Schwangerschaftsabbruch: „Kein Baby nach dem Tod meines Mannes“

Schwangerschaftsabbruch

Ihr Lieben, dies ist ein ganz besonderer Text von Anja Plechinger von Trostkunst. Nicht nur mussten wir kein einziges Wort ändern, weil sie schreibt wie gedruckt, nein, uns hat der Beitrag auch emotional sehr gepackt. Erst starb Anjas Mann neun Monate nach der Geburt ihres ersten Kindes. Dann verliebte sie sich neu, war viel zu schnell schwanger und entschied sich schließlich für einen Schwangerschaftsabbruch, um der jungen Liebe noch etwas Zeit zu geben.

Kurz darauf wurde sie jedoch wieder schwanger und neun Monate später kam ihre lebenshungrige Tochter zur Welt. Was für eine Achterbahn der Gefühle. Hier erzählt Anja ihre Geschichte.

„Ich lag noch im Bett und wartete auf das Zeichen meines aufgeregten Sohnes. Es war mein Geburtstag und gleich würde ich von ihm ins Geburtstagszimmer geholt werden. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht. Kurz darauf spürte ich wieder dieses nervöse Herzklopfen, das mich schon die letzten Tage über begleitet hatte. „Krass“, ging es mir durch den Kopf, „der Tag, an dem mir mein Leben geschenkt wurde, ist der Tag, an dem ich mein Baby abtreiben werde.“

Seltsame Mischung aus tiefer Leere und absolutem Gefühlszuviel

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Viel länger konnte ich diesem bitteren Gedanken nicht nachgehen, denn mein Sohn war zurück und zog mich freudestrahlend ins Wohnzimmer, wo er mir zusammen mit meinem Freund zu meinem Ehrentag gratulierte. Nachdem ich ihn in den Kindergarten gebracht hatte, blieb mir noch etwas Zeit bis zu meinem Termin beim Frauenarzt und ich fuhr zurück nach Hause. Setzte mich in die Küche, machte mir einen grünen Tee, stellte das Handy auf stumm und starrte an die gelbe Wand.

Ich fühlte eine seltsame Mischung aus tiefer Leere und absolutem Gefühlszuviel. Ich hatte Angst vor dem, was passieren würde. Angst, was es mit mir und meinem Körper machen würde. Spürte, wie mich die Situation überforderte. Doch gleichzeitig war da auch ganz viel Klarheit in mir: Ich zweifelte nicht an unserer Entscheidung und dem Weg, den diese nach sich zog. Gemeinsam und selbstbestimmt hatten wir eine für uns persönlich richtige Entscheidung getroffen. Richtig für den aktuellen Moment und die Lebenssituation, in der wir uns befanden. Und diese war nun einmal eine besondere.

Mein Mann starb mit 32: Neun Monate nach der Geburt unseres Sohnes

Nach neunmonatiger Krebserkrankung war mein Mann mit 32 Jahren verstorben und ich plötzlich jung verwitwete, alleinerziehende Mama unseres neunmonatigen Sohnes. Meine Welt war ein Scherbenhaufen und eine glückliche Zukunft für mich damals keine Option. Ich liebte meinen Mann immer noch aus tiefstem Herzen und konnte mir eine erfüllte Liebesbeziehung mit einem anderen Partner lange Zeit nicht vorstellen. Doch fünf Jahre später war er da – der Mann, der meine Überzeugungen herausforderte und mir Gefühle bescherte, die ich eigentlich ad acta gelegt hatte. Ich war verliebt.

Gesucht hatte ich nicht danach. Er war plötzlich auf der Bildoberfläche erschienen. Kam mit seinem Rad neben meinem Auto zum Stehen und wir beide warteten an der Ampel auf Grün. Trotz kompletter Radmontur erkannte ich ihn sofort wieder. Wir teilten eine Jugend in der gleichen Stadt und hatten gemeinsame Freunde. Das letzte zufällige Treffen war Jahre her. Und doch klopfte mein Herz beim Blick aus dem Autofenster deutlich schneller. Bevor ich irgendetwas tun konnte, hatte die Ampel auf Grün geschaltet und er war weg.

Fünf Jahre nach dem Tod meines Mannes verliebte ich mich neu

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Ohne allzu genau darüber nachzudenken kramte ich aus einem alten E-Mail-Verteiler seine Adresse hervor und schrieb ihm, dass wir gerade an der Ampelkreuzung nebeneinander gestanden hatten. Seine Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Er freute sich sehr über meine Nachricht, teilte mir aber belustigt mit, dass er nicht der besagte Radfahrer gewesen sei. Getroffen haben wir uns kurz darauf trotzdem. Und noch einmal. Und noch einmal. Und beim nächsten Mal lernte er schon meinen Sohn kennen. Alles fühlte sich wunderbar leicht an.         

