Mythos Mutterinstinkt: Warum wir uns von ihm verabschieden sollten

Mutterinstinkt

Ihr Lieben, heute haben wir einen wunderbaren Artikel zum vielbeschriebenen Mutterinstinkt. Die Autorin Annika Rösler sagt: „Der Mutterinstinkt klingt wahnsinnig plausibel, nach einem Bild inniger Liebe gepaart mit irrer Kompetenz. Der einzige Haken: Es gibt ihn nicht. Und das ist eigentlich ein Grund zum Jubeln! Denn die Erzählung vom Instinkt produziert unglaublich hohe Ansprüche an Mütter – und spart all jene aus, die Sorge für ein Kind tragen, ohne es geboren zu haben.“ Dass Elternschaft einfach krass ist, nie eindimensional, das versuchen wir hier jeden Tag zu zeigen. Und dazu passt dieser wunderschöne Brief. Vielen Dank dafür.

Mutterinstinkt

Normalerweise verfasse ich allen meinen drei Kindern zu ihren Geburtstagen einen Brief. In das Kuvert stecke ich dann immer noch ein paar Fotos des jeweiligen Jahres und verstaue alles gut, um ihnen irgendwann, wenn sie erwachsen sind, feierlich einen Stapel Briefe zu überreichen. So der Plan.

Zu Beginn rechtfertigte ich damit all diese liebevollen Fotobücher, die bis heute nur als beleidigter Punkt auf meiner To-do Liste zurückblieben. Mittlerweile sind diese Briefe aber auch Selbsttherapie. Heute schreibe ich ihnen – außerplanmäßig zum Muttertag – einen Brief. Einer, der längst überfällig ist. 

Meine wunderbaren Kinder,

ihr seid das Beste, was mir je passiert ist. Der Inbegriff von Superlativen. Ich habe noch nie so geliebt zuvor, habe mich noch nie so intensiv und von Herzen um einen Menschen gekümmert, vermutlich war ich auch noch nie so glücklich. Aber eines ist klar, ich war ganz sicher auch noch nie so verzweifelt, noch nie so wütend, noch nie so gelangweilt und vielleicht auch noch nie so unglücklich. In euren kleinen Händen haltet ihr die Lupe meiner Gefühle, die ihr unerschrocken und mit unverdorbener Selbstverständlichkeit tagtäglich auf mein offenes Herz legt.

Vor elf Jahren hast du, meine Große, mich zum ersten Mal zur Mutter gemacht. Ich habe mich damals reichlich naiv in eine wilde Achterbahn gesetzt mit dem einigermaßen verrückten Gedanken: »Wird schon alles gut werden, ich vertraue mir und meinen Mutterinstinkten«. Tja, was soll ich sagen? Dieser Trip wurde für mich zur wildesten Achterbahn meines Lebens. Nicht selten warf es mich mit Karacho aus der Kurve. Instinkte halfen mir nur bedingt, um in der Spur zu bleiben. Und wenn, dann war es der pure Überlebensinstinkt.

Tatsächlich wusste ich nämlich vor allem bei dir, meiner Erstgeborenen, reichlich wenig darüber, wie das Muttersein funktionierte. Und als ich den ganzen Baby- und Kleinkindkram annähernd beherrschte, profitierten zwar deine zwei kleinen Brüder von einer relativ gelassenen Mutter, die vieles im Griff hatte. Du aber musstest dich weiterhin täglich mit einer ziemlich unerfahrenen und ungelernten Auszubildenden herumschlagen. Denn jeder einzelne deiner Wachstumsschübe war in gewisser Weise nun mal eben auch meiner. Oh je, Mama wächst!

Wie mich das Muttersein veränderte!

Ich hatte auch nicht die geringste Vorstellung davon, was ich für ein Mensch werden würde. Denn mein kinderloses Ich ging einfach davon aus, ich bliebe Annika. Eben die Annika mit Kind. Für mich war es ein langer und mitunter schmerzhafter Prozess zu verstehen, dass dem nicht so ist. Dass die Entscheidung, Kinder zu bekommen, auch immer ein Abschied bedeutet. Und der darf weh tun.

