Gastbeitrag: Spätabbruch ja oder nein – die wohl schwerste Entscheidung meines Lebens

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 In den Kinos läuft gerade "24 Wochen" an – darin geht es um späte Schwangerschaftsabbrüche – und die Frage: Kriege ich ein behindertes Kind? Julia hat genau das durchlebt und berichtet heute von den Wochen voller Ungewissheit, Trauer und auch voller Liebe zu dem ungeborenen Kind. Danke, Julia, für Dein Vetrauen und diesen sehr berührenden Text: 

Sein Gesicht fixiert den Bildschirm, die Gesichtsmuskeln deutlich angespannt, es wird still im Raum. Das bis gerade eben noch lockere Gespräch ist verstummt. Außer dem Surren des Gerätes ist nichts zu hören.

Ich spüre, dass dies der Moment sein könnte, der alles verändert. 
Es ist Juni 2011, draußen strahlt die Sonne, und bis vor ein paar Sekunden genoss ich mein Leben wie selten zuvor. So viel Glück auf einmal war beinahe unvorstellbar. Damals war ich 33 Jahre alt, schwanger mit meinem zweiten Kind, verheiratet und bereits mit einer kleinen Tochter gesegnet. Ich bin Julia, und möchte Euch heute berichten, wie es zu unserer Entscheidung des Spätabbruchs kam:
 
Mein Frauenarzt stellt fest, dass das kleine Wesen, das tanzend in meinem Bauch auf dem Bildschirm zu sehen war, nicht so aussieht, wie es sollte. Darm, Leber und der Magen schwammen in einer Art Ballon vor dem Bauch des Babys.
Man nennt dies Omphalozele, die in der Regel mit 80%-iger Wahrscheinlichkeit mit weiteren chromosomalen Dysbalancen, geistigen und körperlichen Fehlbildungen einhergeht.
 
Zu diesem Zeitpunkt wusste ich dies allerdings noch längst nicht. Das einzige, was mein Gynäkologe im Juni 2011 noch herausbringt, ist zu fragen, wann genau mein Termin zum Ersttrimester-Screening sei. Übernächste Woche. Er nickt stumm, sagt zum Abschluss, er könne die Situation nicht gut einschätzen, der Befund könne sich bis zum Ende der 12. Woche zurückbilden – was angesichts meinem Status in der 11. Woche allerdings fraglich war – das begriff ich umgehend.
 
Beunruhigt, aber noch zuversichtlich, schaute ich etwa zwei Wochen später in einer Praenatal-Praxis auf den riesigen hochauflösenden Bildschirm. „Das wird schon“, versuche ich mir immer wieder einzureden.
Der Cursor bewegte sich sofort auf den Bauch des kleinen Embryos, der fröhlich vor sich hinzappelte. „Ein hübscher kleiner Junge“ sagte der Arzt ganz ruhig, nahm ein paar Maße, und erläuterte schließlich, was zwei Wochen zuvor auch bereits deutlich zu sehen war.
Das Fragezeichen in meinem Kopf versperrte mir Sicht und klare Gedanken. Der Arzt gab sich bedeckt, zeigte mir am PC nach Eingabe des Befundes die errechnete Wahrscheinlichkeit für Trisomien. Dort stand: Riskio1:3.
 
Ich begriff durchaus, was das bedeuten kann, jedoch lagen Nackenfalte und weitere Maße im Normbereich. Mein Mann sagte jetzt nichts mehr, seine anfänglichen Fragen konnte auch der Praenatal-Spezialist nicht mit Gewissheit beantworten. Für eine Chorionzottenbiopsie (Plazentapunktion, um fetales Erbgut zu genetischen Analysen zu erlangen), war es bereits zu spät. Klarheit über genetische Fehlbildungen könnte nur eine Fruchtwasserpunktion erzielen. Frühestens in vier Wochen. Die Zeit stand jetzt still.
 
