Seit sieben Monaten in der Klinik: Meine 10-jährige Tochter hatte Suizid-Gedanken

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Ihr Lieben, man kann es gar nicht oft genug sagen, wie dankbar wir für euer Vertrauen sind. Das Leben ist nicht immer Instagram-tauglich, nicht immer bunt und easy. Viele von euch kämpfen Tag für Tag, geben ihr Bestes und mussten durch schwere Zeiten. Tina erzählt uns heute von ihrer Tochter und wie sie das letzte Jahr mit ihr erlebt hat.

Liebe Tina, erzähl uns erstmal ein bisschen was über deine Lebensumstände.

Ich habe 2 Kinder, einen Jungen (5) und ein Mädchen (10). Meine Tochter stammt aus einer früheren Beziehung, der Vater meines Sohnes ist mein aktueller Ehemann.

Derzeit mache ich eine Ausbildung zur Mamahilfe und ein Studium zur psychologischen Beraterin; gebe Kurse für Kinderyoga und unterstütze noch meinen Mann in seinem Betrieb. Mein Leben fühlt sich oft schwer an, auch wenn meine berufliche Neuorientierung mir gerade viel Leichtigkeit gibt.

Heute geht es um deine Tochter, sie seit 7 Monaten in einer Einrichtung lebt. Erzähl mal mehr von diesem Kind.

Meine Tochter ist 10 Jahre jung; war schon immer besonders und ein bisschen „schwieriger“. Man hat schon im Kleinkind-Alter gemerkt, dass sie sehr sehr lebhaft ist. Sie hatte immer schon Schwierigkeiten mit Grenzen und Regeln. Mal alleine spielen oder beschäftigen war für sie nicht machbar. Sie kann toll erzählen, ist unglaublich hilfsbereit und emphatisch, herzensgut und liebenswert.

Allerdings hat sie Momente, da verfällt sie in eine Art „Angriffsmodus“; da hält sie keine einzige Regel ein (und wir haben nicht übermäßig viele), diskutiert alles bis zum Äußersten aus, schreit, tobt, tritt gegen Möbelstücke, wird agressiv und böse.

Wann fingen die Probleme mit deiner Tochter an?

Die ersten Auffälligkeiten gab es, als mein Sohn zur Welt kam. Wir haben damals wirklich immer versucht, die nötige Aufmerksamkeit auch ihr zu schenken (Exklusivzeiten mit mir z.B.), Rituale wie das abendliche Vorlesen oder gemeinsame Aktivitäten beizubehalten. 

Als sie in die Schule kam, ging es richtig los. Sie konnte sich nicht konzentrieren, nicht richtig mitarbeiten, war frech zu Lehrern, hielt sich nicht an Regeln. Zuhause wurde die Problematik schlimmer; wie eben schon beschrieben, es gab Ausraster, sie war hyperaktiv, schwer zu begrenzen. 

Wie genau liefen die Ausraster ab?

Die Ausraster kamen manchmal wie aus dem Nichts, wegen Nichtigkeiten. Schranktüren wurden raus gerissen; sie schubste und schlug, war sehr frech und beschimpfte mich manchmal wirklich böse. Sie konnte schlecht schafen, teilweise war sie bis weit nach Mitternacht noch wach.

Wir haben dann den Schulwechsel zur einer Förderschule versucht, doch der hat nur temporär geholfen. Nach kurzer Zeit ging alles wieder von vorne los.

2020 bekam meine Tochter zu der Symptomatik der Hyperaktivität noch andere Symptome in Form von Fremd-und Eigengefährdungsgedanken.

Wie hat sich das auf euer Familienleben ausgewirkt?

Unsere Ehe konnte das irgendwann nicht mehr tragen, da wir uns wegen meiner Tochter immer wieder und oft gestritten haben. Gerade als Patchwork ist das noch mal eine Herausforderung. 2019 haben wir uns temporär getrennt, wir haben sogar unser Haus verkauft. 2020 haben wir uns wieder zusammen gerauft und eine neue Wohnung bezogen.