Ich würde mich auch nach unseren schlaflosesten Nächten und den schlimmsten Streits immer wieder dazu entscheiden, eure Mama zu werden. Aber ich würde es als das betrachten, was es ist. Als eine riesige Herausforderung. Die größte Liebe und zugleich der größte Schmerz. Verzweiflung und Glück. Verlust und Wiederfinden. Elternschaft ist der Inbegriff von Gleichzeitigkeiten. Lange Zeit habe ich mich dagegen gewehrt.

Ich wollte euch die »gute Mutter« sein, die ihr so sehr verdient habt. Ich wollte mich aufopfern, der unerschütterliche Fels in eurer tosenden Brandung sein und zu jeder Zeit bedingungslos lieben. Ich wollte immer wissen, was zu tun ist, denn schließlich wurde ich als Frau ja schon zur Mutter geboren, oder nicht? Ich plante, euch zu jeder Zeit fair und stets gleich zu behandeln. Tja, wir wissen alle um das Scheitern dieses noblen Vorsatzes. Und wisst ihr was? Das ist okay.

Der Mutterinstinkt ist ein Mythos

Denn der Mutterinstinkt, der Frauen zu Superheldinnen macht, ist ein Mythos. Die »gute Mutter« gibt es nicht. Und ich garantiere euch, selbst Annette Klawitter lässt auch mal einen wütenden Brüller los, wenn Conni in der Küche expansiv Pizza backt oder Spitzenvater Jürgen morgens zur Arbeit aufbricht, während Annette abwechselnd zwei Kindern die Kotzschüssel hält und gleichzeitig versucht, eine Mail an ihre Chefin zu schreiben. Oder an ihre Therapeutin.

Elternschaft ist eine Entwicklungsphase, ähnlich wie die Pubertät. Und dies bestätigt nun endlich auch die Hirnforschung. Darüber habe ich die letzten zwei Jahre mit meiner Freundin Evelyn ein Buch geschrieben. Ihr wisst schon, immer dann, wenn Mama über ihrem Laptop brütete, wenig ansprechbar war, manchmal patzige oder auch gar keine Antworten gab. Weil Arbeit und Familie für Frauen heute noch immer kaum zu vereinen sind, zumindest wenn wir den Superheldinnenumhang ablegen. Und das tun wir alle irgendwann einmal. Viele Frauen allerdings erst in der absoluten Erschöpfung. Was bleibt sind dann Gefühle von Schuld und Versagen. 

Das Leben ist voller Grau-Töne

Warum schreibe ich euch das alles? Weil es im Leben nicht nur Schwarz oder Weiß gibt. Ich liebe euch so sehr, dass es weh tut und manchmal brauche ich trotzdem sehnlichst meine Ruhe. Weil sonst alles in mir brennt. Auch wenn das für euch durchaus in den unpassendsten Momenten sein mag und vielleicht auch oft nicht fair erscheint. Ich will immer euer Bestes, aber manchmal habe ich wirklich nicht den blassesten Schimmer, was denn genau dieses Beste sein mag.

Dir, meiner Tochter, wünsche ich, dass du Familie später anders leben darfst. Dass die Gesellschaft dich nicht mehr für die »Kümmerin aus Liebe« hält, nur weil du eine Frau bist. Ich wünsche mir, dass du eine Wahl hast. Vielleicht willst du keine Kinder.

Vielleicht willst du nach wenigen Monaten (trotz Stillen) wieder zurück in deinen geliebten Job. Oder du möchtest länger als das gesellschaftskonforme Jahr zu Hause bei den Kindern bleiben, weil es sich richtig für dich anfühlt. Dann sollst du das dürfen. Und zwar ohne gesellschaftliches Lästern hinter vorgehaltener Hand oder offensichtliche finanzielle Bestrafungen. Weder in jungen Jahren, noch im Alter. Es gibt nicht die Mutter oder die Frauen. Wir sind alle grundverschieden, und das ist wundervoll. 

