Trauer um Paul: „Seit er nicht mehr da ist, weiß ich kaum noch etwas mir mir anzufangen“

Paul

Liebe Jill, wir haben im November 2017 schon mal ein Interview mit dir über deinen schwer behinderten Sohn geführt. Paul ist letztes Jahr verstorben. Kannst du uns davon erzählen?

Mein Sohn Paul ist am 03.09.2019 überraschend verstorben. Er war unruhig an dem Abend, hat dann auch schlecht geschlafen und ich hab noch bis 3 Uhr morgens an seinem Bett gesessen. Ich war so müde, dass ich ihm dann gesagt habe, dass ich jetzt auch ins Bett gehen würde und ihn lieb habe. Kurz darauf muss er gestorben sein.

Als ich morgens um halb sieben in sein Zimmer gekommen bin, lag er in seinem Bett und hat nicht geatmet. Ich war völlig kopflos, habe meinen jüngeren Sohn durch Schreien geweckt und den Notarzt gerufen. Bis dieser da war, habe ich versucht, Paul zu reanimieren. Sobald der Notarzt da war, hat er es weiter versucht – fast eine Stunde lang, weil ich gebettelt habe, dass sie nicht aufhören sollen.

Irgendwann kam der Notarzt aus dem Zimmer und sagte mir, dass sie jetzt aufhören müssten, weil es aus ärztlicher Sicht nicht mehr vertretbar sei weiter zu machen. 

Kannst du sagen, was da in deinem Kopf vor sich ging?

Mein erster Gedanke war, dass ich auch nicht mehr leben möchte. Aber dann kam auch schnell der Gedanke, dass ich ja noch ein Kind habe, das mich braucht.

Wir haben den Hausarzt gerufen, der den Totenschein ausfüllen muss. Da Paul ja durch einen Behandlungsfehler schwer behindert war, wurde als Todesursache „unklar“ eingetragen. Somit kam dann auch die Kriminalpolizei und Pauls Zimmer wurde erstmal zu einem potentiellen Tatort.

Ich durfte nicht mehr ohne Begleitung zu ihm. Sein Bruder und ich haben bei ihm am Bett gestanden und ihn gestreichelt und mit ihm geredet. Es war alles so unwirklich. Ich habe die Familie angerufen und seine Schulbetreuer. Alle sind gekommen, um sich von ihm zu verabschieden. Dann wurde Paul in die Gerichtsmedizin überstellt. Leider haben sie sich mit der Autopsie so lange Zeit gelassen, so dass ich meinen Sohn vor der Beisetzung nicht noch mal sehen durfte. Das macht mich unendlich traurig. 

Wie war Pauls Beerdigung?

Ich hatte mir nie einen Plan für Pauls Beerdigung gemacht, Paul sollte ja nicht vor mir sterben. Und mit Paul konnte man nicht darüber sprechen, was er sich für diesen Fall wünscht.

Pauls Bruder hat viele Entscheidungen getroffen. Obwohl er erst 13 Jahre alt war, war er sehr klar in seinen Gedanken und Wünschen für seinen Bruder. Ich dachte zum Beispiel an eine Waldbestattung, aber sein Bruder sagte, dass Paul nicht in der Erde eingesperrt sein soll. Schließlich sei er 18 lange lang in seinem Körper eingesperrt gewesen und nun solle er endlich frei sein. Er wünschte sich eine Seebestattung für seinen Bruder.

Das passte: Paul ist Sternzeichen Krebs und Krebse gehören ins Wasser. Paul wurde dann im Oktober bei uns im Meer beigesetzt. In der Nähe eines Leuchturms. Die Musik hat sein Bruder ausgesucht, wir haben die Urne zusammen bemalt und Steine aus dem Garten mit Wünschen. Als wir auf dem Meer waren, war der Himmel sehr grau und bewölkt, aber als der Kapitän die Urne zu Wasser gelassen hat, riss die Wolkendecke auf und durch eine kleine Lücke schien die Sonne und eine Möwe tauchte am Horizont auf. Das war wie ein letzter Gruß.

Du hast Paul 18 Jahre lang gepflegt. Kannst du nochmal sagen, wo er wegen seiner Behinderung überall Hilfe gebraucht hat?