Wir standen unten auf der Straße, die Autos rasten vorbei, meine Ohren rauschten, der Kopf war leer. Instinktiv ahnte ich, dass hier ein Alptraum mit ungewissem Ausgang beginnen könnte. Noch immer auf dem Bürgersteig, malten wir uns undeutliche Szenarien aus, unfähig, auch nur einen Kaffee trinken zu gehen.
Wie paralysiert fuhren wir heim, wo uns unsere 16 Monate alte Tochter, unser ganzes Glück, freudig entgegen hüpfte. Ich hoffte auf Tränen, die mich erlösen. Nichts dergleichen.
Absolute Taubheit, Gefühl der Ohnmacht. Fragen über Fragen, Dr. Google, Mediziner in Familie und Bekanntenkreis wurden überstrapaziert – am Ende dennoch das Gefühl, keinen nennenswerten Schritt weitergekommen zu sein. „Et hätt noch immer jot jejange“, wie der Kölner gerne sagt, klang genau jetzt wie ein schlechter Witz.
 
Die Zeit verging endlos langsam, das Leben zog vorbei wie in Trance. Die Ungewissheit erdrückte uns. Nach vier quälenden Wochen konnte endlich eine Fruchtwasserpunktion durchgeführt werden. Ein Humangenetiker wurde hinzugezogen. Völlig emotionslos und ohne jegliche Mimik, erläuterte er uns alle Möglichkeiten, die unter dem Verdacht einer genetischen Fehlverteilung das potentielle Leben unseres Sohnes bestimmen könnten.
Ein erster Schnelltest nach drei Tagen schloss die häufigsten Trisomien wie z.B. Down-Syndrom und Trisomie 18 aus. Wir atmeten auf, wagten es, neue Hoffnung zu schöpfen. Wird doch noch alles gut? Wir wollten uns so gerne auf unseren Sohn freuen können.

Es folgten erneut zwei qualvolle, lange Wochen, bis das endgültige Ergebnis vorliegen sollte. Jedes Telefonklingeln konnte die erhoffte Antwort bringen. Natürlich trafen genau in dieser Zeit die unmöglichsten Anrufe ein – von Stromgesellschaften bis Abo-Verkauf.

Ich wurde immer aggressiver, konnte keine körperliche Nähe mehr zulassen, mein Mann stützte sich in seine Arbeit. Dann, eines Nachmittags in der 20. Woche, der Anruf: Monosomie 9/ Trisomie 14 an bestimmten Bruchpunkten.
Ich musste mich setzen, begriff nicht. Der Genetiker erklärt emit ruhiger Stimme, dass unser kleiner Junge mit großer Wahrscheinlichkeit keine Reflexe zum eigenständigen Atmen haben werde, von erheblichen Deformationen und schwersten geistigen Behinderungen auszugehen sei.
 
„Und jetzt?“ Er dürfe keinesfalls Empfehlungen aussprechen – könne uns jedoch mitteilen, dass erfahrungsgemäß 95% der betroffenen Eltern in so einem Falle die Schwangerschaft vorzeitig abbrechen. Selbstverständlich gebe es aber Eltern, für die diese Option nicht in Frage komme, die der Natur ihren Lauf lassen möchten. Allerdings müsse er darauf hinweisen, dass es der Embryo in solch einem Fall häufig nicht bis zur 40. Woche schaffen werde, und das Baby auch für den unwahrscheinlichen Fall einer Lebendgeburt selbst unter Einsatz intensivster Maschinerie nicht lebensfähig sein werde. Je weiter die Schwangerschaft, umso schwieriger würden die Geburt des Kindes und emotionale Verfassung der Eltern werden.
Schon jetzt war die Situation so entsetzlich, wir fühlten uns unserem Baby so sehr verbunden. Noch weitere Wochen und Monate darauf zu warten, bis das Herz unseres Sohnes aufhört zu schlagen – ein unvorstellbarer Gedanke.
 
Der Arzt bat uns, genug Bedenkzeit zu nehmen. Natürlich hatten mein Mann und ich bereits mögliche Ausgänge besprochen. Für uns stand fest, dass ein sporadisch auftretender organischer Befund bei sonst unauffälligem genetischen Ergebnis für uns kein Grund sei, die Schwangerschaft zu beenden. Es hätte 1-2 Jahre zermürbenden Dauer-Krankenhausaufenthalt für unseren kleinen Jungen und uns bedeutet – wir hätten dies liebend gern in Kauf genommen, selbst wenn eine riesige vertikale Narbe mit Anschlussoperationen über Jahre einen lebendigen, glücklichen kleinen Jungen gezeichnet hätte.
Bei schwerwiegenden geistigen Behinderungen sei für uns beide jedoch Schluss. Das mag für Außenstehende hart und abgebrüht klingen, für uns war dies jedoch das Ergebnis wochenlanger Überlegungen, zermürbender Tage, Diskussionen, Durchspielen aller denkbaren Szenarien.
Wir haben eine gesunde kleine Tochter, und allein diese Phase voller Angst und Ungewissheit hat uns an unsere Grenze gebracht. Unsere Tochter war weinerlich und anhänglich, wir waren kaum in der Lage, uns tatsächlich um sie zu kümmern. Wir waren uns selbst schon zuviel. Immer wieder sprangen Freunde und Bekannte ein. Uns wurde klar, dass sich diese Situation mit fortschreitender Schwangerschaft für uns alle nur noch verschlimmern würde. Es mag seltsam klingen, aber von dem Moment an fiel ein großer Ballast von uns ab.
 
