Ich habe einen Kater. Ein wunderschöner, feuchtfröhlicher Abend mit ganz unterschiedlichen Frauen liegt hinter mir. Im einzigen Mexikaner weit und breit trafen wir uns zum jährlichen „Mama-Abend“ der örtlichen Kinderkrippe. Wir sprachen über Kinder, Arbeit und Männer, lachten und tranken. Irgendwann kam die Frage auf:
„Und, wie bist du eigentlich hier gelandet?“
Der Ort, in dem wir leben, gehört zu den hässlichsten Gemeinden, die ich kenne. Er liegt 20 Kilometer von München entfernt, besteht aus zwei Hauptstraßen und langweiligen Wohngebieten mit Reihenhäusern und Vorgärten. Es gibt hier nichts Besonderes zu sehen. Die Busanbindung zur S-Bahn-Station ist lückenhaft, sonntags fährt er gar nicht. So läuft man die lange Bahnhofstraße entlang, vorbei am einzigen Metzger, dem einzigen Feinkostladen und dem einzigen Biergarten. Bis man endlich eine der drei S-Bahnen pro Stunden erreicht, um in die rettende Großstadt zu entfliehen.
Wie also, bin ich bloß hier gelandet?
Fünf Jahre lang lebte ich mit meinem Partner glücklich in einer Dreizimmerwohnung am Englischen Garten direkt an der Tramstation. Wir liebten unsere Jobs, nach der Arbeit trafen wir uns mit Freunden, um in der Isar zu schwimmen, ins Café zu gehen oder den neuesten Kinofilm anzuschauen.
Dann heirateten wir und ich wurde schwanger. Plötzlich änderte sich mein Blick auf unser Zuhause. Wo würde unser Kind draußen spielen – auf einem der überfüllten Spielplätze? Wo könnten wir Gemüse anpflanzen, ein Haustier halten, einen Sandkasten aufbauen – auf dem Dreiquadratmeter-Balkon? Wo sollten die Großeltern schlafen, wenn sie uns besuchen kamen – im Durchgangszimmer auf der Couch? Sie wohnten alle mehrere Stunden entfernt. Ich konnte mir nicht vorstellen, hier ein Kind großzuziehen, ich wollte eine große Wohnung mit Garten. Ich wollte, dass unser Kind so aufwächst, wie ich selbst es erleben durfte. Mit Natur, Freiheiten und Platz.
Wir fingen an zu suchen. Und waren dabei nicht die einzigen. Hatten wir einen Besichtigungstermin ergattert, konkurrierten wir mit 20 anderen Paaren. Es waren enge Wohnungen mit winzigen Gärten, viele hundert Meter vom nächsten Grün entfernt. Den Zuschlag bekamen wir nie. Also inserierten wir in der Regionalzeitung. Auch dort: 20 Inserate, die genauso klangen wie unseres: „Junges Paar, bald zu dritt, sucht große Wohnung mit Garten“.
Doch dann, zwei Tage später, erhielten wir genau einen Anruf. Den Ort hatten wir noch nie gehört, wir mussten googlen. Eine mittelgroße Gemeinde an eine der S-Bahnlinien. Mein Mann sagte sofort: in den S-Bahn-Bereich ziehe ich nicht! Viel zu weit draußen. Doch ich wollte es mir wenigstens Mal anschauen. Es war ein Reihenhaus. Mit spießigem Vorgarten. Ein Steinlöwe mit bayerischem Wappen wachte auf dem Zaunpfosten.
Die Nachbarin reinigte ihre Steinplatten mit dem Hochdruckgerät. Fürchterlich! Innen angekommen staunten wir: so viele Zimmer! Und ein schnuckeliger Garten nur für uns. Um die Ecke begann das Feld, der Blick reichte weit: viele Felder, der Olympiaturm, dahinter die Alpen. Zwei Wochen hatten wir Zeit, es uns zu überlegen, dann würde das Haus anderweitig vergeben. Ich machte eine Pro-Kontra-Liste: Gästezimmer, Gemüsebeet und Pendeln versus Kulturangebot, Radfahren und hoher Miete. Die Argumente wogen sich genau auf.
Was also, sollten wir tun?