Wo habt ihr Hilfe bekommen?

Ich habe bereits einige Monate nach der Geburt meines Sohnes eine Diagnostik mit meiner Tochter machen lassen, dort wurde mir eine Familienhilfe empfohlen. Wir waren in den letzten 5 Jahren bei 4 verschiedenen Praxen; keiner konnte uns wirklich helfen.

Als sie 2020 Eigen-und Fremdgefährdungsgedanken hatte, kam meine Tochter auf Station einer Kinderpsychiatrie; dort wurde ihr endlich zumindest ADHS diagnostiziert. Insgesamt war sie 6 Monate dort, davon 2 vollstationär.

Wir hatten sicher 5 Familienhilfen von 2 verschiedenenen Trägern in der Familie. Als hilfreich habe ich das nie empfunden; teilweise wurde es mir sehr schwer gemacht.

Was ist passiert, dass ihr vor 7 Monaten gesagt habt: Zu Hause geht es nicht mehr?

Die ambulante Therapeutin meiner Tochter hat eine erneute, stationäre Diagnostik empfohlen. Ich war dagegen; ich wollte mein Kind nicht schon wieder „weggeben“und schon gar nicht in die Klinik, in der sie zuletzt war. Die Fallführung vom Jugendamt hat mir dann einer andere Klinik, ca 45km von uns empfohlen. Angedacht war eine neue Diagnostik (8 Wochen).

Die Symptomatik allerdings wurde immer schwerwiegender; sie sprach oft von fremd-und eigengefährdenden Gedanken, teilweise so schlimm, dass wir einen Abend mit dem Rettungswagen in die psychatrische Klinik gefahren sind.

Ich habe es einfach nicht mehr geschafft. Wenn dein Kind dir immer wieder schlimmste Gedanken mitteilt, bist du irgendwann nur noch hilflos. Ich habe immer versucht ihr zu helfen. Mit ihr „Skills“ ausgearbeitet, wie sie mit den Gedanken umgehen kann (Zwangsgedanken) nur leider konnte man nicht erkennen, ob sie das nur so sagt oder es auch in die Tat umsetzt.

Wo und wie lebt dein Kind heute?

Sie ist bis heute in der Klinik, genau genommen in einer Wohngruppe. Die Mädchen leben da mit ca 6-8 anderen Mädchen zusammen im Alter von 8-15 Jahren. Im Großen und Ganzen fühlt sie sich dort sehr wohl. Die Pädagogen der Wohngruppe sind ganz großartig und sie waren für mich eine enorme Stütze. Nach den 8 Wochen ging es in die Jugendhilfe. Eigentlich sollte sie dort nur das Schuljahr bleiben, aber ihr Aufenthalt dort wird sich verlängern. Da sie schulisch große Fortschritte macht, wollte ich ihr zumidest in dem Bereich eine Konstante bieten und sie nicht mitten im Schuljahr heraus reissen. 

Mene Tochter hat sich erst nach 6 Monaten so richtig geöffnet. Ich sehe sie jeden Donnerstag und 2 Samstage im Monat, 1 Samstag ist sie über Nacht, weil ich mir die Nächte mit ihrem Papa teile, der in einer anderen Stadt lebt. Manchmal sehe ich sie zusätzlich, da ich die ersten Monate weiter ihre Wäsche gewaschen habe. Oft bin ich auch nur für Kleinigkeiten oder für eine schnelle Umarmung zu ihr gefahren.

Wie geht es dir mit dieser Situation?

Oft sehr sehr schlecht. Ich habe dadurch körperlich sehr abgebaut, bin krank geworden und weine viel. An anderen Tagen bin ich wiederum dankbar, dass es diese Möglichkeit gab, denn alleine hätte ich es nicht mehr geschafft. Ich sehe es manchmal wie eine Internats-Beschulung mit dem Bonus, dass es Therapien gibt. Aber meine Tochter fehlt mir sehr.