Wir entschieden uns für einen Abbruch im Universitätsklinikum unserer Stadt. Das bedeutete einen erneuten Ultraschall. Ich sah auf dem Bildschirm ein normal großes Baby, das am Daumen nuckelte, mit den Beinchen strampelte, das Herzchen schlug und auf den ersten Blick schien alles normal. Welches Glück diese kleinen Tritte für eine werdende Mutter bedeuten, muss ich glaube ich nicht extra beschreiben. Mir zerrissen sie beinahe das Herz. Ich wusste, dass dies das letzte Mal war, an dem ich meinen Sohn lebendig erleben würde.
 

Die folgenden Tage bis zum Tag X verbrachten wir in einer Ruhe, die uns fremd geworden war. Wir spürten einen Zusammenhalt wie schon lange nicht mehr, informierten uns beim städtischen Friedhof, trafen uns mit den engsten Freunden, verbrachten entspannte Stunden mit unserer Tochter, und bereiteten uns auf den bevorstehenden Tag vor.

Sagen wir so…wir versuchten es und dachten auch, auf das was kommen sollte, halbwegs vorbereitet zu sein. Ich verspürte solch eine Liebe zu meinem ungeborenen Kind, die ich nicht zu beschreiben vermag. Diese Liebe beinhaltete gleichzeitig aber auch den Wunsch, dem Leid ein Ende zu bereiten. Wir hatten eine Wahl zwischen Pest und Cholera. Die kleinen Tritte wurden stärker und ich wanderte auf einem schmalen Grat zwischen unbeschreiblich großer Liebe und schrecklichem Gewissen.
 
Es kam der Abend des 6. September, der Klinikflur war dunkel, das Zimmer aus den 60er Jahren, karge Einrichtung. Im Mülleimer blutige Bestecke und Schläuche aus vorherigen Prozeduren. Mir wurde schlecht. Um Mitternacht erschien eine Schwester, die mir erklärte, dass sie nun ein Zäpfchen einführen würde, das den Muttermund aufweicht, damit er sich von allein öffne.
Sollten morgen früh keine Wehen eintreffen, würde man die Gabe alle 8 Stunden wiederholen. Ab der ersten Gabe sei der Prozess allerdings irreversibel. Mein Mann und ich schauten uns an. Wir nickten. Selten hatte ich mich so schäbig und schuldig gefühlt wie in dem Moment, in dem das Zäpfchen seinen Weg nahm. Kein Zurück mehr. Wir hatten für uns so entschieden, und mussten nun diesen Weg gehen.
 
Nach etwas mehr als 17 Stunden wurde unser kleiner Junge geboren. Eine einfühlsame Hebamme nahm ihn im Empfang und sagte „Ein kleiner süßer Junge, sehr krank – möchten Sie ihn sehen?“ Meine Angst dauerte wenige Sekunden. Und dann war alles plötzlich völlig normal.
Das winzige Wesen von 22 cm und 220 g lag in meinen Armen, wir konnten es anfassen und küssen, und sahen nur das hübsche Gesicht und den winzigen Körper. Lange Zeit, die ich nicht mehr einschätzen kann, hielten wir unser Baby, musterten und streichelten es, wie es alle frisch gebackenen Mütter und Väter es tun. Die Natur hatte sämtliche Ängste von Bord geworfen und es so eingerichtet, dass wir uns trotzdem in diesem Moment freuten und Glück verspüren durften. Natürlich waren der Tod und das Ausmaß der Fehlbildungen deutlich zu sehen, doch in diesem Augenblick war das alles völlig nebensächlich. Wir verspürten pures Glück und ließen keinen anderen Gedanken zu.
 
