Nicht zu streng, nicht zu eng: Zwischen Schimpfen und falschem Verwöhnen

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Bin ich zu streng? Bin ich zu lasch? In welchen ganz konkreten Situationen habt ihr euch das in letzter Zeit in eurem Alltag mit den Kindern gefragt? Das haben wir euch gefragt und soooo viele Anfragen gehabt. Fünf davon haben wir Familienberaterin, Elterncoach und Autorin Inke Hummel vorgelegt. Ihr kennt sie von ihrem Buch über wilde Kinder, über schüchterne Kinder, von den Mönkel-Kinderbüchern und von ihrem bedürfnisorientierten Begleiter durch die Pubertät.

In ihrem neuen Buch „Nicht zu streng, nicht zu eng“, das heute im humboldt Verlag erscheint hilft sie, herausfordernde Situationen richtig einzuschätzen und gut mit ihnen umzugehen. Eine mega Chance für ein bisschen Hilfe und Input! Denn viele Eltern wechseln von „konfliktscheu und zu eng“ direkt zu „machtvoll und zu streng“. Doch es gibt eine gute Mitte, davon ist sie überzeugt.

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Inke Hummel. Foto: Benjamin Jenak, Veto Magazin

Situation 1: Geschwisterstreit und Strafen

Die Teenager-Brüder sitzen vor dem Fernseher und schauen ein Fußballspiel. Einer hat sein Handy in der Hand. Der andere nicht, weil wir es ihm abgenommen haben, nachdem er uns Eltern mit „Ich hasse euch“ anschrie und über dem vor seinen Augen von uns frisch gesaugten Kinderzimmerboden Brotchips verteilte und die frisch gewaschenen und gefalteten Kleidungsstücke mit dem Fuß umtrat. Mit Genugtuungs-Grinsen im Gesicht. Wir wussten uns, die wir sonst eher locker im Umgang sind, nicht anders zu helfen, als ihm daraufhin sein Smartphone abzunehmen. Um ein Zeichen zu setzen, dass hier eine Grenze überschritten wurde.

Nun fragt er vor dem Fernseher, ob er sein Handy wiederhaben könne. Der Vater verneint. Der Bruder grinst daraufhin spöttisch. Eine Provokation, die wir Eltern nicht mitbekommen. Daraufhin gibt es ein Handgemenge. Er reißt seinem Bruder das Handy aus der Hand. Schreien. Hauen. Wir ziehen die beiden auseinander, verbieten diese Übergriffigkeit, woraufhin das Kind wieder in seinen „War ja klar“-„Immer bin ich alles schuld“-Modus fällt. „DER provoziert mich und ICH krieg wieder den Ärger.“ Ja. Das ist so. Weil wir die leise Provokation des Bruders nicht mitbekommen hatten und nun wieder nur die Handgreiflichkeiten des anderen, eh grad pubertär-explosiven Bruders sehen. Wie können wir hier gerechter sein?  

Inke Hummel: Aus beziehungsorientierter Sicht gibt es hier zwei Bereiche, die besser gelöst werden könnten. Zum einen den Konflikt zwischen Eltern und Kind: Dinge passieren nicht im luftleeren Raum. Es hat einen guten Grund, wenn sich ein Teenager derartig verhält. Nehme ich sein Verhalten persönlich und nutze meine elterliche Position als Machtposition aus, indem ich Strafe, gehe ich in die Distanz, anstatt in Beziehung zu gehen und zu versuchen, mein Kind zu verstehen und die Situation zu lösen.

Die Eltern verhalten sich dann genauso herablassend, wie sie es ihrem Kind vorwerfen. Dabei möchten wir doch sein Verhalten verändern. Indem wir ihm etwas wegnehmen, wird es sich höchstens äußerlich anpassen: „Ich mache das aus Angst nicht mehr.“ oder „Ich mache das nicht mehr, weil mich die Folgen nerven.“ Aber ist es das, was man möchte?

