Liebe Nina, du hast viele Jahre lang eine schwere Essstörung gehabt. Wann trat sie erstmals auf und wie lange und wie hat sie sich im Laufe der Jahre entwickelt?
Die Essstörung hat sich ganz langsam eingeschlichen. Ich war etwa 12, als ich am Knie operiert wurde. Eine Arzthelferin hat sich meinen ausgefüllten Fragebogen angeschaut, auf dem auch mein Gewicht notiert war und hat in etwa gesagt „Du siehst gar nicht so aus, als würdest du so viel wiegen“. Damals wog ich ca 40 kg, leider weiß ich meine Größe nicht mehr. Dieser Satz war sicher nicht negativ gemeint, aber ab da bekam Gewicht für mich eine andere Rolle.
Familiär war es oft schwierig. Meine Eltern sind geschieden, meine Mutter hatte/hat ein Alkoholproblem und ihr zweiter Mann war sehr aggressiv. Es gab einige unschöne Erlebnisse und so führte eins zum andern.
Wie hat diese Essstörung Dein Leben geprägt?
Phasenweise sehr unterschiedlich. Es gab Zeiten, in denen ich neben Bulimie mit magersüchtigen Tendenzen auch in eine Sportsucht gefallen bin. Das war vor allem in der Oberstufe der Fall. Ich bin um 6:00 Uhr ins Fitnessstudio oder Schwimmbad, damit ich schon vor Schulbeginn ein besseres Gefühl hatte. In Freistunden und nach der Schule das Gleiche. Freundschaften haben natürlich darunter gelitten.
Ich hatte nicht mehr viel Zeit für anderes als Essen, Kotzen, Sport.. und wenn ich Phasen hatte, in denen ich fast nichts gegessen habe, war ich schlecht gelaunt. Oder wenn die Waage nicht das angezeigt hat, was ich mir gewünscht hätte. Ich denke es war für viele eine schwere und anstrengende Zeit. Mit 19 habe ich eine Therapie begonnen, damit wurde es langsam besser.
Wie war das Verhältnis zu Deiner Familie?
Mit meinem Vater habe ich grundsätzlich ein sehr gutes Verhältnis. Allerdings vertritt er die Meinung, dass Therapeuten selbst einen Therapeuten brauchen und man sich nur selbst helfen kann. Unterstützung war also nicht vorhanden. Auch Verständnis hat gefehlt. Ich glaube. es ist bis heute so, dass er denkt „ich hätte ja nur normal Essen müssen“.
Mit meiner Mutter habe ich mich nach Außen hin auch gut verstanden. In mir drin habe ich ihr aber für vieles Vorwürfe gemacht. Ihr gegenüber konnte ich sie allerdings nie äußern. Sie ist sehr depressiv und neigt zu suzidalen Gedanken. Ich hatte immer Angst, dass es meine Schuld wäre, wenn sie sich irgendwann etwas antut.
Dann bist du schwanger geworden. Ein Zeitpunkt für dich, um umzudenken…
Die Schwangerschaft kam ziemlich unerwartet. Aber ich habe mich von Anfang an gefreut. Zu der Zeit war ich mitten im Studium und in Prüfungsphasen wieder ganz tief in der Bulimie. Aber mit dem positiven Test habe ich mir geschworen, dass ich nicht mehr erbreche. Schließlich war ich plötzlich nicht mehr nur für mich verantwortlich, sondern auch für ein kleines Wesen (das mittlerweile schon 6 ist und einen 3-jährigen Bruder hat).
Mir war zu Beginn oft schlecht. Manchmal hätte ich mich gerne übergeben. Aber der Wunsch meinem Baby alle wichtigen Nährstoffe zu geben war größer. Ich war bei einer Ernährungsberatung, weil ich selbst keinerlei Gefühl für Menge und Ausgewogenheit hatte. Mein Gewicht war zu der Zeit relativ normal (54 kg/168cm). Bei Bulimie ist das aber nicht ungewöhnlich. Die Gewichtszunahme war anfangs nicht so leicht für mich. Ich habe meine Waage von zuhause verbannt und mich nur noch bei den Vorsorgeuntersuchungen gewogen. Dort hat man ja Kleidung an und ich kannte nie mein genaues Gewicht. Das war auch gut so.
