Ihr Lieben, vor drei Jahren haben wir mit Kim über ihre Tochter Emma gesprochen. Emma war damals 15 Jahre alt und lebte seit ihrem 9. Lebensjahr nicht mehr zu Hause. Emma war sehr aggressiv und die Familie konnte die Wutanfälle irgendwann nicht mehr händeln. Kim sagte damals: „Als ich den Film Systemsprenger gesehen habe, musste ich so viel weinen. Mir kam so vieles bekannt vor. Ich konnte auch die Mutter aus dem Film verstehen. Diese Ohnmacht, diese Angst vor der nächsten Aggression, die kenne ich auch.“
Im letzten Interview erzählte uns Kim sehr ehrlich, wie schwer es war, ihre Tochter ausziehen zu lassen, wie sehr das alles mit Scham behaftet ist und dass sie sich selbst oft große Vorwürfe macht. (Das ganze Interview könnt ihr HIER nachlesen). Wir wollten wissen, wie es der Familie heute geht und haben um ein Update gebeten.
Liebe Kim, bei unserem letzten Interview war deine Tochter 15 Jahre alt, heute ist sie volljährig. Was hat diese Volljährigkeit mit dir emotional gemacht?
Emmas Volljährigkeit war und ist für mich mit ganz viel „Aufs und Abs“ verbunden. Es ist ja ganz klar, dass aus Kindern große Kinder, Erwachsene werden. Aber bei Emma ist es für uns natürlich nochmal wieder etwas Besonderes. Sie sagt selber, sie ist jetzt erwachsen und lässt uns nicht mehr an allem so teilhaben. Das schmerzt manchmal, manchmal erfüllt es einen auch ein bisschen mit Sorge. Wird es alles gut klappen? Hat sie ihr Diabetes gut im Griff? Wie wird es weitergehen? Emma ist inzwischen sogar schon 19 und ich bin in dem Jahr ein bisschen ruhiger geworden. Aber eine kleine Sorge bleibt immer…
Beim letzten Interview hat Emma noch in einer WG mit 6 anderen Jugendlichen gewohnt, was ihr gut tat. Wohnt sie dort noch?
Emma wohnt noch immer in der WG und bleibt auch noch bis mindestens nächstes Jahr dort. Die Maßnahme wurde vom Jugendamt verlängert, da sie ansonsten die WG mit 18 Jahren hätte verlassen können bzw. müssen. Aber da sie jetzt gerade erst das Abitur macht und ab Sommer ein FSJ in der Region starten wird, kann sie noch weiterhin dort bleiben.
Wir finden es gut und sind sehr dankbar. Wir haben auch weiterhin Kontakt, treffen uns. Sie kommt nicht mehr ständig nach Hause, aber es ist okay. Wir treffen uns auch gerne mal an neutralen Orten, in Städten in der Umgebung. Das ist für uns völlig okay.
Wie geht es Emma ganz generell?
Emma geht es gut. Sie hat jetzt ihre Prüfungen hinter sich. Ob sie das Abitur geschafft hat, weiß sie noch nicht. Die mündliche Prüfung in einem Fach war für sie leider nicht so gut. Für uns ist es nicht so wichtig, ob sie das Abitur geschafft hat. Sie hat ihr Bestes gegeben und wir wollen nur, dass es ihr gut geht.
Sie hat sich auch von dem Freund getrennt, den sie noch beim letzten Interview hatte. Dieser Freund tat ihr nicht gut, hatte starke narzisstische Züge, das hat sie psychisch sehr schwer belastet. Danach hatte sie nochmal einen Freund, aber das war auch nicht wirklich gut. Jetzt genießt sie wieder ihr Singleleben und die damit verbundene Freiheit.
Emma startet im Sommer ein FSJ in einer Förderschule und freut sich sehr darauf. Vielleicht wird sie dann eine Ausbildung in der Heilerziehungspflege machen oder etwas ganz anderes, z.B. im Handwerk. Sie ist sich noch nicht ganz sicher.
Ihr habt gerade eine ganze Reihe von Testungen hinter euch. Magst du mehr darüber erzählen?
Es war ja immer die Frage, ob die Diagnose „Bindungsstörung“ wirklich die Richtige ist. Ich habe schon früh gesagt, dass ich bei Emma eigentlich an einen Asperger Autismus oder ADS denke. Man hat uns nie geglaubt, alles in Frage gestellt. Nun hat die Therapeutin, die Emma schon seit einiger Zeit besucht, noch einmal eine Diagnostik angeregt. Und dafür bin ich sehe dankbar, denn jetzt haben wir die Diagnosen bekommen: Asperger Autismus, ADS, Angststörung, PTBS und eine damit verbunden Depression.