Ich denke, im Grund wünscht man sich doch ein Kind, das versteht, warum ein Verhalten unangebracht ist, und das aus echter innerer Motivation heraus andere Wege wählt. Respektvoller mit uns Erwachsenen und unserer Arbeit (staubsaugen, Wäsche falten) umgeht. Jedes Mal, wenn wir es schaffen, in diesen Momenten klar Stopp zu sagen, weil ein Verhalten uns stresst, aber danach auch sofort wieder in Beziehung zu gehen, zu erzählen, wie wir uns damit fühlen, und zu klären, was los ist, geben wir unserem Kind die Chance auf eine Atempause und darauf, die Situation sinnvoll und nachhaltig zu lösen.

Ein weggenommenes Handy ändert nichts an der Lage. Eltern, die ihren Frust aussprechen, ihrem Kind bei seinem zuhören und mit dem Kind gemeinsam ans Beheben der Situation gehen (aufräumen, neu falten) aber schon. Innere Motivation kann wachsen, wenn unsere Kinder sich wirklich gesehen fühlen und außerdem mitfühlen dürfen, wie es uns geht. Hier sind die Eltern m.E. also zu streng gewesen, zu sehr in Distanz.

Zum anderen gab es den Streit zwischen den Geschwistern: Dabei immer sinnvoll zu agieren, fällt im Grunde allen Eltern schwer, denn es zehrt an den Nerven und wir sind es gewöhnt, Schuld zu suchen und schnell lösen zu wollen. „Gib das her!“, „Lass das sein“, „Du hast angefangen!“ – typische Sätze. Hier empfehle ich nicht reinzugrätschen mit einer Schuldzuweisung. „Was ist los?“, „Stopp, lasst uns erstmal klären, was hier passiert ist.“ und die Suche danach, wer was möchte oder nicht möchte, sind bessere Wegweiser. Dann kann man gerechter sein und helfen zu lösen. Hier sehe ich die Eltern nicht unbedingt als zu streng oder zu lasch, sondern nicht ganz sinnvoll aktiv.

Situation 2: Die Regeln der anderen

„Ich sage immer: Ich bin hart aber fair… Also sehr konsequent, aber solange sich die Kinder an die Regeln halten, dürfen sie auch viel. Trotzdem höre ich immer wieder mal, dass ihre Freunde mehr dürfen, z.B., dass der Fernseher da nonstop läuft, sie ins Bett gehen dürfen, wann sie wollen, sie sogar nachts ans Handy oder Tablet können, Süßigkeiten immer frei zugänglich sind und sie jederzeit naschen dürfen, soviel sie wollen – also null Regeln oder Kontrolle halt! Und das mit 7-8 Jahren!

Klar bin ich da im Vergleich „zu“ streng oder der ggf. die Spielverderberin, und ja das nervt, aber so dermaßen inkonsequent möchte ich echt nicht sein! Noch akzeptieren unsere Töchter das und geben sich meist mit dem zufrieden, was sie dürfen, aber ich fürchte, das wird mit zunehmendem Alter noch richtig Stress geben…

Inke Hummel: „Zu streng“ kann man ganz schlecht im Vergleich zu anderen feststellen. Jede Familie muss auf ihre Bedürfnisse und ihre Kinder schauen. Was tut den Kindern gut? Was macht ihnen Schwierigkeiten? Wie weit dürfen die Leitplanken gesteckt sein, so dass sie nicht eingeengt, aber auch nicht haltlos werden? Für mich klingt die Vorgehensweise erst einmal sehr gut: Es gibt Regeln, die den Kindern Raum lassen.

Aus beziehungsorientierter Sicht sollten die Regeln immer mal wieder angeschaut und überprüft werden: Was wünschen sich die Kinder und warum? Was stellen sich die Eltern vor und warum? Wovor bestehen Ängste, die vielleicht nicht begründet sind? Welche Sorgen gibt es aber zurecht, so dass das Regelwerk daran ausgerichtet sein sollte?