Die Realität kam am nächstenMorgen. Unser Junge wurde durch die Seelsorge gesegnet, niedlich angezogen und in ein Körbchen gelegt. Dann kam der Moment des Abschieds für immer. Darauf kann man sich unmöglich vorbereiten. Gerade erst „kennengelernt“ und schon wieder verabschieden.
Dass er nicht mehr lebte, spielte gar keine so große Rolle, für uns war er unser Fleisch und Blut, das wir nicht hergeben wollten. Panik überkam mich. Ich versuchte mich zu beruhigen und dankte insgeheim dem technischen Zeitalter, dass Smartphones Erinnerungen so festhalten können, wie es früher nicht möglich gewesen wäre. Die Klinik hatte zum Glück auch eine niedliche Mappe mit Fotos, Fußabdrücken und Erinnerungsstücken vorbereitet.
 
Zuhause schlug die Wucht erst später zu. Mit Baby im Bauch in die Klinik zu gehen und mit leeren Händen in eine stille Wohnung zurückzukehren war ein Faktor, den ich verdrängt hatte. Ebenso hatte ich nicht in Bedacht gezogen, dass die hormonelle Veränderung erst versetzt eintritt. Wir bereiteten eifrig die Beerdigung unseres Sohnes auf einem sogenannten Sterntaler-Feld des städtischen Friedhofs vor. Hier werden nur Früh- und Totgeburten unter 500 Gramm bestattet. Babys über 500 Gramm gelten bereits als „Kinder“ und haben Anspruch auf ein richtiges Kindergrab.
Erst nach der Beerdigung war Trauer so richtig möglich. So glücklich und beschwingt sich eine Schwangere fühlt, so elend spielt einem der Hormonabfall mit – vergleichbar mit einer Wochenbettdepression – nur ohne Baby.
 
Rückblickend können wir sagen, dass es für diese Situation kaum besser hätte ablaufen können. Der „roboterähnliche“ Humangenetiker, über den ich mich zunächst aufregte, hat seinen Auftrag genau so erfüllt, wie es sein sollte. Er zeigte die Fakten klar auf und hat durch seine Art und Weise dafür gesorgt, dass für einen Moment die Emotionen außen vor bleiben und die Betroffenen gut verstehen können worum es geht.
 

Der ein oder andere Arzt hätte uns sicherlich etwas mehr Empathie entgegenbringen können, jedoch sind auch diese Leute nur Menschen, denen es sicherlich nicht leicht fällt, auch nach zig Berufsjahren solche Diagnosen zu übermitteln. Wir können von Glück sprechen, dass wir (leider) genügend Vorgänger haben, durch die eine Petition im Bundestag erwirkt werden konnte, die einen Gesetzesbeschluss nach sich zog, dass Babys unter 500g nicht als „Klinischer Abfall“, sondern als Mensch mit einem Recht auf eine anständige Bestattung gelten dürfen. Wir hatten Glück mit der Universitätsklinik, die wie viele (aber immer noch nicht genügend) Kliniken mittlerweile auf den Umbruch in diesem lange als Tabu geltenden Thema reagierte.

Wir wissen aber auch, dass es viele Eltern gibt, die keine so klare Diagnose erhalten. Sie müssen eine weitaus schwierigere Entscheidung treffen, weil niemals klar sein wird, wie schwer der Grad der Behinderung sein wird.
Ich persönlich ziehe absolut den Hut vor allen Eltern, die in eine Situation wie diese geraten, ganz egal wie sie sich entscheiden. Das ist und bleibt ein Supergau, das ist nichts, was man von heute auf morgen entscheiden kann. Sondern ein Prozess, in den man hineinwachsen muss und der letztlich zu einer Entscheidung führt, die sich wahrhaftig niemand leicht macht.
 