Paul war mit seinen 18 Jahren auf dem Stand eines wenige Tagen alten Säuglings. Er hatte keine Kopf- Rumpfkontrolle, konnte nicht fixieren, greifen oder reden. Er brauchte 24/7 Betreuung und Pflege. Durch die Hirnschädigung hat er ein multifokales therapieresistentes Anfallsleiden entwickelt. An schlechten Tagen hatten wir 120 Anfälle oder auch einen Epilepsie Status. Die Anfälle waren für mich besonders schlimm, weil ich nur dabei stehen und nicht helfen konnte.  

Das war 18 Jahre lang ein Fulltime-Job, der nun plötzlich wegfällt. Wie ist das für dich?

Paul war meine Lebensaufgabe und mein Lebensmittelpunkt. Ich hatte immer Angst um ihn – auch, weil er mir ja nicht sagen konnte, was er möchte, ob ihm was weh tut. Dazu kam das permanent schlechte Gewissen nicht genug zu tun, ihn nicht beschützt zu haben vor dem Behandlungsfehler, der aus einem gesunden Kind einen schwerst mehrfach behinderten Jungen gemacht hat. Ich hatte auch seinem Bruder gegenüber immer ein schlechtes Gewissen, dass er zu kurz kommt.

Jetzt, wo mein Pauli nicht mehr da ist und ich soviel „ Freizeit“ habe, weiß ich nichts mit mir anzufangen, es fühlt sich auch alles falsch an. Warum sollte ich lachen, wenn mein Sohn nicht mehr lachen kann? Warum schöne Dinge unternehmen, wenn mein Sohn nicht da ist und sie auch erleben kann? 

Ich war als Mutter nicht da, als er gestorben ist, ich habe es nicht verhindert. Sein Bruder sagt immer, ich soll daran denken, dass Paul 18 Jahre gekämpft hat, um bei uns zu sein – und dass man mit 18 selbst entscheiden kann, so wie man vielleicht in eine eigene Wohnung ziehen würde.

Die Trauer kommt erst jetzt richtig bei mir durch, vorher musste ich ja funktionieren und so viele Dinge erledigen. Am meisten nervt es mich, dass manche Menschen der Meinung sind, ich könnte mich mal zusammenreißen oder ich soll mir eine Ablenkung suchen.

Wir haben neulich eine Reportage über Eltern von pflegebedürftigen Kindern geteilt, die zeigt, wie schwer es ist, die Beziehung aufrechtzuerhalten. Auch Pauls Vater und du, ihr habt euch getrennt. Was sind die größten Herausforderungen für Eltern von Kindern mit Behinderung?

Ich glaube die größte Herausforderung ist allem gerecht zu werden. Ein behindertes Kind ist zeitintensiv, mit vielen Sorgen und Ängsten verbunden. Man hat viele Termine, man ist nicht mehr spontan, alles muss sekundengenau geplant werden. Meist muss einer seinen Job aufgeben, Sozialkontakte gehen gegen Null und auch der Freundeskreis wird schnell sehr überschaulich.

Dazu kommt, dass viele Väter ganz anders mit der Behinderung umgehen als Mütter. Es folgen Frust, Streit und Vorwürfe. Wie soll man sich auf einen Partner konzentrieren, wenn man kaum noch Zeit für sich selber hat? Wenn der Partner keine Stütze ist, sondern zur zusätzlichen Belastung wird… ich kenne sehr wenige Paare, die nicht daran zerbrochen sind. 

Eine Mutter sagt in der Reportage, dass sie sowieso keinen anderen Partner mehr findet, weil sich niemand eine Partnerin mit einem pflegebedürftigen Kind aussucht. Würdest du dem zustimmen?

Ja, absolut. Ich glaube nicht, dass man mit einem behinderten Kind gut einen neuen Partner findet – wo sollte man den auch finden? Man kommt nicht so raus wie mit gesunden Kindern und den meisten ist die Verantwortung dafür zu viel. Die meisten Mütter, die ich kenne, sind so stark geworden. Frauen, die genau wissen was sie wollen – das kann auch abschreckend sein… 

Was tust du, wenn die Trauer um Paul zu groß wird?

Ja die Trauer… wenn es dafür bloß ein Patentrezept gäbe. Ich weine viel, ich rede mit Paul und ich schreibe meine Gedanken und Gefühle auf. Ich versuche, das alleine mit mir auszumachen. Ich möchte nicht, dass mein anderer Sohn das mitbekommt – er musste genug erleben, er soll nicht noch ständig eine traurige Mutter vor sich haben.