Kommunikation ist der Schlüssel. Und manchmal müssen wir es aushalten, dass die Kinder unsere Leitplanken nicht ganz nachvollziehen können. Manchmal aber auch, dass wir den Weg breiter machen, auch ein bisschen gegen unsere Mama- oder Papaherz. Gerade größeren Kindern müssen wir Autonomie zugestehen und Vertrauen schenken, also größere Spielräume mit einem Vertrauensvorschuss zugestehen. Das kann gut gehen und es kann schieflaufen. Dann muss man damit wieder neu umgehen.

Situation 3: Medienkonsum

Um das Thema Bildschirmzeiten drehten sich ca. 85% aller eingereichten Fragen. Hier zwei davon: „In Sachen Medienkonsum meint mein Großer (fast 13) immer, alle dürften mehr als er. Ich weiß, dass ich nicht laissez faire bin und mir relativ egal ist, wie andere ihre Dinge handhaben. Aber manchmal verunsichert es schon…“

„Bei uns ist es auch der Medienkonsum. Sicher liegt das auch mit am Alter, mit 11,5 spielt man halt nicht mehr so viel draußen im Garten. Trotzdem bin ich da verunsichert, wie viel ok ist. Er telefoniert halt auch stundenlang mit seiner Freundin, die gerade in Quarantäne war, das schlägt sich auch in der Handynutzung nieder…“

Inke Hummel: Hier kann ich zu der Passage vorher und aufs Regelnfinden verweisen: Das ist immer individuell und darf ein Probieren in gegenseitigem Austausch sein. Gerade das Thema digitale Medien beschäftigt hier wahrscheinlich alle Eltern besonders intensiv. Und dahinter steckt fast immer Angst: Was machen die Kinder da? Was verpassen sie? Wird daraus eine Sucht? Vernachlässigen sie die Schule? Macht das aggressiv? Entfremdet es uns?

Ängste sind nie gut für die Eltern-Kind-Beziehung, denn wenn wir Großen Angst haben, geben wir den verspürten Druck auf unsere Kinder weiter. Wir streiten also mit ihnen, ohne ein gutes Ziel für unsere Kinder vor Augen zu haben; stattdessen wollen wir nur unsere Ängste loswerden.

Eltern empfinde ich dann als zu streng. Sie sind nicht in Beziehung zum Kind und blicken nicht sinnvoll auf sich selbst. Mein Tipp ist: Informieren (z.B. ab Mai mit dem Buch „Begleiten statt verbieten“ von Leonie Lutz und Anika Osthoff), für sich klären, was die Kinder da tun und ob es überhaupt bedenklich ist, mit den Kindern sprechen, zusammen Regeln finden, Vertrauensvorschuss geben. Vor allem wenn die Kinder ihre „Pflichten“ erledigen und ein buntes Leben neben den Medien haben, darf man gern großzügig sein.

Situation 4: Verschiedene Kinder

„Ich habe eine 8jährige Tochter und einen 2jährigen Sohn. Bei meiner Tochter war ich strenger… sie weiß bei mir, wie weit sie gehen kann. Und wann definitiv Schluss ist. Unser 2Jähriger hingegen ist ein richtiger Wusel. Bei ihm kann ich nicht wirklich streng sein, obwohl ich weiß, dass ich gerade bei ihm konsequent sein müsste… er haut, spuckt, geht über Tische und Bänke, wenn ich mit ihm schimpfe, dann lacht er… Ich hab das Gefühl, dass er mich nicht ernstnimmt. Er schmeißt gerne Sachen durch die Gegend… von jetzt auf gleich. Er hört auch nicht wirklich. Ich muss dazu sagen, dass das bei ihm eine sehr schwere natürliche Geburt war und wir ihn zweimal fast am Plötzlichen Kindstod verloren hätten… Ich kann ihm einfach nicht böse sein. Allerdings kann es so auch nicht weiter gehen.