Harte Diagnosen, aber jetzt weiß man, wo man ansetzen kann. Diesbezüglich sollte Emma auch gut über ihre Berufswahl nachdenken. Sie wird weiter daran arbeiten und evtl. auch noch einmal einen stationären Aufenthalt in Erwägung ziehen.
Welche Konsequenten haben diese Diagnosen und was machen sie emotional mit euch?
Ganz ehrlich trafen mich die Diagnosen wie ein Schlag ins Gesicht. Wir wissen jetzt, was mit Emma los ist, aber es tat so weh zu wissen, dass ihr all die Jahre große Last auferlegt wurde, weil man sie nie richtig behandelt hat.
Schon in der Grundschule gab es große Probleme und niemand konnte uns sagen, wie man adäquat damit umgeht. Ihre Ausraster waren Meltdowns… soviel wissen wir jetzt. Das Jugendamt hat uns unterstellt, wir würden Emma kranker machen als sie ist, aber nun wissen wir, dass ihr da großes Unrecht zuteil wurde und mit entsprechender Hilfe ihr Weg vielleicht ein anderer gewesen wäre.
Vielleicht hätte sie mit entsprechender Unterstützung und Hilfe bei uns zu Hause aufwachsen können. Diese Erkenntnis tut sehr weh. Manch denke ich: „Wenn wir nur noch hartnäckiger gewesen wären…“ Aber nun ist wichtig, nach vorne zu schauen.
Reflektiert Emma manchmal, wie schwer ihre Kindheit und Jugend für die Geschwister und euch war?
Wir als Ehepaar sprechen da oft drüber. Mit den Geschwistern fangen wir jetzt an, über Emmas Diagnosen zu sprechen. Sie sollten natürlich wissen, was mit Emma ist und warum sie früher so reagiert hat. Ein Aufarbeiten startet jetzt so ganz langsam. Da aber alle Kinder „groß“ und eigentlich nur noch unser Sohn bei uns zu Hause lebt, wird es eine längere Reise werden.
Emma reflektiert ihr Verhalten leider noch nicht so wirklich richtig. Sie versucht, ein gutes Verhältnis zu den Geschwistern zu halten, was ihr allerdings nicht immer gelingt. Gerade mit ihrem Bruder verbindet sie noch immer ein gewisses Konkurrenzgefühl, welches sie auch manchmal noch sehr stark einholt und dann auch stark rausbricht. Leider konnten wir das noch nicht bearbeiten.
Ob sie dieses Konkurrenzverhalten je ablegen kann, wird die Zeit zeigen. Wir haben nie Unterschiede zwischen den Kindern gemacht, sie fühlt es aber so und das hat sich eingebrannt in ihre Seele. Zu den Schwestern hat sie ein gutes, aber auch lockeres Verhältnis.
Wie geht es euch als Ehepaar mittlerweile?
Uns geht es als Ehepaar relativ gut. Wir ziehen an einem Strang und das ist wichtig. Wir lassen Emma den nötigen Abstand, wenn sie ihn wünscht. Aber sie weiß auch, dass immer eine Tür bei uns als Eltern offen ist. Wir können uns als Paar gut auf uns selbst konzentrieren. Ich konnte eine Weiterbildung zur Fachkraft für Inklusion und Integration starten, da ich jetzt die nötige Zeit und Konzentration dafür habe.
Im letzten Interview hast du erzählt, dass du oft denkst, ihr habt was falsch gemacht oder du dich auch schämst – wie geht es dir heute mit diesen Gefühlen?
Diese Gefühle von Scham und Schuld übernommen mich auch heute noch oft. Ich erzähle nicht jedem, dass Emma nicht bei uns lebt. Und wenn, dann versuche ich es immer zu rechtfertigen. Ich glaube, das wird sich auch nie verändern.
Wahrscheinlich muss auch ich daran arbeiten, das alles aufarbeiten, aber dafür fehlt mir noch die Kraft. Tröstlich in diesen Momenten ist für mich zu wissen, dass es ihr in der jetzigen WG gut geht und man sich um sie kümmert. Sie fühlt sich dort wohl, bleibt ja sogar noch über ihre Volljährigkeit hinaus dort wohnen. Das gibt mir dann wieder ein bisschen Ruhe.
