etwas will, werden wir wütend, wenn wir denken: «Immer macht er sowas! So peinlich! Alle starren uns an! Warum kann er sich nie zusammenreißen? Ich darf ihn nicht gewinnen lassen!». Wir könnten uns aber auch bewusst machen, dass es ganz normal ist, dass ein Kind in diesem Alter etwas unbedingt möchte. Und dass es ihm noch nicht gelingt, seine Wünsche aufzuschieben, indem es sich sagt: «Vielleicht bekomme ich die Süßigkeit nächste Woche, solange kann ich ja noch warten.»

Wir könnten zu uns selbst sagen: «Ich darf Nein sagen – und mein Kind darf wütend sein. Das ist völlig normal. Andere Eltern erleben das auch – und wenn jemand deswegen doof gucken muss, dann soll sie oder er das halt machen – mein Kind ist jetzt wichtiger als irgendwelche Fremden.» Wir können das schreiende Kind dann einfach in den Arm nehmen und trösten, falls es das zulässt.

Ihr möchtet Kinder positiv bestärken, plädiert für einen konstruktiven Umgang mit ihnen und gebt ganz konkrete Tipps, etwa, wenn ein Kind ein anderes schubst. Dann sagen wir oft: „Hey, es wird nicht geschubst“, dabei wäre ein „Sag deinem Nachbarkind `Lass mir Platz`“ viel nachhaltiger und zielführender, weil es Alternativen aufzeigt… welche weiteren Tipps habt ihr im Gepäck?

Die meisten Erwachsenen finden es wichtig, Kindern und Jugendlichen die Konsequenzen ihres Verhaltens aufzuzeigen. Leider hat man dabei oft nur das Negative im Blick. Dabei lernen Kinder viel schneller, wenn wir sie auf positive Modelle und Zusammenhänge hinweisen. Wir könnten beispielsweise sagen:

  • Hast du bemerkt, wie sich Lisa gefreut hat, als du mit ihr geteilt hast?
  • Ich habe vorhin gesehen, dass du Benni gefragt hast, ob er bei euch mitspielen will. Er hat ganz erleichtert gewirkt – ich glaube, er hat sich nicht getraut, euch zu fragen.
  • Das (Nintendo-) Spiel erscheint in fünf Monaten? Rechne doch mal aus, ob du es dir kaufen kannst, wenn du dein Taschengeld bis dahin sparst.
  • Danke, dass ihr die Knete wieder weggeräumt habt. Wenn ihr sie nach dem Spielen wieder in den Bechern verschließt, trocknet sie nicht aus.

Studien haben beispielsweise gezeigt, dass Schüler/innen unmotivierter waren und das Lernen als weniger sinnvoll einstuften, wenn ihre Lehrkräfte sie oft auf negative Folgen hinwiesen wie: «Wenn du dich jetzt nicht anstrengst, schaffst du das Jahr nicht!» oder «Mit so einem schlechten Zeugnis wirst du es schwer haben, eine Lehrstelle zu finden.».

Sie waren hingegen motivierter, wenn dieselben Zusammenhänge positiv dargestellt wurden: «Ich glaube, wenn du dich auf die letzten Prüfungen in diesem Semester gut vorbereitest, könntest du es schaffen, auf einen genügenden Schnitt zu kommen.» oder «Jede halbe Note, um die du dich jetzt noch steigerst, hilft dir bei der Suche nach einer Lehrstelle.» Rein auf der Sachebene mag beides dasselbe bedeuten: Allerdings empfinden wir ersteres als Drohung, während wir im zweiten Fall das Gefühl haben, dass die andere Person an uns interessiert ist, uns etwas zutraut und uns unterstützen möchte. Viele weitere Möglichkeiten stellen wir im Buch vor.

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1 comment

  1. WOW! Ein Interview mit meinen Lieblings-Super-Duper-Experten/Pädagogen! Schön, dass ihr dies scheinbar ebenso seht. Wir lieben ihre Bücher. So viele schöne, tiefsinnige Gespräche, die wir dadurch geführt haben (wir lesen die Kinderbücher grundsätzlich gemeinsam), Weisheiten die Mut schenken, die stärken, wissenschaftlich fundierte, pragmatische Tipps, Autoren die niemals mit dem Finger auf andere zeigen,… Mit jedem Wort, das die beiden schreiben, spürt man die Liebe zu Kindern, Eltern und Lehrern und den Wunsch, dass es uns allen gut geht. Gäbe es mehr Menschen wie diese beiden, die Welt wäre eine bessere.

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