Tourette-Syndrom: Mein Sohn hat Gehirn-Schluckauf

woman 1651338 1280

Liebe Dijana, Dein heute fast 9-jähriger Sohn hat das Tourette-Syndrom. Wann tauchten die Tics erstmals auf und welche waren das?

Mit ca. 3 Jahren fing mein Sohn phasenweise an zu blinzeln. Das hörte aber schnell wieder auf. Später kam dann eine Phase, in der er sich mit der Hand ständig über die Stirn strich, so als ob er zu lange Haare hätte und sie ihn bei der Sicht behindern würden. Später kam dann ein Räuspern dazu und gelegentlich warf er seinen Kopf in den Nacken. Da war er dann ca. 4 Jahre alt

Wie bist du mit den ersten Anzeichen umgegangen? Was haben damals die Ärzte gesagt?

Am Anfang habe ich mir wenig Gedanken darüber gemacht, da ich bereits davon gehört hatte, dass Kinder vorübergehend Tic-Störungen entwickeln können. Gerade bei Jungs könne das häufiger auftreten. Der Kinderarzt hat das auch bestätigt und wir gingen davon aus, dass sich das „auswachsen“ würde. 

Als er dann mit 5 Jahren von heute auf morgen sehr komplexe Tic-Kombinationen zeigte, war der Schock jedoch groß. Ganzkörperzuckungen kombiniert mit schreien, bellen oder zusammenhangslosen Wörtern – manchmal ganze Sätze, die er mehrmals hintereinander wiederholte. Das war kurz vor Weihnachten. Die Aufregung über die anstehende Zeit war groß und hat ihn wohl getriggert. Da der Kinderarzt selbst im Weihnachtsurlaub war, sind wir ins Krankenhaus gefahren. Man konnte weder Entzündungen, noch andere Verletzungen feststellen. Der Arzt wirkte etwas überfordert und meinte, wir sollten nochmal mit dem Kinderarzt sprechen – der hatte allerdings erst 2 Wochen später wieder offen.

Mein Sohn war völlig verzweifelt und fragte ständig, was mit ihm los wäre – er würde das alles nicht freiwillig machen. Habe ihm dann erklärt, dass er einen „Gehirn-Schluckauf“ hat. Das hat ihn sichtlich erleichtert, denn jetzt hatte er eine Erklärung für seinen plötzlichen Ausnahmezustand. Gehirn-Schluckauf war tatsächlich das Einzige und Beste, was mir kurzerhand eingefallen ist. 

Wann kam die Diagnose?

Zuerst hatten wir sehr viele Arztbesuche, knapp 2 Jahre später stand die Diagnose Tourette-Syndrom fest. Tourette kann nicht von heute auf morgen diagnostiziert werden. Erst wenn man über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr komplexere Tics zeigt und kombiniert, spricht man vom Tourette-Syndrom.

Tourette kommt leider selten „allein“ daher. Das bedeutet, dass Tourette-Erkrankte in den meisten Fällen weitere Begleiterkrankungen haben. Dazu zählen schwierige Begleiter wie Autismus, AD(H)S, extreme Schlafstörungen, Ängste, Zwangserkrankungen wie Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen, herausforderndes Verhalten, Depressionen oder selbstverletzendes Verhalten, um die Wichtigsten zu nennen. 

Mein Sohn hat extreme Schlafstörungen, er braucht ca. 2-3 Stunden um einschlafen zu können. Die meisten Jahre seines Lebens hat er zudem nicht durchgeschlafen.

Die Diagnose ist nun 4 Jahre her. Wie geht es deinem Sohn heute und wie ausgeprägt ist das Tourette?

Wir haben ein sehr gutes Jahr hinter uns. Er hat nach dem ersten Lockdown im März 2020 erst eine sehr schwere Tic-Phase gehabt, die sich dann aber in einen milden Verlauf gewandelt hat. Aktuell sieht man es ihm nur an, wenn man ihn genau beobachtet. Leider kann sich das von heute auf morgen wieder ändern. 

