Ein Sohn mehr: Wie wir mit unserem trans Kind leben

Trans Sohn

Foto: pixabay

Ihr Lieben, manchmal erreichen uns Gastbeiträge, die wir selbst kaum aus der Hand legen können, weil sie uns Emotionen näherbringen, die wir selbst noch nicht erlebt haben, weil sie uns zeigen, wie vielfältig Familien sind, mit welchen Gefühlen Eltern im Laufe der Entwicklung ihrer Kinder  zu tun haben. Unsere Gastautorin – nennen wir sie Juliane – hat drei Kinder, eines bat die Eltern kurz vor dem 14. Geburtstag zum Gespräch. Es wollte ihnen sagen, dass es ein Junge ist… lest selbst:

„Ich habe Kleidung aussortiert, Mama. Und ich möchte meine Haare kurz haben.“ Damit fing es an. Kurz vor dem 14. Geburtstag. Pubertät, Ich-Findung, Phase vielleicht. Dachten wir. „Ich habe mit Marianne in der Jugendgruppe gesprochen. Sie hat schon viele Jugendliche begleitet, die gemerkt haben, dass sie lesbisch sind oder so.“ Aber Homosexualität war gar nicht so recht das Thema: „Meine Freunde sagen alle Mart zu mir.“

Es ging nicht darum, wen unser Kind liebt und erst recht nicht darum, dass das Kleid vom letzten Sommerfest nun als hässlich empfunden erachtet wurde. Nein: Unser Kind versuchte uns zu sagen, dass er ein Junge ist. Auf der Geburtsurkunde steht „weiblich“ und so hatte ihn bisher sein Umfeld gesehen und behandelt. 14 Jahre lang. Und nun?

Was macht das Annehmen im ersten Moment schwierig?

Transidentität war uns Eltern da schon nicht fremd. Wir haben zwei erwachsene trans Personen im Freundeskreis. Was war nun der Unterschied beim eigenen Kind? Warum konnten wir nicht sofort sagen: „Okay, super, was brauchst du?“

Nein, es war keine wissentliche Intoleranz, kein Egoismus, auch kein Abschiedsschmerz, der uns Eltern bremste. Vielen anderen Eltern ist eines dieser Themen sicher im Weg, wenn ihr Kind sich als trans outet, aber wir haben gemeinsam sehr ehrlich und intensiv in uns hineingehört. Wir denken: Das war es alles nicht.

Was es war: Mein Mann und ich hatten Angst, etwas falsch zu machen. Wie geht man denn richtig damit um, wenn sich ein jugendliches Kind als trans outet? Annehmen, offen sein. Das sollte der Weg wohl sein. Aber Verantwortung hat man doch auch dafür, dem Kind nicht nur gut auf seinem Weg zu helfen, sondern auch nichts zu übersehen, gut zu überlegen, nichts Voreiliges zu tun??

Wir lasen und lasen, redeten und redeten. Es gibt viele Bedenkenträger, die warnen, dass das „nur eine Mode“ sei, die Clique Druck mache, Teenies eben durcheinander seien in ihrem Alter auf dem Weg der Identitätssuche… Die Stimmen gerade im Netz sind teilweise krass und beängstigend. Es ist wie bei allen Elternthemen: Du findest immer jemanden, der dir ein schlechtes Gefühl macht, dich zweifeln lässt und es unter Umständen schafft, dich so unter Druck zu setzen, dass du dich gegen dein Kind entscheidest.

Transidentität
Dieses Buch können wir zum Thema empfehlen: Was ist eigentlich dieses LGBTIQ*?

Die richtige Unterstützung

Aber dann fanden wir die richtige Pausetaste, um unseren weiteren Weg gehen zu können und den Druck der mahnenden Stimmen nicht an uns heranzulassen:

  1. Den versierten Austausch mit zwei Freundinnen, die in der Thematik viel mehr zu Hause sind als wir, sowie mit einer der trans Personen aus unserem Freundeskreis, die sehr offen mit uns über die eigenen Erfahrungen sprach.
  2. Diesen sehr bewegenden, hilfreichen Text: James meint es ernst
  3. Diese großartige Broschüre zu Transidentität
  4. Berichte von Wissenschaftler*innen, die schon seit Jahrzehnten zu dem Thema forschen, von Psychiater*innen und Psycholog*innen, die seit Jahren mit der Thematik feinfühlig arbeiten, und von Betroffenen, deren Kernaussage immer wieder war: „Glaubt mir, nehmt mich an. liebt mich wie ich bin.“
  5. Eine Beratungsstelle zu queeren Themen mit viel Erfahrung und einigen selbst Betroffenen im Team, die online und damit deutschlandweit arbeitet: Rubicon Köln.