Was hast du in den letzten drei Jahren gelernt?
Ich habe gelernt, Emma loszulassen. Sie ist inzwischen zu einer jungen Frau geworden und durch ihre Volljährigkeit entscheidet sie die Dinge selber. Manchmal ist es hart ruhig zu bleiben, gerade wenn man wieder mitbekommt, dass ihr Blutzucker-Wert alles andere als gut ist. Aber sie ist für sich selbst verantwortlich und muss lernen, alleine zu entscheiden. Ich muss mich nicht mehr um alles kümmern, das nimmt mir natürlich auch eine gewisse Last von den Schultern.
Was möchtest du Eltern sagen, die Ähnliches erleben wie ihr vor 10 Jahren?
Auf alle Fälle niemals aufgeben! Und auf eine gute und verlässliche Diagnostik drängen. Wir sehen jetzt, wie wichtig es für uns alle gewesen wäre. Wenn man erkennt, dass es zu Hause nicht mehr geht und ein Kind in einer stationären Einrichtung besser aufgehoben wäre, bitte mitbestimmen und sich niemals vom Jugendamt einschüchtern lassen!
Wenn das Kind dann woanders lebt, keine Angst und Schuldgefühle haben. Diese Schuldgefühle fressen einen auf, rauben einem jegliche Kraft. Diese Kraft sollte man lieber in die Situation stecken, also im Hinblick auf eine mögliche Rückführung oder eben eine gesunde Beziehung zu dem Kind. Diese Stabilität der Eltern ist für die Kinder sehr wichtig. Und bitte niemals sein Kind aufgeben, egal, wie der Weg sich gestaltet.
1 comment
Moin, ich laß diesen Text recht kritisch. versuche nicht zu werten, Merke jedoch, dass ich dies nicht wirklich schaffe. vielleicht weil ich mich sehr getriggert fühle?
Ich selbst wuchs belastet auf, ich wollte zuhaus raus- das ist also etwas was ich sagen kann, ich wurde durch Lüge und Strafe zuhaus gehalten. das wird euch euer Kind nie anlasten können. Ja, da hat sie es besser.
Allerdings, heute Mutter zweier Kinder mit großem Versorgungsaufwand – und ich bin übrigens in einem Gesundheitsberuf gelandet, weiss ich noch etwas- wenn einem das Bauchgefühl etwas sagt, dann geht man diesen Weg weiter.
Wer hat dich persönlich davon abgehalten weitere Diagnostik zu verlangen?
Warum habt ihr die Rückführung nicht angestrebt?
Wieso ist deine Tochter heute nur aufgrund ihrer Volljährigkeit weit genug z b ihren Diabetes im Griff haben zu müssen?
Wer sagt dir denn, das ein kümmern der falsche Weg sei?
Oder ist es eher ein, weil ein kümmern viel Kraft, Mut und auch noch mehr Zugeständnisse erfordert? vielleicht für euch nicht der richtige Weg? Ist das einfach mit Emotionen und Stress verbunden und dem bist du persönlich gerade nicht gewachsen? Ist wirklich das mehrfach diagnostizierte „Kind“ das Problem?
Und nein. das ist kein Angriff – ein Blickwinkel.
nicht mehr, nicht weniger
Nur weil drei andere Kinder bei euch groß geworden sind, heisst das ja auch nicht, dass es ihnen emotional, psychisch und kognitiv Tribute abgefordert hat. Oder sie unbedarft erwachsen werden konnten. Vielleicht gibt es hier stille Diagnosen?
Nächste Frage wäre – warum solltet ihr euch vorwerfen Sie ziehen lassen zu haben? vielleicht liegt genau darin eure Stärke?! vielleicht ist genau das, dass euch zu einer besonders empathischen Familie hat reifen lassen?
Denn ich, so viel weiß ich, hätte dazu garantiert nie genug Mut, emotionale Stärke und was auch immer noch dazu gebraucht werden wird. Deswegen schäme ich mich doch auch nicht.
Nur weil Worte vielleicht hart klingen, können sie doch wichtig und vor allem richtig sein.
Ich kenne übrigens ein paar Kinder, welche in Wohngruppen gelebt haben und später gute Beziehungen zu ihrer Familie hinbekommen haben. weil Liebe immer fest hält, was man auch einmal hat ziehen lassen müssen.