Söhne müssen nicht stark sein

Euch, meinen Söhnen, wünsche ich, euch selbst finden zu dürfen und das dann auch zu sein. Ihr müsst nicht stark sein und nichts beweisen. Weint, was eure Tränenkanäle hergeben, wenn es euch schlecht geht oder ihr gerührt seid. Wachst über euch und alle engen Stereotype hinaus, wenn ihr euch danach fühlt. Seid laut, seid leise. Tragt den blauen oder den rosa Pullover. Und solltet ihr später selber Väter sein, nehmt so viel Elternzeit wie es nur geht. Das ist harte Arbeit und wundervoll zugleich. Diese Zeit wird auch euer Gehirn verändern, so dass ihr euch bestmöglich um diese kleinen Menschlein kümmern könnt. 

Ich wünsche euch und allen Kindern eine Gesellschaft, die den Mythos Mutterinstinkt endlich begräbt zum Wohle aller Menschen.  Die versteht, dass Elternschaft ein Learning-by-doing ist und Schwangerschaft und Geburt nur das Warm-up sind. Dass alle, jedweden Geschlechts, ob gebärende Eltern oder nicht, Training brauchen. Und das geschieht auf wundervolle Art und Weise und ohne schweißtreibendes Sportprogramm: Eltern brauchen Zeit, um mit dem Baby zu kuscheln, zu singen, es zu streicheln, zu tragen. Zeit, um sich reinzulieben. Und ein Umfeld, das ihnen genau das ermöglicht. Zum Wohle aller Menschen.

Meine lieben Kinder, ich lege nun meinen Superheldinnen-Umhang ab. Verzeiht mir all meine Fehler, ich werde noch so einige machen. Ich werde straucheln, zweifeln, euch anzählen, mit hilflosen Wenn-dann-Phrasen um mich hauen. Aber ich bin gewillt zu lernen. Jeden einzelnen Tag aufs Neue. Ihr seid die besten Lehrerinnen und Lehrer, lasst euch das von keinem Erwachsenen ausreden.

In Liebe,

eure Mama


Mutterinstinkt

Mehr dazu in ihrem Buch »Mythos Mutterinstinkt« von Annika Rösler und Evelyn Höllrigl Tschaikner. Dieses Buch erzählt von bahnbrechenden Forschungsergebnissen, die Elternschaft in einem ganz neuen Licht erscheinen lassen. Dabei räumt es mit einem historischen Mythos auf: Es zeigt, wie es zur Erfindung des Mutterinstinkts kam. Wem es nützt, wenn wir an ihn glauben. Und welche Freiheit wir gewinnen, wenn wir uns endlich von ihm verabschieden.

HIER könnt ihr das Buch bestellen!

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2 comments

  1. So ein wundervoller Beitrag!So soo schön! Vielen lieben Dank für diesen ehrlichen, herzerwärmenden Artikel, der auch mein Inneres offenbart und Mut macht, eine „echte Mama“ sein zu dürfen und nicht eine „perfekte!“
    Ganz liebe Grüße!

  2. Liebe Annika,

    Es schön dass du verstanden hast was eine gute Mama ist, Nämlich eine , die authentisch ist. Zu jeder Tages- und Nachtzeit. Die weinen, schreien, lachen, lieben, egoistisch und aufopfernd , steitlustig, lebensfroh,manchmal ungerecht .. alles sein darf. Die einfach sie selber ist, mit all Ihren widersprüchlichen Emotionen. Insofern gibt es für mich schon eine „gute Mama“ – indem wir uns einfach von Anfang an nicht vor den Kindern verstellen. Einfach in uns ruhen und wir selber sind. Natürlich sollten dabei die Kinder möglichst nicht psychisch oder physisch leiden, aber das habe ich jetzt mal grundvorausgesetzt, das eh jede und jeder hier sein Bestes versucht.
    lg

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