Aus dem Bauch heraus entschieden wir uns für ja. Beim Umzug war ich im siebten Monat schwanger und heulte wie ein Schlosshund, als ich unsere geliebte Stadtwohnung für die Übergabe putzte. „Merk dir genau, was du in der ersten Nacht träumst!“ sagten meine Freundinnen. Ich konnte mich nicht daran erinnern. Ängstlich achtete ich auf jedes negative Detail der neuen Umgebung. War nicht doch der störende Lärm der nahen Autobahn zu hören? War das Erdgeschoss nicht etwas zu dunkel? Die Nachbarn zu spießig? Die Natur gar keine Natur, sondern Monokultur?
Bis zur Geburt funktionierte ich, pendelte tapfer und umständlich zur Arbeit und versuchte, die positiven Seiten zu finden. Der nahegelegene Vogelbeobachtungsturm, der nette Besitzer des Asia-Ladens, die tollen Angebote für Kinder. Als es wärmer wurde, verbrachte ich viel Zeit im Garten. Der Blick endete an der Stellwand zum Nachbargarten. Was für ein trostloses Leben!
Nach der Geburt unseres Kindes hatte ich viel Zeit. Ich schob den Kinderwagen durch den Ort, vorbei an den immer gleichen Häusern und Gärten und langweilte mich. Der Versuch, Kontakt zu anderen Müttern aufzubauen, fruchtete nicht. Im Rückbildungskurs konnte ich mir mit keiner der Frauen vorstellen, befreundet zu sein. Sie redeten andauernd nur von ihren Kindern, Männern, Haustieren und Gärten.
Immer öfter nahm ich den Bus zur S-Bahn und fuhr in die Stadt, um meine alten Freundinnen zu treffen. Dort konnte ich es nicht fassen, dass ich dieses fantastische, bunte Stadtleben eingetauscht hatte gegen ein fades Dasein in der Vorstadt. War ich von allen guten Geistern verlassen gewesen?
Kinder sind dort glücklich, wo ihre Eltern glücklich sind. Sie brauchen weder Garten noch ein Gästezimmer für die Großeltern. Sie brauchen eine zufriedene Mama. Und das hatte unser Kind nicht. Ich war todunglücklich. Fragte Google: „Was tun, wenn man die falsche Entscheidung getroffen hat?“ und spielte mit dem Gedanken, meinen Mann zu überreden, wieder zurückzuziehen.
Warum bin ich also immer noch hier und betrinke mich mit anderen Mamis beim Mexikaner?
Weil ich erstmal einfach nur durchgehalten habe. Ich wollte dem Ort eine Chance geben. Also ging ich in die Offensive: ich sprach jede Mutter an, die einen Kinderwagen schob. Sechs gaben mir ihre Nummer, mit dreien kam ich gut aus. Ich meldete mich bei Kursen an: Babymassage, Pekip, Babyschwimmen. Aus jedem Kurs entstand ein Kontakt. Die Kontakte sammelte ich in einer WhatsApp-Gruppe, vernetzte die Frauen untereinander. Wir trafen uns spontan im einzigen Café, einem der Spielplätze oder am Baggersee. Gemeinsam schrieben wir eine Liste mit Verbesserungsvorschlägen für den Ort, eine überbrachte sie dem Bürgermeister persönlich. Ich forderte mehr Blumenwiesen als Gegenpol zu den Maisfeldern. Zwei Monate später wurden sie gesät. Ich sah: manchmal ist es auch gut, in einem kleineren Ort zu wohnen, hier kann man viel mitgestalten.
Fünf Monate nach der Geburt fing ich wieder an zu arbeiten, von zu Hause aus, 10 Stunden die Woche. Weitere acht Monate später dann 30 Stunden, zum Teil im Münchner Büro, zum Teil Zuhause. Ich ging wieder in mein altes Orchester, auch wenn ich dafür jeden Dienstag 50 Kilometer mit dem Auto fahren musste. Es war wie eine Befreiung. Stück für Stück eroberte ich mir mein Leben zurück. Mir war nicht mehr langweilig!