Und niemand, der dort saß, schob uns Schuld zu oder forderte, dass unser Kind umgehend Zugang zu Pubertätsblockern oder mehr bekommen müsse und wir ansonsten herzlose Arschlöcher seien – nein, allen Unkenrufen zum Trotz, die in Beratungsstellen weltfremde Extremisten erwarten, trafen wir auf ganz, ganz viel Herz, Wissen, Realismus. Auch unser Kind fand dort offene Ohren.

Dadurch konnten wir alle Ängste loslassen, dort konnten wir alle Fragen stellen und erkennen: Alles, was unser Sohn jetzt zunächst braucht(e), war Raum!

Raum, er selbst zu sein. Sich zu leben.

Er muss es leben, um zu merken, ob es wirklich das ist, was in ihm schlummert. Und die allerallerwenigsten kommen dann in den Punkt, dass es das nicht ist! Wie kann man es dann also abtun?!

Sicherer Raum für die eigene Identität

Zu Hause und in seiner Clique hatte er selbst das längst angeleiert: Sowohl unser jüngerer Sohn als auch seine Freunde und fast die ganze Klasse sagten schon längst Mart und er zu ihm. Und wir Eltern jetzt auch. Außerdem sprachen wir – immer in Abstimmung mit ihm und seine Zustimmung vorausgesetzt – mit den Großeltern, mit Bekannten und der Schule.

Gebt unserem Kind seinen Raum!

Wir gewöhnten uns an, auch in seiner Abwesenheit seinen richtigen Namen und sein gewähltes Pronomen zu verwenden und andere dabei zu korrigieren. Mehr wollte Mart gar nicht. Namen, Pronomen. Anerkennung. Erst einmal leben. Fühlen. Keine weiteren Hilfsmittel (Sonst wären wir auch diesen Weg mitgegangen und wir hatten diesbezüglich auch schon Türen geöffnet.). Nur Kleidung und Frisur sollten noch angepasst werden. Sein Style ist bunt / androgyn, wunderschön.

Mart wollte auch keine*n Psycholog*in. Er hatte kein Bedürfnis danach. Unser Kind ist seither wie ausgewechselt. Das kann man kaum beschreiben. Ihm geht es endlich wieder gut. Das war lange Zeit nicht so gewesen. Von den ersten Anzeichen und Sätzen bis zum echten Ausleben verging etwa ein Dreivierteljahr.

Schule als toleranter Lebensraum

Die Schule war nochmal ein ganz besonderes Kapitel, das beim Betrachten seiner Gemütslage besonders relevant war und ist. Als er begann, seine Identität klar zu sehen, war kein Platz für schulisches Lernen, kaum Platz für Freundschaften. Corona und Homestaying spielten in seine Karten. Er hatte Ruhe.

Aber er konnte sich in dieser Umbruchszeit auch nicht aufs Lernen konzentrieren – also auf schulisches Lernen. Über sich und uns hat er sicher viel gelernt. Am Ende des Schuljahres, das auch das Ende der Mittelstufenzeit bedeutete, stand er in diversen Fächern zwischen zwei Noten. Sitzenbleiben wäre wirklich total legitim gewesen. Doch unsere Schule ist wahrlich ein Geschenk: Er bekam in allen Fächern die bessere Note, weil die Lehrkräfte seine seelische Belastung durch seine persönliche Herausforderung der Identitätsklärung und durch die Coronazeit mitberücksichtigten. Dadurch konnte er in die Oberstufe versetzt werden, wovon wir uns alle eine höhere Motivation versprachen:

  • Abwählbare Fächer
  • Neue Fächer
  • Auflösung der Klassenstrukturen
  • Neue Kontakte

Die neuen Oberstufenleiter*innen wurden informiert wegen des richtigen Namens und Pronomens und nutzten es vom ersten Schultag nach den Sommerferien an korrekt. Es gab und gibt keinerlei Probleme.

Leider kann man diese Offenheit längst nicht von allen Schulen erwarten. Wer sich an der Schule der eigenen Kinder in diesem Bereich engagieren mag, dem sei zum Projekt „Schule der Vielfalt“ geraten. Tragt es an die Schüler- und die Elternvertretung heran, forciert Projektwochen, macht Mut, dass im Alltag jeder Intoleranz offen widersprochen wird!

Alles gut – für uns

Die Rechnung ist persönlich und schulisch aufgegangen. Unser Sohn hat wieder Lust, Motivation und richtigen Ehrgeiz. In Bezug auf Schule und in Bezug aus Leben. Nichts davon war letztes Jahr da. Er ist wieder ganz unser fröhliches Kind. Und jetzt eben: Mart.