Unsere Beziehung hat seitdem oft gewackelt, die Unbeschwertheit von früher ist nicht mehr selbstverständlich. Wir versuchen, so locker es eben geht, mit dem Thema umzugehen, nach vorne zu schauen. Es gibt aber auch hier und da Tage, an denen uns selbst die Freude an unserer Tochter nicht leicht fällt. Sie ist ein tolles, aufgewecktes Mädchen, das inzwischen in die erste Klasse geht. Sie weiß, dass wir mit dem Grab für unseren Sohn einen Ort haben, an den wir immer gehen können. Dort kann man zur Ruhe finden und sich auf die Antwort besinnen, weshalb es für unseren Kleinen und viele weitere Babys so ausgegangen ist. Besonders oft gehen wir allerdings nicht dorthin, denn das Leben geht weiter. Wir tragen die Verantwortung für unsere Tochter und versuchen, ihr das Leben so glücklich wie es nur geht zu gestalten, aber auch uns selbst nicht zu verlieren.
 
Manchmal schaue ich mir die Fotos und Erinnerungen an, und bin trotz allem immer wieder nur dankbar, dass wir unseren winzigen Sohn im Arm halten durften. Es fällt meinem Mann und mir zeitweise schwer, Familien zu sehen, die ein weiteres Kind im Alter unseres Sohnes oder jünger haben.
Wir bleiben trotz allem stark und möchten ein Geschwisterkind für unsere Tochter. Drückt uns die Daumen!julia1
 

 

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9 comments

  1. Sehr einfühlsam beschrieben
    Sehr einfühlsam beschrieben und angesichts des nicht einmal von den Republikanern bestrittenen Konsens, dass bis zu 20 Schwangerschaftswoche kein Schmerzempfinden möglich ist und eine regelmäßige Hirnaktivität nicht existiert, bestehen aus meiner Sicht auch keine ethischen Dilemma, da noch kein Bewusstsein, Fühlen und Denken möglich war. Auch wenn vollkommen nachvollziehbar ist, warum die Autorin durch den Eingriff derartig mitgenommen wurde, ist es wichtig, diesen Aspekt zu bedenken.

  2. Levi
    Auch wir standen 2014 vor dieser Entscheidung. Bei unserem Sohn wurde beim Combined Test (wir hatten eine sehr erfahrene Ärztin, ein/e andere/r hätte es so früh nicht gesehen) ein schwerer Herzfehler entdeckt. Wir haben uns schon auf viele OPs, etc eingestellt. Doch mit jeder Untersuchung wurden die Prognosen schlimmer. Dann Ende der 22. Schwangerschaftswoche wurde auch noch eine schwerer Gendefekt festgestellt. Es fehlten sehr viele Gene des Chromosoms 9. Uns wurde gesagt, dass so ein Gendefekt noch nie dokumentiert wurde, aber Kinder bei denen der Gendefekt nicht so groß war und die geboren wurden, hatten schwerste geistige und körperliche Behinderungen. Bei uns war daher die Prognose noch schlechter. Ich konnte unseren Sohn spüren, bis zum Schluss war es unvorstellbar solch eine Entscheidung treffen zu müssen. Am 30.1.2014 wurde unser Levi geboren. Die Geburt war schmerzhaft, aber die Schuld danach war kaum zu ertragen. Als wir unseren Sohn in den Armen hielten, war er einfach perfekt. Sein Herz hat noch schwach geschlagen und er hat ab und zu nach Luft geschnappt. Als er starb sah er sehr friedlich aus, als würde er schlafen. Ich glaube, er hatte keine Schmerzen. Natürlich war äußerlich nichts zu erkennen. Wie auch, das Ausmaß hätte sich nur gezeigt wenn er gelebt hätte. Ich hab die ganze Nacht geschrien bis ich keine Stimme mehr hatte, mein Gesicht war vom Weinen geschwollen. Ich war kaum wiederzuerkennen. Mein Mann war komplett geschockt und hilflos. Von da an waren wir andere Menschen . Unsere Ehe wäre fast daran zerbrochen. Wir haben erfahren, dass sein Herzfehler so schwer war, dass er nur eine 5%ge Überlebenschance hatte. Das war im Ultraschall noch nicht ersichtlich. Das hat es uns erträglich gemacht. Schlimm war es, als wir aus dem Krankenhaus nach Hause kamen. Die Menschen auf der Straße lebten ihr Leben weiter und für uns ist die Welt stehen geblieben. Wir hatten das Gefühl, die ganze Welt müsste mit uns trauern. Aber für mich war das Allerschlimmste mein leerer Bauch. Der war kaum zu ertragen. Wir haben noch einen Sohn, der war damals 3,5. Ich sage es hier ganz ehrlich. Wäre er nicht gewesen, gäbe es mich wahrscheinlich nicht mehr. Ich ging danach 1 Jahr zur Psychotherapie und als ich so weit war, dass ich wusste, das noch ein Kind kein Ersatz für unsren Levi wäre, haben wir es wieder versucht. Ich wurde sofort schwanger und unsere Tochter schläft gerade neben mir. Sie ist gesund und hat letzte Woche zu gehen begonnen. Ich könnte nicht dankbarer sein. Das erste Mal richtig, ehrlich, unbeschwert glücklich seit damals, war ich letzte Woche. Ich besuche oft Levis Grab und rede mit ihm. Er fehlt mir. Und ich weiß nicht, ob ich es nochmal könnte. Und manchmal, habe ich Angst glücklich zu sein. Ich habe Angst es nicht zu verdienen, Angst meine Kinder zu verlieren und Angst irgendwann dafür bestraft zu werden, was ich getan habe. Aber ich weiß mittlerweile, dass unsere Entscheidung richtig für uns war, aber ich kann es nicht ertragen, wenn jemand sagt, dass es für ihn das Beste war.