Wie hat dein Umfeld darauf reagiert, dass deine Tochter nicht mehr zu Hause lebt?

Familie verständnisvoll, weil sie oft die Schwierigkeiten mit bekommen haben. Freunde teils verhalten; aber trotzdem gut, Bekannte eher negativ („ich könnte das ja nicht“…) Es wird schon viel getuschelt. Drei Freundschaften sind daran zerbrochen.

Gibt es irgendeinen Plan, wie es weiter geht? Was wünscht du dir?

Wahrscheinlich wird sie das 4. Schuljahr (sie kommt jetzt erst in die 4.Klasse) dort auch noch machen, wird dann wahrscheinlich im Sommer 23 entlassen. Ich wünsche mir, dass sie irgendwann wieder nach Hause kommt, dass ihre Gedanken (unter denen sie bis heute leidet) aufhören, dass sie eine fröhliche und unbeschwerte restliche Kindheit haben kann und im weiteren Leben zurecht kommt. Ich mache mir oft Sorgen, dass es ihr im späteren Leben seelisch deswegen nicht gut geht.Ich wünsche mir, dass wir irgendwann wieder alle zusammen sind und diese schwere Zeit hinter uns lassen können.

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12 comments

  1. Liebe Mama Tina,

    als Mutter vierer Kids von denen das Älteste Asperger Autist ist, ähnlich wie dein Kind liebenswert, eigentlich ungewoehnlich empathisch und aufgeschlossen allen gegenüber, kennen auch wir die Eigen -und Fremdgefaehrdungstendenzen seit seinem fünften Lebensjahr. Die sog.Ausraster haben hier alle in Mitleidenschaft gezogen, aber wohl auch besonders ihn selbst.
    Manchmal kommt es mir so vor, als wäre der Umgang der Außenwelt mit uns viel anstrengender, als die Ausraster ansich. Natürlich kennen wir mitleidige Blicke, Kopfschütteln und die üblichen Sprüche. Manchmal auch das Aufmerksam machen, dass wir ja noch die drei anderen hätten. Also ob das nicht klar wäre.
    Ich kann dich also sehr gut verstehen!
    Wenn du Interesse an einem privaten Austausch hast, melde dich gerne.

    Liebe Grüße.

    P.S.: Ich bin übrigens Heilpädagogin und strebe auch eine therapeutische Zusatzausbildung an.
    Vielleicht werden wir irgendwann mal die empathischsten Kolleginnen überhaupt, weil wir um die Probleme der Familien wirklich wissen…

  2. Ich wünsche dir und vor allem euch von Herzen, dass sich alles zum Guten wendet, sie zu euch zurück kommen kann und sie ihren Weg fürs Leben findet.
    ❤️

  3. Moin,
    Menschen die sagen, ich könnte das nicht, würden in so einer Situation also nicht alles tun, um dem Kind zu helfen.
    Welch Glück, dass deine Tochter dich hat, Tina.
    LG

    1. Dieses „ICH würde das ja nicht können“ ist einfach… sorry… gedankenloses Geschwätz. Bitte einfach ignorieren, nicht darüber nachdenken.

      Wir sind in einer ganz anderen Situation, ich muss aber für meine Tochter sehr viele medizinische Dinge tun, z.B. regelmäßig Infusionen legen. Das erspart ihr Krankenhausaufenthalte und ermöglicht ihr ein relativ normales Leben. Ich weiß gar nicht, WIE oft ich dieses „Also ICH könnte das ja nicht..“ schon gehört habe.

      Die Leute sind nicht in der Lage, sich in die andere Situation zu versetzen. Haben nur ihr Kind vor Augen, das diese Probleme nicht hat.
      Was sie sagen ist: „Ich mache mir gerade null Gedanken und würde das, was du tust, lieber nicht wollen.“
      Tja… ich würde das auch lieber nicht tun, aber es ist notwendig, alternativlos für mein Kind, also tue ich es für mein Kind, weil ich das Beste für mein Kind will, auch wenn es mir unglaublich schwer fällt. Dafür bin ich seine Mama.