Wie geht er selbst damit um? Was für ein Junge ist er?

Ihm selbst hat die Begrifflichkeit des „Gehirn-Schluckaufs“ sehr geholfen. Denn das ist eine gute Erklärung, die er anderen Kindern geben kann, sie fragen natürlich nach. Er ist ein sehr lustiger, sensibler, aufmerksamer und intelligenter Junge. Er ist gut integriert, obwohl er durch seine Sensibilität manchmal nicht ganz einfach ist. Er spielt Fußball und liebt alles, was mit Technik zu tun hat. 

Trotz allem leidet er unter dem Syndrom. Er ist fest davon überzeugt, dass er es nicht mehr haben wird, wenn er groß ist. Das sind dann schmerzliche Momente als Mutter, denn Tourette ist Stand heute nicht heilbar. 

Welche Hilfe und Therapien bekommt ihr?

Wir haben passend zum „Gehirn-Schluckauf“ lange Zeit Gehirn-Training gemacht. Fachlich richtig heißt die Therapie Neurofeedback. Das hilft ihm sehr, sich zu entspannen und zu fokussieren. Da er aktuell wenig Beschwerden hat, machen wir eine Pause. 

Sehr geholfen hat uns der Austausch in der Facebook-Gruppe „Tourette-Syndrom“, die äußerst gut von Hermann Krämer moderiert wird. Im Laufe der Jahre habe ich hier vieles über das Syndrom gelernt und gemerkt, dass wir nicht alleine sind. 

Für Außenstehende ist Tourette ungewohnt. Wie oft seid ihr mit unangenehmen Reaktionen von Fremden konfrontiert?

Das kommt auf die Schwere der Tic-Phase an. Hat er schwere Tics, bleiben Blicke im Bus oder auf der Straße nicht aus. Aktuell kommt er gut durch und wird kaum angesprochen. 

Welche Reaktion von außen würdest du dir wünschen?

Ich würde mir wünschen, dass wir das Leben der anderen weniger bewerten und mit unserem Leben und unseren Maßstäben weniger vergleichen würden. Mir fällt das bei manchen Eltern auf, die ihren Kindern anstatt Erklärungen zu liefern, ihre Interpretationen und/oder Assoziationen mitgeben. Also anstatt zum Beispiel nur zu erklären, dass Tourette eine Erkrankung ist, bei der man gewisse Dinge nicht unterlassen kann, wird häufig vor konnotiert mit „der ist arm dran“ oder „sei froh, dass du das nicht hast!“. 

Mir geht es hier konkret um die Differenzierung zwischen Verständnis und Mitleid. Verständnis ist immens wichtig, um alles einordnen zu können, den Leidensdruck des anderen zu verstehen. Mitleid hingegen wird – so zumindest meine Erfahrung – als eine negative Bewertung der Gegebenheit empfunden. Eine Gegebenheit, die sich bei diesem Mensch aber nicht mehr ändern wird. Irgendwie klar, dass sich das nicht gut anfühlen kann. Denn das Leben des Erkrankten wird pauschal abgewertet und auf nur einen Aspekt reduziert. Nämlich den der Krankheit. Diese Erkrankung ist auch fies, aber mein Sohn hat so viel mehr zu bieten und erlebt ja trotzdem auch genauso Begeisterung, Liebe und Abenteuer wie andere Kinder auch. 

Was ist das Schwerste für Dich/Euch an der ganzen Sache?

Die Gewissheit: Tourette ist Stand heute nicht heilbar. Das Ungewisse: Man weiß nicht, wie der nächste Tag sein wird. Und man weiß nicht, wie sehr ihn Tourette in seinem zukünftigen Leben beeinträchtigen wird. 

Was hast du durch Tourette über dich/Euch gelernt?

