Schäm dich (nicht!) – wie wir unsere Kinder durch dieses Gefühl begleiten können

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Ihr Lieben, Heidemarie Brosche ist ja praktisch schon Dauergast bei uns im Blog. Sie ist Lehrerin und Mutter von drei Jungs und wir schätzen ihre Ansichten immer sehr. Sie hat mit uns schon über die Unbeliebtheit von Jungs gesprochen oder über die Enttäuschung, wenn Kinder sich ganz anders entwickeln als erhofft. Heute geht es um das Thema Scham bei Kindern und wie wir Eltern unsere Kinder hier gut begleiten können.

Liebe Heidi, heute geht es um das Thema Scham. Kannst du uns eine Geschichte erzählen, bei der du dich geschämt hast?

Ja, Scham ist ein wichtiges Thema, weil dieses Gefühl niemandem erspart bleibt. Natürlich habe auch ich intensive Scham-Erinnerungen. Zum Beispiel ist etwas bei mir in der Mädchenschule vorgefallen, als ich in der 3. Klasse war. Ein paar von uns Mädchen hatten wohl während der Pause von der einen Toilettenkabine in die andere gelinst. Und nun ging es darum, die Täterinnen dingfest zu machen.

Die Lehrerin stellte dazu eine ertappte Schülerin vor die Klasse und setzte sie verbal so unter Druck, dass sie eine weitere „Täterin“ verriet. Sie setzte das fort, und bald fiel mein Name. Ich war zwar wild entschlossen, keinen weiteren Namen zu nennen, aber dann bin ich doch eingeknickt. Was letztendlich dazu geführt hat, dass auch ich jemanden verriet, weiß ich nicht mehr. Dass es so war, habe ich bis heute nicht vergessen.

Noch immer spüre ich die brennende Scham darüber, zur Petze geworden zu sein. Auch an meine Scham anlässlich des Hallen-Sportunterrichts erinnere ich mich noch gut: Ich scheiterte an den Turngeräten nach allen Regeln der Unsportlichkeit und schämte mich schon immer, bevor ich wieder mal vor versammeltem Publikum als Witzfigur agieren musste.

Vermutlich geht es vielen erwachsenen Menschen so, die sich an ihre Kindheit oder Jugend zurückerinnern: Es tauchen höchst persönliche Scham-Momente auf. 

Davon bin ich überzeugt. Aber da auch das Verdrängen eine – wenn auch ungesunde – Möglichkeit der Schambewältigung ist, kann es sein, dass manche Menschen eben sagen: „Nö, ich erinnere mich nicht!“

Wann spüren Kinder das erste Mal das Gefühl der Scham?

Wenn ein Baby zur Welt kommt, schämt es sich naturlich erst mal nicht. Aber bereits im Laufe des ersten Lebensjahres geht es los: Kleine Kinder spüren schmerzhaft, wenn etwas schiefgeht oder wenn man sie von etwas ausschließt. Diese Vorstufe zur Scham geht im Laufe des zweiten Lebensjahres – nachdem Kinder längst mit den Gefühlen Freude, Wut und Angst Bekanntschaft gemacht haben  – in die Scham über. Denn genau jetzt passiert im Gehirn des Kindes ein entscheidender Entwicklungsschritt: Es kann sich »von außen« betrachten, so nach dem Motto: »Das bin also ich! So bin ich!«

Und jetzt kommt das für uns Eltern so Wichtige: Wie ein Kind sich von außen betrachtet, hängt davon ab, welche Erfahrungen es als Baby mit den Hauptbezugspersonen – und das sind nun mal meist wir Eltern – gemacht hat. Wenn das Baby liebevoll angelächelt wird und den Augenkontakt genießen kann, kann sich eine gesunde Scham entwickeln, denn das Bedürfnis nach Schutz, Zugehörigkeit und Anerkennung wird auf diese Weise befriedigt. Anders gesagt: Wenn so ein Menschlein die Sicherheit hat, sich bedingungslos geliebt zu fühlen, auch dann, wenn es – warum auch immer – schreit, ist es in der Lage, im weiteren Verlauf seines Lebens mit Schamerfahrungen angemessen umzugehen.

Und wenn das nicht geschieht?