Mitten in unserer ersten Phase der Verliebtheit und Beziehung dann plötzlich die Gewissheit, dass ich ungewollt schwanger bin. Ich war geschockt, gelähmt und unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Statt überbordender Freude fühlte ich eine große Überforderung in mir. Wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Fühlte mich nicht bereit für so viel dauerhafte Veränderung, hatte ich doch gerade erst so langsam mein Leben wieder zum Laufen bekommen.

Ungewollt schwanger: zu früh, einfach zu früh

Da war unheimlich viel Angst in mir. Angst, ob diese so frische Beziehung neben meinem Sohn und der eh schon „besonderen Umstände“ noch ein Baby würde tragen können. Unsicherheit, ob die Beziehung überhaupt Bestand haben würde. Angst vor einem neuen Verlust.

Genau das sagte ich dem neuen Mann an meiner Seite. Ließ ihm Zeit, seine Gedanken und Gefühle zu ordnen und für sich eine Meinung zu bilden, die uns helfen würde, gemeinsam eine für uns stimmige Entscheidung treffen zu können. Dabei sprachen wir offen, wertungsfrei und zogen alle Optionen in Betracht.

Schwangerschaftsabbruch: Für uns und unsere noch so junge Liebe

Diese Gespräche halfen mir sehr. Ich fühlte mich nicht allein und auch das scheinbar Unmögliche durfte ausgesprochen werden: ein Schwangerschaftsabbruch. Wie oft spielte ich, spielten wir, alle möglichen Szenarien durch. Ja oder nein? Was wäre die richtige Entscheidung? So absurd das vielleicht klingen mag, mit der Entscheidung gegen unsere Schwangerschaft entschieden wir uns für uns und unsere Zukunft.

Das erforderliche Beratungsgespräch, um einen Schwangerschaftsabbruch durchführen zu können, absolvierte ich daher emotional bewegt, doch in völliger Klarheit. Ich erhielt die Kontaktdaten von möglichen Ärzt:innen und den Hinweis, so schnell es geht einen Termin zu bekommen. Es waren die Tage kurz vor Weihnachten und damit ein Spiel mit der Zeit, um alle gesetzlichen Fristen für einen medikamentösen Abbruch einzuhalten. Tatsächlich fand sich genau noch ein Arzt, der für all die nötigen Behandlungen und die Nachuntersuchung zwischen den Feiertagen Zeit für mich hatte.

Der Eingriff am Tag meines Geburtstags

Da war ich nun. Saß mit all diesen rastlos tickenden Gedanken in meinem Kopf in der Praxis und wartete darauf, dass mein Name aufgerufen wird. Zum Glück musste ich nicht lange warten. Unter ärztlicher Aufsicht nahm ich die erste von insgesamt zwei Tabletten ein. Empathie war leider nicht Teil der ärztlichen Begleitung und ich fühlte mich wie im falschen Film. Ausgerechnet zu meinem Geburtstag!

Die Gleichzeitigkeit der Geschehnisse beschäftigte mich sehr. Ich musste daran denken, wie ich bei meinem sterbenden Mann auf dem Bett saß, mit der linken Hand seine Hand umfasste und rechts unseren Sohn hielt, um ihn zu stillen. Leben und Tod – ein ständiger Kreislauf und so nah beieinander.

Alltag und seelische Schmerzen: Ich lebte in zwei Parallelwelten

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In den nächsten Tagen und Wochen befand ich mich wie in zwei parallelen Welten. Feiertagsfamilienleben mit Freude und Trubel im Außen, Stille, Ungläubigkeit und körperlichen wie seelischen Schmerzen im Innen. Wollte ich darüber sprechen, hatte ich meinen Partner und liebe Freundinnen an meiner Seite. Doch immer wollte beziehungsweise brauchte ich das gar nicht. Es rührte mich jedoch sehr zu sehen, wie sich mein Freund um mich und mein Wohl sorgte. Was ich allerdings auch feststellte, war, wie sich unsere Gefühle in Bezug auf das abgetriebene Baby unterschieden. Wie sollte er auch wissen, wie es sich anfühlt, wenn im eigenen Körper neues Leben entsteht? Und wie, wenn es nicht mehr so ist?