Ich muss dazu sagen, dass das bei ihm eine sehr schwere natürliche Geburt war und wir ihn fast zweimal am Plötzlichen Kindstod verloren hätten… Ich kann ihm einfach nicht böse sein. Allerdings kann es so auch nicht weiter gehen.

Inke Hummel: Das ist eine klassische Situation, die ich häufig in der Beratung höre. Zum einen sind Kinder verschieden und benötigen unterschiedliche Begleitung. Das mal vorweg. Zum anderen sind unsere Ressourcen auch nicht immer gleich, so dass man mit sich nachsichtig sein darf, wenn man beim zweiten oder dritten Kind weniger Kraft hat als beim ersten (und auch in einer Pandemie!).

In diesem Fall hier denke ich, dass es helfen würde, den 2-jährigen genauer kennenzulernen und zu verstehen. Was braucht er? Was sind seine guten Gründe für das gezeigte Verhalten?  Was sind alternative Lösungswege? Zum anderen wäre es sicher sinnvoll, wenn die Mutter auch gut auf sich schaut: Was macht ihr Angst bzw. sie so unsicher, dass sie sich scheut, dem Kind Konflikte und Neins zuzumuten? Was kann ihr helfen? Und wie kann dieser Weg aussehen auf eine beziehungsorientierte Art und Weise? Denn viele Eltern wechseln von konfliktscheu und zu eng direkt zu machtvoll und zu streng. Doch es gibt eine gute Mitte.

Mein Buch „Nicht zu streng, nicht zu eng“ soll genau dabei behilflich sein, diese Mitte sicher zu finden. (Hier gibt es eine kleine Leseprobe aus dem Buch. Wenn ihr mögt, signiere ich euch das Buch auch, dann bestellt es gern über info@humboldt.de.)

Situation 5: Unsicherheit

„Ich empfinde mich als relativ klar, was das Essen und Hauen angeht… in der Situation frage ich mich dann aber ständig, ob ich zu streng oder zu lasch bin. Beispiel: Quatsch beim Essen, aufspringen etc.: Ich ermahne ein paar Mal und habe das Gefühl, ich bin zu lasch… dann setzte ich es durch (z.B. Teller kommt weg), und empfinde mich direkt als zu streng. Beim Hauen ist es dasselbe: Da sage ich ganz klar „Ich lasse mich nicht hauen oder treten“ und geh sofort aus der Situation bzw. bringe meine Tochter in ein anderes Zimmer. Das endet in schlimmem Weinen und direktem Weiterhauen. Da wechsle ich auch ständig zwischen zu streng/ zu lasch 😕 Meine Tochter wird im Mai drei Jahre alt. 

Inke Hummel: Auch das klingt für mich nach Unsicherheit. Im Grunde ist der Weg relativ gut: Die Mutter zeigt, wie es ihr geht und wo ihr ein Verhalten zu weit geht. Sie hilft den Kindern mit Struktur und Leitplanken, gut mit der Welt zurechtzukommen. Es zunächst sehr liebevoll zu versuchen, ist auch schön.

Eventuell müsste sie etwas früher klarer werden, das kann ich aus der Ferne nicht beurteilen. Aber das geht vielen Eltern so: Sie bleiben noch unklar und konfliktscheu, wenn sie eigentlich schon längst spüren, dass das nicht mehr angebracht ist. Und dann fallen sie von jetzt auf gleich in die Härte und die Distanz. Das ist ganz menschlich, aber auch da kann man einen Mittelweg finden. In meinem Buch schaue ich mir verschiedene „Beziehungsschlüssel“ an und stelle Fragen, mit denen die Lesenden wieder Trittsicherheit bekommen. Eltern werden sicherer und konfliktfähiger, bleiben aber auch im Miteinander mit den Kindern. Denn das tut den Großen gut und ist das Beste für eine gesunde Entwicklung der Kleinen.

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