    Falls dieser Bericht zu detailliert ist oder irgendjemanden stört, löscht ihn bitte einfach. Ich habe das bisher nur meinem Therapeuten erzählt. Nicht einmal meine Mutter weiß wie es wirklich war. Aber ich musste es einfach einmal irgendwo aufschreiben. Damit er nicht vergessen wird und die Welt doch noch erfährt, dass unsere Welt stehen geblieben ist. Am 30.1.2014.

    1. Liebe Doris
      Vielen, lieben dank für Dein Vertrauen und Deine Geschichte. Wir drücken Dich fest und hoffen so sehr, dass Du Deinen Verlust irgendwann besser ertragen kannst. Wir sind uns sicher, Du bist eine tolle Mutter für Deine Kinder! Alles Liebe für Dich!

      1. Danke! Ich weiß mein vorderes
        Danke! Ich weiß mein vorderes Posting vermittelt den Eindruck, dass es kein gutes Ende gibt. Aber das sind meine Gefühle damals gewesen. Und dieses Ängste überkommen mich manchmal nachts, heimlich. Wenn ich unseren Kindern beim Schlafen zusehe. Dann bin ich glücklich und zufrieden. Und manchmal überkommen mich dann diese Gedanken.. Dass ich nicht glücklich sein darf, weil ich dieses besondere Kind nicht wollte, weil ich Angst hatte und ich nicht so ein Leben führen wollte. Falls er überhaupt überlebt hätte. Unser ganzes Leben hätte sich nur mehr darum gedreht ihn am Leben zu erhalten und unser 1. Sohn und unsere Träume wären auf der Strecke geblieben. Daher habe ich schlussendlich auch meinen Frieden mit unserer Entscheidung gemacht. Auch wenn das nicht so klingt. Das sind einfach manchmal (Gott sei Dank immer seltener) meine geheimen Gedanken, dass mir das Glück wieder genommen wird. Mein Therapeut hat mich einmal gefragt, ob ich wenn ich die Zeit zurück drehen könnte lieber nicht mit Levi schwanger geworden wäre. Ich mir diese Erfahrung ersparen wollen würde. Das war vor unserer Tochter, als es mir sehr schlecht ging. Und ich habe damals ganz ehrlich ohne Zögern gesagt: Nein. Ich war damals und bin noch heute unendlich dankbar für unseren Sohn. Ich hatte immer Angst als wir nur 1 Kind hatten, ob ich ein zweites genauso lieben könnte, wie unseren 1. Sohn. Diese Angst hat er mir genommen. Als ich ihn in meinem Armen hielt, war ich glücklich. Nur diesen kurzen Augenblick. Bevor die Welt zusammenbrach. Ich hatte unseren Sohn geboren. Ich durfte ihn kennen lernen. Einen Blick auf ihn werfen. Bis zu dem Augenblick haben mir die Frauen immer Leid getan, die bei soetwas oder einer späten Fehlgeburt auch noch den Geburtsschmerz durchmachen mussten. Doch jetzt kann ich aus eigener Erfahrung sagen:1. Für mich war der Geburtsschmerz nichts gegen den seelischen Schmerz und 2. War dieser leere Bauch danach kaum zu ertragen. Im Spiegel siehst du schwanger aus, aber es ist niemand mehr da. Ich war so unendlich einsam. Nur die Geburt hat mir wenigstens die Möglichkeit gegeben mich ein wenig von unserem Baby zu verabschieden. Es wäre für mich unvorstellbar gewesen, Levi auf irgendeine andere Weise gehen zu lassen. Alleine der Gedanke:ich bin schwanger, werde betäubt und auf einmal ist er weg. Ich glaube, das wäre zu viel für mich gewesen. Aber jetzt geht es mir wieder gut. Wir haben wieder zueinander gefunden. Und unsere Kinder machen das Glück perfekt (auch wenn sich manchmal alte Ängste einschleichen) – alle 3 auf ihre Weise.