Ich bin dankbar, dass wir jederzeit offen über unsere Gedanken und Gefühle sprechen konnten. Dass alles sein durfte, was sich zeigen wollte. Ohne den anderen dafür zu werten, sondern da zu sein und zuzuhören. Ja, die Traurigkeit durfte genauso da sein, wie die Zweifel, wie die Frage nach dem „Was wäre gewesen, wenn?“ und wie das Gefühl, dass wir unsere Entscheidung nicht bereuten. Ich stellte wieder einmal fest, dass es im Leben kein „entweder, oder“ braucht, sondern die unterschiedlichsten Anteile in uns zeitgleich nebeneinander existieren können.

Eine erneute Schwangerschaft! Jetzt waren wir bereit

Ziemlich deutlich zeigte sich das dreieinhalb Monate später, als ich feststellte, dass ich erneut schwanger war. (Die von uns gewählte Verhütungsmethode und ihr Versagen sei an dieser Stelle nicht Inhalt meines Textes.) Unwirklich war es auch dieses Mal. Wieder spürte ich Angst. Wusste jedoch, dass ich keine weitere Abtreibung machen lassen würde. Und zwischen all dem Gefühlschaos waren da plötzlich auch Gefühle von Freude und Glück.

Plötzlich konnte ich mir vorstellen, mit meinem neuen Mann und meinem Sohn an meiner Seite einen Schritt weiterzugehen. Noch einen weiteren Schritt hinein in mein zweites Leben zu wagen. In unser neues Leben. Das fühlte sich sehr schön und sehr mutig an. Insbesondere, da mein Partner das ebenso fühlte wie ich.

Unsere Tochter kommt im Geburtshaus zur Welt

Neun Monate später – fast auf den Tag genau ein Jahr nach dem Schwangerschaftsabbruch – machte sich unsere Tochter auf den Weg in unser Leben. Sie würde in einem Geburtshaus auf die Welt kommen, mit der Unterstützung von zwei wundervollen Hebammen. Die brauchte ich auch, denn der Gedanke an die Geburt bereitete mir Angst.

Unsere Tochter hingegen schien keinerlei Ängste zu haben und drängte kraftvoll hinaus. So richtig kam die Geburt aber nicht in Fahrt. Irgendwann redete die Hebamme ein „ernstes Wörtchen“ mit mir und forderte mich empathisch aber bestimmt auf, meine Ängste herauszulassen und all meinen Gefühlen Raum zu geben. Denn scheinbar war ich es, die die Geburt seelisch und emotional blockierte.

6 vollgepackte Jahre voller Lebensliebe, Überleben und Trauermut

Daraufhin folgte ein unglaublicher Ausbruch von Tränen, Schmerz, Wut und Schreien. Mich überrollte die Trauer um meinen Mann und das Leben, was wir nicht mehr hatten leben dürfen, die Angst vorm Loslassen, das Schuldgefühl, meine Vergangenheit zu verraten, die Angst vor der Zukunft und die Trauer um unser Baby, was nicht hatte leben dürfen. Das forderte mir wirklich alles ab. Es tat weh, war kräftezehrend, und doch tat es gut und fühlte sich heilsam an. Danach dauerte es nicht mehr lang und ich hielt unsere kleine lebenshungrige Tochter in den Armen.

Sechs vollgepackte Jahre ist das mittlerweile her und ich bin dankbar für jedes einzelne Stückchen Leben davon. Ob aufregend, lustig, herausfordernd, erfüllt, traurig, berührend, nervig, bunt oder schwarz-weiß, all das sind wir. Und ich bin unsagbar stolz auf uns und unseren gemeinsamen Weg – sowohl als Paar als auch Familie. Doch vor allem auch auf mich selbst! Auf meine ungebremste Lebensliebe, mein Überleben, meinen Trauermut und mein Immer-Wieder-Ankommen in diesem wunderschönen Hier und Jetzt.“  

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5 comments

  1. Ich kann mich gut in die Autorin hineinversetzen, denn ich habe auch eine Abtreibung machen lassen, als ich noch sehr jung war. Ich war damals in einer unglücklichen Beziehung und fühlte mich nicht bereit für ein Kind. Ich habe mich lange mit der Entscheidung gequält, aber letztendlich war es die richtige für mich. Ich habe mir professionelle Hilfe gesucht und konnte meine Trauer und Schuldgefühle verarbeiten.

  2. Ganz Wundervoll geschrieben. Der Text hat mich sehr berührt und es ist das erste mal, dass ich überhaupt mal etwas kommentiere. Aber dieser Text ist wirklich schön geschrieben, trotz des geballten Inhalts.

    1. Der Text ist wirklich bemerkenswert! Danke, dass er hier einen wunderbaren Platz gefunden hat.
      Und ich liebe das Wort Trauermut.

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