Ich habe versucht, eine Trauergruppe zu finden, leider ohne Erfolg. In den meisten geht es um Lebenspartner, da ist der Schwerpunkt ganz anders. Und die Gruppe für verwaiste Eltern und Geschwisterkinder ist leider voll.

Was wünscht du dir für dich und dein Leben?

Weniger Schuldgefühle, ein wenig Unbeschwertheit. Dass ich es schaffe, meinem verbleibenden Sohn ein schönes Leben zu bereiten und ich Paul eines Tages wiedersehen darf. 

HIER könnt Ihr das erste Interview mit Jill aus dem Jahr 2017 lesen: https://www.stadtlandmama.de/content/irreparabler-hirnschaden-unser-sohn-kam-gesund-zur-welt-dann-uebersahen-die-aerzte-etwas-wichtiges

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4 comments

  1. Liebe Jill, DANKE dass du uns an deinen Erlebnissen und Gefühlen teilhaben lässt. Ich finde euren Weg der Bestattung sooo so schön, so persönlich. Hut ab vor dem Gedanken des kleinen Bruders. Was das „Alleine-Lassen“ betrifft, verstehe ich voll und ganz deine Gefühle,… wir hatten (und haben sie zum Teil nach wie vor) diese im Zusammenhang mit Papas Tod auch. Aber eine Freundin, die im Seniorenheim arbeitet, hat mir gesagt, dass sie felsenfest überzeugt ist, dass Sterbende selber entscheiden, ob sie allein oder in Begleitung sterben. In unserem Fall glaube ich inzwischen, dass Papa uns schützen wollte,… wir hätten ihn vor lauter Liebe nur schwer gegen lassen. Ich wünsche euch alles Liebe!

  2. Deine Lebensgeschichte hat mich sehr betroffen gemacht, und auch traurig. Es gibt für jeden Menschen Situationen, die mit einem hätte, wenn oder aber behaftet sind. Wäre ich nicht ins Bett gegangen, hätte ich noch gewartet…. Nein! Es war alles gut so, wie es war. Du hast nichts falsch gemacht, und du hast deinen Sohn gewiss nicht im Stich gelassen. Du hast so viel gegeben und warst für ihn da. Es gibt Grenzen, die unser Körper und auch unsere Seele uns setzt. Wir können sie nur eine zeit lang ignorieren. Es ist gut so, wie es ist. Du darfst dich freuen, dass dein Sohn nun nicht mehr eingesperrt ist in seine Behinderung und dass du nun Zeit hast, das Leben für dein zweites Kind und dich gut und schön zu gestalten. Das darfst du!! Das Ende kommt für uns alle, irgendwann. Vielleicht gibt es ja auch ein Wiedersehen, wer weiß?
    Alles Gute für dich!

    1. Liebe Jill,
      nimm dir alle Zeit die du brauchst zum trauern, bei uns haben die ersten zwei Monate nach dem Tod unseres Sohnes erklärt, daß das Leben weitergehen muß. Viele verstehen nicht, daß diese Sätze wehtun. Ich habe damals ein Jahr unseren Sohn gepflegt und danach war es als hätte ich keine Aufgabe mehr fast sls gäbr es mich nicht mehr. Uns hat damals eine Reha für verwaiste Familien geholfen, man kann auch als alleinstehend fahren und such für Geschwister gibt es Angebote, vielleicht hilft euch das. Sie nahmen die Familien erst wenn die Kinder schon mindestens ein halbes Jahr alt ist, da es dann erst Sinn macht, ich finde das sagt schon aus, daß man sehr lange braucht mit so einem Verlust gut weiterleben zu können.
      Liebe Grüße Yvonne

  3. Liebe Jill, deine Geschichte treibt mir die Tränen in die Augen. Ich habe wahnsinnig großen Respekt vor dir, du hast wirklich alles in deiner Macht stehende getan für deinen Sohn und ich bin ganz sicher, dass er das auch gespürt hat. Ich wünsche euch von Herzen ganz viel Kraft und Zuversicht und hoffe sehr, dass du eines Tages wieder lachen kannst und die Trauer nicht mehr alles überschattet-denn ich finde du hast das Recht, glücklich zu sein. Du nimmst keinem etwas weg, wenn du glücklich bist,im Gegenteil, Paul würde sich sicher freuen, wenn du wieder lachen kannst. Und natürlich auch Pauls Bruder, auch er freut sich über eine Mama, die Paul im Herzen trägt, aber ihr eigenes Leben auch Stück für Stück wieder genießen kann. Von Herzen alles Liebe und Gute für euch!

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