Je älter unser Kind wurde, desto mehr sah ich die positiven Seiten des Ortes. Hier bekam jedes Kind einen Platz in der einzigen Krippe, sie reichten einfach aus. Die Spielplätze waren nie überfüllt. In der Bücherei ging es gemütlich zu. Auf unserer Spielstraße ließ es sich wunderbar Puky fahren. Die Kinder in der Reihenhaussiedlung besuchten sich gegenseitig in den Gärten oder spielten im Hof. Wir Eltern übernahmen abwechselnd die Aufsicht oder trafen uns gemeinsam auf der Bank mit einem kühlen Radler.
Wir luden uns spontan zum Grillen ein, borgten uns Werkzeug aus und halfen beim Baumschnitt. Es war immer was los, so konnte es bleiben.
Nach wöchentlichen Kinoabenden, einer Auswahl an Cafés und dem überfüllten Englischen Garten sehnte ich mich immer weniger. Einladungen in die Stadt nahm ich jedoch stets an. Was für ein Genuss, auf einer WG-Party zu tanzen, mit Freunden ein Konzert zu genießen oder ein Museum zu besichtigen! Das alles war nur 25 Autominuten entfernt. Es schlugen nun zwei Herzen in meiner Brust. Ich nahm die Vorteile der Großstadt viel intensiver wahr, freute mich jedoch danach auf Zuhause. Hier konnte sich mein Blick am Horizont ausruhen und meine Seele bei der Gartenarbeit Kraft tanken. Hier warteten neue Menschen, die ich liebgewonnen hatte, auf mich. Hier war mein Herz. In der hässlichsten Gemeinde, die ich kenne, aber auch der herzlichsten.
Home is where your heart is – ob in der Stadt, der Vorstadt oder auf dem Land – für mich ist das vollkommen egal. Ich bin fest davon überzeugt, dass man überall glücklich sein kann, wo man seinen Interessen nachgehen kann und die richtigen Menschen um einen herum sind. So wie die lustigen Frauen vom gestrigen Mama-Abend. Ich freue mich schon auf die nächste Cocktailrunde beim einzigen Mexikaner!
3 comments
Danke! Ich sitze in Köln auf meinen 2qm Balkon, dank Corona höre ich nur die Vögel zwitschern. Undenkbar sonst an einem Samstag in einer ruhigen Nebenstraße der Ringe. Mit meinen 2 Töchtern zu viert auf 80qm geht es nicht mehr länger so weiter. Die hässlichen, bezahlbaren Vorstädte und -Orte rücken mit all diesen Gedanken näher. Es tut gut, deine Reise zu „Home is, where your heart is“ zu lesen. Alles wird gut…
Vorstadt – Vorort
Danke für den lustigen Beitrag. Ich hab ihn echt gern gelesen. Dennoch fällt mir auf, dass du nicht von der Vorstadt sprichst. Denn die Vorstadt gehört zur Stadt selber ist ist eigentlich immer noch relativ urban. Die Gegend, in die du gezogen bist, ist ein Vorort. Zwischen Vorort und Vorstadt gibt es wirklich riesige Unterschiede.
LG, Meli
Danke
Ein sehr süßer Beitrag. Ich musste so schmunzeln. Wir haben das unvorstellbare Glück eine bezahlbare große Wohnung in den Hamburger Elbvororten ergattert zu haben in der wir seit fast 10 Jahren wohnen. Wir haben einen großen Gemeinschaftsgarten mit Basketballkorb, Fussballtoren, Schaukel und Inlineskatebahn. In unserem 3-Parteien-Haus geht es sehr harmonisch zu. Alle haben Kinder und passen gegenseitig auf Haustiere und Grünpflanzen auf, wenn jemand mal im Urlaub ist. Die Schulen sind in Wurfnähe und die Innenstadt in 20 Minuten S-Bahn zu erreichen. Wir haben also Glück gehabt. Der einzige Wehrmutstropfen ist in der Tat, dass die Leute sich hier gerne hinter den spießigen Hecken ihrer großen Vorstadthäuser verstecken. Da fehlt manchmal das Lebendige, Spontane der Stadt (haben früher direkt in der Stadt gewohnt) aber wir wollen nicht mehr tauschen. Liebe Grüße