Wenn diese wichtigen Grundbedürfnisse nicht erfüllt werden und die Kommunikation zwischen Eltern und Baby gestört ist, kann es dazu kommen, dass im Kind das Gefühl wächst: Ich habe nicht nur einen Fehler gemacht, nein, ich bin selbst ein Fehler. Und das wiederum kann der Grundstein für das sein, was man pathologische Scham nennt, also eine Scham, die nicht mehr normal, sondern krankhaft ist. Wir Eltern sind also auch in Bezug auf das Schamgefühl unserer Kinder sehr, sehr „mächtig“.

Aber es sind doch nicht nur die Eltern, die die Scham beeinflussen?!

Nein, das Urgefühl Scham ist zwar in allen Menschen angelegt. Aber wie sich so eine Schambiografie entwickelt, das hängt nicht nur von der bedingungslosen Liebe der Eltern ab, sondern zum Beispiel auch davon, wie die Einstellung zur Körperlichkeit ist und in welchem Kulturraum, zu welcher Zeit, mit welcher Religion ein Mensch aufwächst. 

Wann müssen Eltern denn mit besonders viel Scham bei ihren Kindern rechnen?

Verallgemeinern kann man hier gar nichts, weil Menschen eben Individuen sind, aber in der Pubertät gibt es schon besonders viele Schamanlässe. Weil man mit seinem Äußeren nicht zufrieden ist, weil man sich in der Gruppe als uncool empfindet, weil man das Gefühl hat, das einzige Wesen zu sein, das sich derart unvollkommen und ungeschickt durchs Leben bewegt. Dazu kommt so vieles rund um Körperlichkeit und Sexualität, was viele Jugendliche nicht unbedingt bereden wollen. Ich denke, die meisten von uns Erwachsenen erinnern sich auch noch an diese Zeit und die (Scham-)Gefühle, die sie damals belastet haben.

Wie sollten sich Eltern da am besten verhalten?

Ich denke, sie dürfen nicht erwarten, dass ihr Kind ihnen alles brühwarm erzählt, was ihm die Schamesröte ins Gesicht treibt – auch wenn das Verhältnis bisher ein sehr offenes war. Aber wenn sie ihrem Kind das Gefühl vermitteln, dass es jederzeit, bei wirklich jedem (Scham-)Anlass zu ihnen kommen kann, ohne mit Bewertungen oder gar Vorwürfen rechnen zu müssen, dann ist das schon ganz schön viel.

Das mit der Liebe ohne Bedingungen gilt ja nicht nur im Baby- und Kleinkindalter! Und natürlich kann es auch etwas helfen, wenn Lesestoff zum Thema vorhanden ist. Manchmal wollen junge Leute eben nicht reden, aber informieren wollen sie sich trotzdem. So bin ich ja auf die Idee zum Buch gekommen.

Erzähl mal mehr über das Buch.

Als Lehrerin von Jugendlichen wurde ich eben immer wieder mal mit der Scham der mir Anvertrauten konfrontiert. Selbstverständlich gab ich mir alle Mühe der Welt, niemals selbst zur Beschämerin zu werden. Aber wie oft ich dennoch die Scham von Schüler*innen gespürt habe, weil sie in Prüfungen scheiterten, weil sie von Mitschüler*innen gekränkt wurden oder weil man über sie lachte, z. B. anlässlich eines Pupses, der ihnen entfahren war …  – ich weiß es nicht mehr.

Ich weiß nur, dass ich oft dachte: Dieses Thema wiegt schwer auf den Schultern der Betroffenen. Und dass ich gespürt habe: Darüber zu reden, fällt den meisten schwer. Was ja verständlich ist! Und immer intensiver wurde mein Wunsch: Da müsste es eine Möglichkeit der Hilfe geben – etwas, wo sie nachlesen können, was es mit der Scham auf sich hat, dass es nicht nur ihnen so geht und wie sie damit umgehen können. Ja, und irgendwann haben all diese Gedanken dazu geführt, dass ich – gemeinsam mit Christine Paxmann – das Buch „Schäm dich (nicht)!“ geschrieben habe. Weil Scham eben ein so großes Gefühl ist! Und weil Kinder und Jugendliche so ein Buch klammheimlich befragen und zu Rate ziehen können.

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