Kinder brauchen eine gute Begleitung in Form von Erklärungen und Sicherheit. Resilienz ist eine wundervolle und erlernbare Gabe, diese gepaart mit Liebe und Humor macht einen unschlagbar. Es gibt gute und es gibt schlechte Tage. Letztere sollte man nicht überbewerten. Und mir persönlich ist noch bewusster geworden, dass man Menschen nicht auf einen Aspekt reduzieren sollte. 

Was wünscht du dir für die Zukunft?

Viele milde Phasen für meinen Jungen. Gute Freunde und anständige Mitmenschen in seinem Umfeld. 

Was willst du noch unbedingt sagen? 

Bitte sprecht vor allem mit euren Kindern über diese Erkrankung, besonders wenn euer Kind in der Schule jemanden kennen sollte, der „immer so komische Bewegungen oder Geräusche macht“. Und nicht vergessen – mehr Verständnis, weniger Mitleid 😉

Foto: Pixabay

0251991344984756acec40231b37dacb

Du magst vielleicht auch


5 comments

    1. Hallo Rebekka, bitte entschuldige die späte Antwort.
      Ja, dieser Kanal ist so gut wie jedem, der mit diesem Syndrom zu tun hat, bekannt. Leider ist es auch ein sehr umstrittener Kanal. Das hat unterschiedliche Gründe. Zum einen gibt es nach Auffassung der Tourette-Community nur recht wenige Videos, die wirklich gezielt aufklären. Viele Videos werden eher als Unterhaltung gewertet. Zum Anderen ist es tatsächlich so, dass Jan und Tim, die Macher des Kanals, eine App herausgebracht haben, auf welcher man Jans Tics als Audiodatei downloaden und wiedergeben kann. Gegen Bezahlung versteht sich. Das erntete heftigste Kritik – und meine Meinung dazu ist, zu recht!

      Grundsätzlich finde ich den Kanal gut, da er Aufmerksamkeit schafft und die Jungs auch sympathisch sind. Allerdings sieht meine Tochter, die älter ist als mein an Tourette erkrankter Sohn, auf dem Schulhof auch schon Jugendliche, die Jans Tics wie „Pommes“ oder „Bombe“ nachäffen oder über die App abspielen, wenn sie jemanden hänseln wollen. Das hat am Ende nichts mit Verständnis – mehr mit Belustigung – zu tun.

      Sehr schön ist aber zu hören, dass dein Sohn sich auch die wichtigen Infos rausgezogen hat. Super! Danke für deinen Beitrag!

  1. Hallo, wir leben in Norwegen, hier gibt es einen Musiker, der das Tourette Syndrom hat. Er ist hier total beliebt und alle wissen, dass er Tics hat, er nennt sich auch TIX. Und er erzählt auch darüber, wie er in seiner Kindheit deswegen gemobbt wurde. Es ist einfach wunderbar zu sehen, dass schon die Kinder, weil sie ihn und seine Musik mögen, etwas über die Krankheit lernen, sie als etwas relativ Selbstverständliches akzeptieren und gleichzeitig sehen, dass jemand, der Tics hat, nicht groß anders ist als sie selbst. Hier wird dadurch das Thema Tourette schon unter Achtjährigen diskutiert 😊

    1. Hallo Andrea, das ist toll und seit dem ESC kennen wir Tix natürlich auch in Deutschland.
      Genau diese Betrachtung als Selbstverständlichkeit ist das Ziel. Kenne ein paar Tourette-Erkrankte die in den 70er Jahren ihre Kindheit mit der Erkrankung verbrachten. Die Geschichten sind herzzerreißend. Sie wurden – bei absolut normaler bis überdurchschnittlicher Intelligenz – oft als Geisteskrank eingestuft und ihnen wurde somit die Chance auf ein normales Leben genommen. Man wusste es nicht besser. Heute, bei all dem Zugang zu Allgemeinwissen, darf es einfach nicht sein, dass wir wegschauen, wenn diese Kinder und Erwachsenen ausgegrenzt oder gemobbt werden. Liebe Grüße

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert