Ihr Lieben, neulich haben wir einen Artikel geteilt, in dem stand, dass knapp 56.000 Schülerinnen und Schüler in Deutschland die allgemeinbildende Schule nach dem Ende ihrer Schulpflicht ohne Schulabschluss verlassen haben. Damit lag ihr Anteil bei 7,2 Prozent der entsprechenden Alterskohorte.
56000 Jugendliche, von denen sicherlich einige schon jahrelang Probleme in der Schule hatten und/oder die einfach nicht ins System gepasst haben. Auf diesen Artikel meldete sich unsere Leserin Julia, für deren Sohn auch die gesamte Schulzeit eine Qual war – er hat nun aber tatsächlich einen Abschluss geschafft. „Wir haben bis zuletzt Blut und Wasser geschwitzt, aber es hat geklappt“, sagte und Julia. Bei uns erzählt sie die ganze Geschichte.
Liebe Julia, wer gehört alles zu eurer Familie?
Wir leben mit unseren beiden Teenies in Hessen in einer Kleinstadt. Unser Sohn befindet sich in der Ausbildung, unsere Tochter ist Schülerin. Mein Mann arbeitet als selbstständiger Handwerksmeister, ich als kaufmännische Angestellte in Teilzeit.
Heute geht es um das Thema Schulabschluss. Bei deinem Sohn war es lange Zeit nicht klar, ob er einen Abschluss schafft. Lass mal zurück schauen: Wie waren die ersten Jahre der Schule?
Unser Sohn wurde in einer Förderschule für Sprache in der Eingangsklasse eingeschult. Die Schule befand sich nicht an unserem Wohnort, er wurde täglich von einem Kleinbus abgeholt, Kitafreunde hatte er dort nicht. Diese Eingangsklasse war der ersten Klasse vorgeschaltet. Innerhalb dieses Jahres entschlossen wir uns gemeinsam mit der Lehrerin und dem Schulamt, dass er nach diesem Jahr die kleine Grundschule in unserer unmittelbaren Nähe als Inklusionsschüler besuchen sollte.
Diese 4 Jahre Grundschulzeit liefen mit den engagierten Lehrern und Sonderpädagogen gut, es war oft anstrengend für alle Beteiligten, trotzdem war er gut aufgehoben und wurde gefördert, gesehen und verstanden.
Ab wann hast du gemerkt, dass er sich in einigen Dingen schwer tut?
Es zeichnete sich in der Kindergartenzeit ab, dass er sich nicht zeitgerecht entwickelt. Besonders sprachlich und kognitiv, physisch war er fit. Er hatte schon damals eine kurze Konzentrationspanne und war ein eher lautes, körperliches Kind. Besonders das Lesen und Schreiben fielen sehr schwer, was dann später Auswirkungen auf fast jedes Schulfach hatte.
Wie haben denn die Lehrkräfte dein Kind eingeschätzt?
So wie wir. In vielerlei Hinsicht so, dass er nicht ins Schulsystem passte. Er konnte schlecht in den Reizen lernen, die eine sehr große, unruhige Schulklasse mit sich bringt, war schnell der „Klassenkasper“, lernte generell langsamer. Ständig wechselnde Klassenlehrer oder viel Vertretungsunterricht machten es ihm schwer. Lehrer, die nicht in der Sonderpädagogik ausgebildet waren, mussten irgendwie klarkommen.
Manchmal habe ich mich als Mutter von Lehrern unter Druck gesetzt gefühlt, auf medizinischer Ebene endlich Antworten und Lösungen zu finden, weil offensichtlich das Schulsystem oder der Lehrer als Mensch an Grenzen kam. Es gab aber keine Diagnose, ärztlich/psychologisch wurde er über all die Jahre immer wieder untersucht und getestet. Eine Verdachtsdiagnose wie z.B. ADHS, Asperger Autismus wurde nie aber bestätigt. Manchmal hätte ich mir eine Diagnose gewünscht.
Wie ging es deinem Kind damit, dass es schulisch so viele Misserfolge hatte?
Er war zornig, aggressiv, ihm war irgendwann alles egal, ob er von Mitschülern und Lehrern gemocht wurde oder welche Leistungen er erbringt. In der Schule und Zuhause war das Zusammenleben teilweise frustrierend und traurig, ich habe gehadert, hatte Schuldgefühle und unendliches Mitleid.
Was haben diese familiären Herausforderungen mit euch Eltern als Paar gemacht?
Mein Mann war meist optimistisch und dachte, dass dies nun schwierige Jahre sind, aber am Ende alles gut wird. Ich war skeptischer und hatte schlimme Szenarien für die Zukunft unseres Kindes im Kopf. Ich habe in der Zeit eine Angststörung entwickelt, habe wenig Positives empfunden.
Mal waren mein Mann und ich uns einander nah, mal war jeder eher in seiner Welt, auch weil wir uns aus vielen Gründen wenig Paarzeit nehmen konnten. Das ist heute einfacher.
Und hat sich dadurch auch die Beziehung zu eurem Sohn verändert?
Wut und Unverständnis ihm gegenüber spielten ehrlich gesagt manchmal eine Rolle, besonders als er älter wurde. Unser Alltag, sogar unser Urlaub, waren von der Schule, seinem Frust und unseren Sorgen geprägt.
Dennoch gab es immer glückliche Phasen und viele Momente, wo wir als Eltern sehr stolz und dankbar waren. Geliebt haben wir uns alle immer.
Wie ist die aktuelle Situation?
Er hat einen guten Realschulabschluss geschafft, wir sind unsagbar glücklich und erleichtert. Und das, obwohl er keinen Nachteilsausgleich genehmigt bekommen hat. Er hatte 11 Schuljahre einen NTA, ausgerechnet zur zentralen Abschlussprüfung bekamen wir Post aus dem Dezernat, dass er diesen für die Prüfung nicht erhält.
Der Schreck war groß, wir haben erfolglos rechtliche Schritte eingeleitet. Zu den Prüfungen lag er mit einer Mykoplasmen Pneumonie im Krankenhaus. Hatte dadurch zur Abschlussfeier in der Schule leider selbst noch kein Schulabschlusszeugnis in der Hand, musste alles mit fremden Prüfern und Menschen nachholen.
Bis zum Schluss hat es etwas länger gedauert, es waren immer Extrameilen erforderlich, aber am Ende gab es ein gutes Ergebnis. Das habe ich mir für die nächsten Jahre mitgenommen und vertraue inzwischen (so wie mein Mann es immer getan hat) darauf. Über unser Schulsystem könnte ich noch so vieles mehr schreiben, wir haben es insgesamt als ungerecht und großes Dilemma empfunden.
Weiß dein Sohn schon, was er beruflich machen möchte?
Er möchte ins Handwerk, nicht am Schreibtisch sitzen. Praktisch arbeiten, unterwegs sein, sich bewegen.
Was möchtest du anderen Eltern in so einer Situation sagen?
Es kann immer alles gut werden und vielleicht sogar viel besser, als man es hoffen gewagt hat! Wenn es hart ist: nur von Tag zu Tag leben, nicht zu weit denken.