Das muss alles sehr schwer gewesen sein…
Ich habe mir einfach immer wieder vor Augen geführt, für wen ich das mache. Wenn ich kurz davor war rückfällig zu werden, habe ich mir die Ultraschallbilder angeschaut und wusste sofort wieder, dass es sich lohnt stark zu bleiben. Ich war aber auch die komplette Schwangerschaft in therapeutischer Behandlung. Anfangs sogar 2x pro Woche, gegen Ende nur noch alle zwei Wochen. Meine Therapeutin hat mir wahnsinnig viel Halt gegeben. Sie war auch Ärztin (zwar keine Frauenärztin) und konnte mir auch aus medizinischer Sicht gut erklären, warum es so wichtig ist durchzuhalten.
Wie hast du dann die körperlichen Veränderungen in der Schwangerschaft erlebt?
Schlimm war für mich vor allem die Zeit, in der man gesehen hat, dass ich zugenommen habe, aber noch nicht erkennen konnte, dass es ein Schwangerschaftsbauch ist. Aber auch diese Zeit habe ich überstanden. Als es dann langsam eine Kugel wurde, mochte ich meinen Bauch sehr gerne. Hätte ich nie für möglich gehalten.
Wie ging es dir nach der Entbindung?
Nach der Geburt war ich erstmal mächtig stolz auf meinen kleinen Sohn. Mit mir kam ich die ersten Tage auch gut klar. Nach einem Besuch meiner Mutter (und dem Satz: „Also ich hatte zwei Wochen nach der Schwangerschaft nicht mehr so einen Bauch“) hat sich das geändert. Das gute Gefühl war nicht mehr so präsent. Das Stillen hat bei mir leider auch gar nicht geklappt (ich hatte mit 17 eine Brustverkleinerung und dabei sind wohl zu viele Milchkanäle gekappt worden), was mich auch sehr zurückgeworfen hat. Ich hatte das Gefühl total zu versagen. Alle können ihr Baby ernähren, nur ich/mein Körper schafft das nicht.
Aber dank einer wunderbaren Hebamme habe ich es geschafft, die Situation zu akzeptieren und auch ein bisschen anzunehmen.
Obwohl das Körpergefühl nicht mehr ganz so gut war, konnte ich mich mit der Zeit wieder mit ihm anfreunden. Rückwirkend kann ich gar nicht mehr genau sagen, wie ich es dazu kam. Gestärkt hat mich auf jeden Fall mein Mann (der immer hinter mir steht) und natürlich mein Zwerg, der mir immer wieder ein Lachen ins Gesicht gezaubert hat.
Doch dann hattest Du einen Rückfall….
Als ich wieder schwanger wurde, fielen mir die körperlichen Veränderungen deutlich leichter. Auch nach der Geburt hatte ich ein besseres Gefühl meinem Körper gegenüber. Als mein Kleiner 5 Wochen alt war, hatte ich einen epileptischen Anfall und es wurde Epilepsie diagnostiziert. Ich durfte nicht mehr Auto und Fahrrad fahren, konnte meine Berufsziele nicht mehr verfolgen (ich habe Lehramt studiert und hatte die Auflage fünf Jahre anfallsfrei zu sein, bevor ich mit den Kindern arbeiten darf) und es hat sich schlagartig alles verändert. Das geplante Referendariat musste ich absagen.
Das Ganze hat mich leider wieder in die Essstörung getrieben. Ich hatte das Gefühl keinerlei Kontrolle mehr zu haben. Ich war plötzlich darauf angewiesen, dass andere mir helfen (wenn ich z.B. zum Arzt musste etc.), musste mir eine berufliche Alternative suchen und sehr viel zu Fuß erledigen. Dadurch sind meine Schwangerschaftskilos schnell verschwunden. Nach und nach aber auch immer mehr zusätzliche. Über das Essen bzw Nicht-Essen konnte ich mir die fehlende Kontrolle holen. Ich bin dann für zwei Monate in die Klinik gegangen, in der ich früher schon öfter war. Dort hatte ich auch eine Therapeutin von früher, die mich kannte und genau wusste, wie sie mir helfen kann. Dafür bin ich ihr sehr dankbar.
Wie geht es Dir heute?
Heute geht es mir sehr gut. Ich habe 2017 eine Ausbildung begonnen, gerade bin ich mitten in den Abschlussprüfungen. Mein neuer Beruf macht mir sehr viel Spaß und ich weine dem Lehramt nicht hinterher. Essen wird nie so locker sein, wie es für gesunde Menschen ist, aber ich komme gut zurecht. Ich genieße das Leben mir meinen drei Männern (auch wenn es manchmal anstrengend ist 😉 ) und denke, dass ich auf einem guten Weg bin.
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