  3. Nachdenklich
    Liebe Julia, mir schnürt es die Brust zu wenn ich euren Bericht lese. Ich selbst habe einen kleinen Sohn, der wohl bis zur Geburt kerngesund war. Durch einen Sauerstoffmangel ist er nun chronisch krank und behindert – aber ein sehr fröhlicher süßer Junge! Ich weiß nicht was ich tun würde wenn ich die Wahl hätte in einem frühen Stadium der Schwangerschaft bei solch einer Diagnose. Auf meinem Blog hab ich mir anlässlich des Kinofilms und einer ähnlichen Begebenheit bei Verwandten zu dem Spätabtreibung meine Gedanken gemacht. http://www.sophiesanderswelt.wordpress.com Ich hoffe ihr übersteht den Verlust eures kleinen Sohnes als Paar und Familie gut. Viel Kraft euch und Danke für die Schilderung eures privaten und schmerzlichen Erlebnisses.

  4. Eine schwere Entscheidung?
    Liebe Julia,
    mit schwerem Herzen habe ich deinen Bericht gelesen. Ich weiß, was Du durchgemacht hast denn ich habe auch eine Spätabtreibung durchgeführt. Ich habe meine Tochter in der 23. Woche abgetrieben. Sie hatte das Down-Syndrom und diverse schwere Herzfehler. Es tat sehr weh. Sehr sehr weh. Aber dennoch stehe ich zu meiner damaligen Entscheidung. Mit dem Schmerz lebe ich jeden Tag. Aber es war für mich/für meine Kinder/meine Familie damals die richtige Entscheidung. Ich habe auch vor kurzem den Film „24 Wochen“ gesehen. Ich habe auch nach dem Ansehen des Filmes gemerkt, dass ich nicht die Kraft gehabt hätte so ein besonderes Kind großzuziehen. Ich finde es gut, dass dieser Film uns Frauen, die „das“ machen, nicht verurteilen will. Danke.

  5. Alle Daumen
    sind gedrückt, dass ihr euer Glück mit einem 3. Kind erweitern dürft! Ich wünsche es euch so sehr, weil ich auch Erfahrung weiß, wie heilsam das sein kann.
    Vielen herzlichen Dank für diesen offenen Einblick in eine Sache, die so oft tabuisiert wird.

  6. Eine schwere Entscheidung
    Puh, danke für diesen wirklich sehr ehrlichen, offenen Bericht.
    Ich glaube ich hätte mich ähnlich entschieden, wobei man das nie weiß.
    Ich habe aber eine kleine Anmerkung.
    Im Film 24 Wochen geht es NICHT um ein SCHWERSTbehindertes Kind, sorry, es geht NUR um Down Syndrom, Herzfehler sind da zu 50% wahrscheinlich und heutig sehr gut zu operieren und davon merkt man den Kindern später nichts mehr an.
    Meine Tochter hat Down Syndrom, das ist keine Bürde und das Kind hat ein wirklich lebenswertes Leben, die Einschränkungen sind nur, dass sie vielleicht nicht so in unser perfektionistisches Menschenbild passt.
    Ein Kind mit einer so schweren Diagnose wie bei Julia ist eine komplett andere Hausnummer, die Entscheidung sicher ähnlich schwer, aber die Gründe am Ende ganz andere.
    Ich drücke alle Daumen, dass es bald ein wundervolles Geschwisterkind gibt

    1. Ich schließe mich Martina an
      Ich schließe mich Martina an und sage auch Danke für den Bericht, der uns Müttern von Kindern mit Downsyndrom (unser Sohn ist zwei Jahre alt) zeigt, dass es nicht immer nur schwarz-weiß gibt, wenn es um Abtreibung geht. Alles Liebe!