Im Nachhinein fallen uns immer wieder Momente ein, in denen er schon früher gezeigt hatte, wer er ist, ohne dass er oder wir das richtig hätten einordnen können. Wir sind ganz sicher, dass er genau den Weg geht, der in ihm steckt, und dass das natürlich schon immer in ihm war und in einer anderen Welt bestimmt schon früher klar gewesen wäre. Was das in Zukunft noch für ihn bedeuten wird, weiß heute niemand von uns. Nicht mal er selbst. Wir gehen dem Weg mit ihm, komme was wolle.

Für uns gibt es daran übrigens gar nichts zu betrauern. Da ist einfach nur Liebe. Es hat sich im Grunde nicht wirklich etwas geändert. Und doch für ihn die ganze Welt.

Zum Weiterlesen. Auch die Geschichte von Katja hat uns sehr beeindruckt: Geschlechtsanpassung. Wie sie das für mich als Mama anfühlte als aus unserem Sohn eine Tochter wurde

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2 comments

  1. Zunächst einmal möchte ich betonen wie wunderschön und feinfühlig ich den geschriebenen Artikel von „Juliane“ finde!

    Transidentität ist für mich kein Fremdwort und deshalb las ich diesen Beitrag auch mit sehr großem Interesse.
    In unserer Transgender-Community kommen wir immer wieder in Kontakt mit Eltern deren Kinder sich im falschen Geschlecht fühlen. Dies ist für uns ein hochsensibles Thema, das im Umgang sehr einfühlsam behandelt werden muß.

    Für die Eltern besteht zuerst immer die Frage: ist es nur eine Phase unseres Kindes oder steckt doch mehr dahinter? Als Elternpaar darf man hier keinesfalls den Fehler machen und seinem Kind falsche Signale aussenden, die sich in Ablehnung oder Zurückweisung äußern. Man darf das Thema auch nicht zu leicht nehmen oder es gar als „Unfug“ abstempeln. Ein erster Schritt sollte immer der Dialog mit seinem Kind sein. Welche Gefühle spielen eine Rolle? Welche Hintergründe gibt es?

    Juliane hat selbst schon etwas sehr betreffendes geschrieben: „Mein Mann und ich hatten Angst, etwas falsch zu machen. Wie geht man denn richtig damit um, wenn sich ein jugendliches Kind als trans outet?“
    Das ist meist die größte Angst der Eltern, denn, wenn wir ehrlich sind, welche Eltern gehen davon aus, daß sie mit ihrem Kind über Transidentität sprechen müssen? Ohne entsprechende Erfahrung oder Hilfe sind Eltern hierbei zumeist überfordert. In vielen Fällen reagieren die Eltern „panisch“ und suchen Rat bei einem Psychiater oder gar in einer Therapie.

    Ich kann verstehen, daß es für betroffene Eltern anfänglich ein Schock ist, dennoch darf man dabei nicht vorschnell handeln. Ein guter Ansatzpunkt ist immer ein Gespräch mit dem*r Vertrauenslehrer*in der Schule. Diese sind für solche Fälle „geschult“ und behandeln es mit Vertrauen. Zumeist wissen sie, welche Schritte die Eltern als nächstes gehen sollten.

    Ich finde es bewundernswert wie toll die Schule von Julianes Kind reagiert hat. So einen toleranten Umgang wünscht man sicher jedem Trans*Kind. Dennoch sind nicht alle Mitschüler*innen immer so tolerant und können einem Trans*Kind mit Mobbing begegnen. Dies ist weder für das betroffene Kind schön, noch für dessen Eltern.

    Beeindruckend finde ich mit welchen Worten Juliane ihren Artikel beendet hat: „Für uns gibt es daran übrigens gar nichts zu betrauern. Da ist einfach nur Liebe. Es hat sich im Grunde nicht wirklich etwas geändert. Und doch für ihn die ganze Welt.“
    So liebevolle Eltern wünscht man jedem Trans*Kind! Als Eltern hat man so und so die Verpflichtung seinem Kind in allem zu unterstützen und ihm die Liebe zu geben die es immer benötigt.

    Ich frage mich häufig, was wohl wäre, wenn ich als Kind schon eine Transidentität gezeigt hätte und nicht erst in der Pubertät. Wie hätten meine Mitschüler*innen reagiert? Wie hätte mich meine Familie dabei unterstützt? Eines wäre sicher – es wäre eine schwierige Phase gewesen.

  2. Der Text hat mich jetzt wirklich zum Weinen gebracht. Bei unserem Kind (5) gibt es ein paar Anzeichen für eine Transidentität und wir schauen mal, was in den nächsten Jahren noch auf uns zu kommt.
    Danke für diesen Beitrag und besonders für die Links!

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