      Du tust das für dein Kind, was in deiner Macht steht, selbst wenn es dich an deine Grenzen und darüber hinaus bringt. Das ist mehr als richtig! Und das Geschwätz von Unbeteiligten ist wirklich egal.

      1. Blüte
        Ich denke dieser ( und andere ) Satz drückt Hilflosigkeit im Umgang mit diesem Thema aus aber ganz sicher weder Bosheit noch Abwertung. Dieses Verständnisproblem kommt da allein von deiner Seite. Warum fühlst du dich so angegriffen? Diese Empathie und Toleranz die du dir wünschst hast du leider selbst nicht. Erwartest das du mit dieser barschen Haltung Verständnis und Zugewandheit erntest?

        1. Ach Silvia, in einem anderen Beitrag nannten Sie mich arrogant und stutenbissig, jetzt fehlt mir Empathie und Toleranz, barsch bin ich auch. Sie scheinen mich ja gut zu kennen. Da wissen Sie sicher auch, wie ich im Alltag auf solche Sätze reagiere.
          Und damit Sie es ganz klar haben und nicht wieder wüste Interpretationen in den Raum stellen. Mein Satz auf diese Entgegnung im Alltag lautet: „Wenn du es für dein Kind tun müsstest, würdest du es auch tun.“
          Ich erwarte weder Verständnis noch Zugewandtheit, aber Sie werden es nicht glauben, ich erhalte sie dennoch. Und trotzdem: Ich bin es innerlich mehr als leid diesen Satz zu hören, ich mag ihn nicht mehr hören und konfrontiere die Menschen, die ihn sagen, dennoch nicht mit dieser Haltung.
          Aber ich hielt es für durchaus angebracht, der Mutter im Beitrag, die diese Äußerung von Bekannten ebenfalls als negativ einstuft,zu signalisieren, dass ich das SEHR gut verstehe.
          Und ansonsten wäre ich Ihnen wirklich EXTREM verbunden, wenn Sie Ihre haltlosen Urteile über Menschen ,die Sie nicht kennen, unterlassen würden. Ich finde das ein wenig ermüdend.

        2. Ich gebe „Blüte“ in allem Recht. Lassen Sie es doch einfach. Sie, Silvia, bügeln über andere drüber – die dazu noch sehr gute Kommentare geben!!

    2. Vielleicht drückt dieser Satz “ich könnte das nicht“ aber auch unglücklich formulierte Anteilnahme aus? Dass einem bewusst ist, wie schwer es den Betroffenen gehen muss bzw. wie schwer es einem fallen würde, diese Entscheidungen treffen zu müssen? Möglicherweise ist es gar nicht wertend gemeint.
      Ich kann verstehen, dass dieser Satz trifft und als (Ab-)Wertung verstanden werden kann. Vielleicht ist es nur gar nicht vom Gegenüber so gemeint.

  4. Liebe Tina, jede Mama wird verstehen können, dass du deine Tochter vermisst und dies auch nicht das Familienleben ist, welches du dir für deine Zukunft ausgemalt hast, ABER es klingt ganz wunderbar nach viel Liebe und du tust alles dafür, dass es deiner Tochter gut geht. Das wird sie später sicher auch erinnern. Ich wünsche euch alles Gute für die Zukunft und natürlich, dass deine Tochter diese blöden Gedanken irgendwann entgültig los wird!

  5. danke das du so viele wege suchst deiner tochter zu helfen.
    meine eltern haben mir nie ! geholfen oder hilfe für mich gesucht. ich hatte als jugendliche sukzidale gedanken und es auch zweimal versucht umzusetzen. aber hilfe oder sonstiges wurde mir nie geboten…. ich kann das bis heute nicht verstehen, warum sich nur meine zwei jahre ältere schwester das gesehen hat und mir gezeigt hat das ich wichtig bin und sowas bitte nie wieder machen soll.

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